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Der Draht
Nachmittags um neun verbog sich Spozz zu einer Büroklammer.
Stolz hüpfte er vor einen Spiegel und betrachtete sich. Gutes Werk, er war von einer echten Büroklammer nicht mehr zu unterscheiden. Im Büro der Sekretärin nebenan hörte er das typische Klacken, wenn jemand einen Brief auf einer Computertastatur schreibt.
Er sprang vom Tisch, schob sich unter dem Türspalt hindurch und verschaffte sich einen Überblick über die Lage. Die Luft war rein.
Plötzlich öffnete sich eine weitere Tür. Sie gab den Zutritt zum Büro des Chefs frei.
In dieses Büro wollte Spozz eindringen, dort hoffte er die geheimen Akten zu finden und konnte vielleicht noch seine Kameraden aus der Hand des magnetischen Büroklammerspenders befreien. Doch dazu musste er zunächst an der Sekretärin vorbei.
Durch die Tür kam der Chef herein und verlangte von ihr einen Kaffee mit Milch, Zucker und Whisky. Spozz hüpfte schnell um die Türeinrahmung und versteckte sich hinter dem Vorsprung. Sein Glück. Hanne Loringer bemerkte ihn nicht. Der Chef verschwand wieder hinter der sich verschließenden Tür. Nun war er ganz allein im Büro.
Es gab ein Geräusch. Er konnte jedoch nicht sehen, zu wem oder was es gehörte. Vorsichtig schlich er zum Stuhl, entlang der Spur, die eine Rolle im Teppich hinterlassen hatte und traute seinen Augen nicht. Ein Ziegenbock aus Kunststoff stand am Tischbein, schaute ihn an und gab einen Blöklaut von sich. Langsam ging er auf das Tier zu, angespannt, falls es ihn angreifen sollte. Auch wenn der Ziegenbock nur aus Plastik war und nicht mehr als doppelt so groß wie Spozz, konnte er einer Büroklammerimitation sicher Schaden zufügen. Aber der Bock grinste fröhlich und ließ sich von Spozz streicheln.
„Na du. Wo kommst du denn her?“ fragte Spozz.
„Aus dem Müll-Gebirge dort draußen. Was du vorhast, erahne ich. Meine Hilfe wirst du brauchen können. Ein guter Kletterer ich bin.“
„Wohin soll ich klettern wollen?“
„Auf den Tisch des Chefs. Erklimmen musst du diesen Tisch, denn dort oben warten sie.“
„Wer sie? Die Büroklammern?“
„Richtig. Nicht dumm du bist. Nur du sie befreien kannst. Aber dein Schicksal es ist. Platz du auf meinem Rücken findest. Gehen werden wir in das Büro, uns hochziehen an einem Seil. Absetzen werde ich dich dort und allein gehst du weiter.“
„Hm… was werde ich dort finden?“
„Nur, was du mitnimmst“, entgegnete der Bock.
„Na gut. Laß uns gleich aufbrechen. Bevor die Sekretärin zurück kommt und uns platt macht.“
„Nein. Noch zu früh es ist. Aufmachen wird sie uns die Tür zum Büro. Erst dann dringen wir ein.“
So vergingen einige Minuten. Dann stapfte die Loringer mit dem besagten Kaffee in ihr Büro und eilte zum Chef. Vor dem Chefbüro blieb sie stehen und räusperte sich noch einmal.
Spozz sprang auf den Bock, der seinerseits sofort losstürmte. Wenn die Tür nicht rechtzeitig geöffnet wurde, würden sie mit voller Wucht gegen sie krachen, was unweigerlich das Ende ihres Vorhabens bedeuten würde.
Aber wie auf Kommando ergriff die Loringer die Türklinke und drückte die Tür auf.
Der Bock rannte ins Chefbüro. Dann passierte alles innerhalb von wenigen Sekunden.
Ein Tropfen Kaffee aus der vollen Tasse schwappte über und fiel zu Boden. Der Bock konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und lief direkt in die Pfütze. Durch das entstehende Aquaplaning verlor er das Gleichgewicht und rutschte auf seinen zwei rechten Beinen weiter. Während er versuchte, das Gleichgewicht wieder herzustellen, verlor Spozz den Halt und fiel vom Bock. Der Chef drehte sich in seinem Chefsessel herum und rollte etwas zur Seite und nach vorne. Dadurch erwischte er den noch rutschenden Bock und schleifte ihn auf einer Distanz von einem halben Meter zu Tode. Spozz purzelte über den Boden und wurde von der Sektretärin zertrampelt. Da der Chef in seinem Sessel zuviel Schwung hatte, stieß er mit der Loringer zusammen, die vor Schreck den Kaffee fallen ließ. Dieser ergoss sich über das schöne Oberhemd sowie die teure Hose des Chefs. Verärgert und wütend schnaubte er, kramte kurzerhand eine Pistole aus einer Schublade und erschoss die Sekretärin. In einer letzen Reaktion, als sie bemerkte, was der böse Chef ihr angetan hatte, nahm sie den gusseisernen Briefbeschwerer und schlug ihm auf den Kopf. Er sackte ebenso wortlos wie klaglos in sich zusammen und lag neben der Loringer.
Nach einer Weile kam der Kaffee wieder zu sich, warf einen Blick in die Runde und stellte zufrieden fest, dass alle tot waren. Nur ein kleiner Blutfleck an der Kaffeetasse störte ihn. Aber die brauchte er nicht mehr. Er huschte davon. Eine Etage tiefer ins nächste Büro.
Ende.
copyright by Tobias Zieseniß