Der Drache aus der Schultüte
Anna lag in ihrem Bett und ließ den Tag an sich vorüberziehen. Sie hatte so viel erlebt heute! Früh am Morgen war sie mit Mama und Papa aufgestanden. Anschließend waren sie alle drei zu Annas neuer Schule gefahren. Anna war mächtig aufgeregt, denn heute war ihr erster Schultag.
„Du wirst viele Freunde kennenlernen, Anna“, hatte Papa während der Autofahrt gesagt. „Und du wirst endlich Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.“
Anna freute sich. Ihren Namen konnte sie schon schreiben. Das hatte Mama ihr vor einigen Wochen beigebracht. Und es machte Anna Spaß. Immer wieder schrieb sie ihren Namen. Mal winzig klein und mal riesengroß. Mal mit Buntstiften und mal mit Filzstiften. Sie wollte endlich mehr schreiben können.
In der Schule ging Anna mit vielen anderen Kindern in ihr Klassenzimmer. Sie saß neben einem Mädchen mit langen braunen Haaren. „Hallo, ich bin Pia“, sagte dieses sofort.
„Und ich bin Anna.“
Dann lernten sie ihre Klassenlehrerin kennen.
„Guten Morgen. Ich bin Frau Kichererbse“, sagte sie, und alle Kinder in der Klasse lachten los. Anschließend malten sie mit ihren Wachsmalstiften Figuren und Buchstaben, die sie schon kannten, auf ein Blatt Papier. Nach der Schule verabschiedete Anna sich von ihrer Nachbarin Pia und lief freudestrahlend auf den Schulhof hinaus. Mama und Papa standen an der Eingangspforte und im Arm hielt Papa eine riesige gold glitzernde Schultüte. Annas Augen wurden vor Freude immer größer. Die Schultüte war ja fast so groß wie sie selbst!
„Hier, meine kleine Anna“, sagte ihr Papa lächelnd und beugte sich zu ihr hinunter. „Diese Schultüte ist für dich. Zur Belohnung und als Geschenk zur Einschulung.“
„Danke“, sagte Anna, nahm die goldene Schultüte fest in beide Arme und drückte sie an sich.
Es war Nacht geworden, Anna lag in ihrem Bett, und sie versuchte einzuschlafen. Doch die Geschehnisse des Tages ließen sie nicht schlummern. Der Mond schickte ein schwaches weißes Licht in Annas Zimmer und leuchtete gegen ihre Schultüte, die auf dem Schreibtisch lag. Anna hatte sie gleich nach der Schule neugierig geöffnet. Eine Federtasche, Malstifte, ein Malbuch und verschiedene Süßigkeiten waren darin versteckt. Anna hatte sich riesig gefreut.
Lächelnd schaute Anna auf die Schultüte. Ihre Augen wurden immer schwerer. Doch Augenblick! Hatte sich ihre goldene Schultüte nicht gerade bewegt? Anna setzte sich im Bett auf. Oder hatte sie schon geträumt? Nein, denn in diesem Augenblick rüttelte sie wieder mit einem leisen Geräusch hin und her.
„Hallo?“, fragte Anna. Sie hatte keine Angst. „Ist da jemand in meiner Schultüte?“
Die Tüte kippte um und lag nun auf der Erde. Die Öffnung zeigte in Annas Richtung. Wieder rollte sie hin und her, und dann, Anna konnte ihren Augen kaum trauen, kam ein winziger Drache aus der Tüte getrottet. Anna machte das Licht an, um besser sehen zu können. Ihre Augen hatten ihr keinen Streich gespielt. Auf dem Fußboden ihres Zimmers stand tatsächlich ein winziger, grüner Drache mit spitzen Ohren, einem langen Schwanz und zwei Flügeln. „Wo bin ich?“, fragte er und schaute von links nach rechts und von oben nach unten.
„In meinem Zimmer“, antwortete Anna, und sie setzte sich auf die Bettkante und ließ die Füße hinunterbaumeln. „Aber wer bist du?“
Der Drache schwang einige Male seine beiden Flüge und hob sich dann in die Lüfte. Er flog zu Anna auf das Bett hinüber und ließ sich in der zerknautschten Bettdecke nieder. „Ich bin Dragolan.“
Anna schaute den Drachen stirnrunzelnd an.
„Du kannst mich Dragi nennen“, antwortete der kleine Drache, der gerade mal so groß war wie die Handfläche von Annas Papa. „Meine Freunde nennen mich alle Dragi.“
Anna musterte Dragi von Kopf bis Fuß. Sein Kopf hatte eine langgezogene Schnauze mit zwei großen Nasenlöchern, aus denen weißer Rauch nach oben stieg. Seine Augen waren groß und freundlich. Seine Füße hatten spitze Krallen, doch Anna konnte sich nicht vorstellen, dass er sie jemals benutzt hatte. Dazu war er zu nett.
„Wie komme ich hier bloß her?“, fragte Dragi und tappelte auf Annas Bett umher.
„Keine Ahnung“, sagte Anna, und sie begann zu lachen. „Du bist aus meiner Schultüte gekommen.“
Dragi schnupperte mit der Schnauze an Annas Bettwäsche.
„Schultüte?“, fragte er erstaunt. „Was ist eine Schultüte?“
„Das da“, sagte Anna und zeigte auf die große Schultüte am Fußboden. „So etwas bekommen alle Kinder, wenn sie eingeschult worden sind.“
„Eingeschult?“, fragte Dragi und flog mit zwei Flügelschlägen auf Annas Handflächen.
„Ja“, sagte Anna und sah Dragi in die Augen. „In der Schule lernen wir Schreiben, Lesen und Rechnen. Und wir lernen viele andere Kinder kennen.“
„Wozu müßt ihr denn lesen, schreiben und . . . dingsbums?“
Anna lachte. „Rechnen“, sagte sie. „Ich möchte mal selber ein Buch lesen. Wenn Mama mir vorliest ist das auch sehr schön, aber ich möchte es selber können, verstehst du?“
Dragi rollte seine Augen herum, als wenn er überlegte. Dann sagte er: „Das ist fast wie bei uns im Drachenland. Dort müssen die Jungdrachen auch Fliegen und Feuerspeien lernen.“
Anna schaute Dragi erstaunt an.
„Drachenland?“, fragte sie. Der kleine Drache nickte. Sein Qualm aus der Nase stieg nun in kleinen Ringeln, die wie Schweineschwänzchen aussahen, nach oben. „Wo ist das?“
„Keine Ahnung“, antwortete Dragi und seine Flügel schlugen auf und ab. „Ich flog gerade meine Runden, als ich eine Höhle in unserem Vulkan entdeckte. Ich bin sehr neugierig, weißt du? Also bin ich in diese Höhle geflogen und schwupp . . . war ich hier bei dir.“ Der Drache schaute sich neugierig in Annas Zimmer um. „Aber ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin. Offenbar ist diese Schultüte eine Verbindung zwischen meinem Drachenland und deinem Zimmer.“
Anna hatte so etwas noch nie erlebt. Da stand ein Zwergendrachen auf ihrer Handfläche, der ihr erzählen wollte, dass er aus einem Drachenland kam, sich in einer Höhle verflogen hatte und durch ihre Schultüte in ihr Zimmer gelangt war.
„Kann ich dein Drachenland mal sehen?“, fragte Anna, nachdem sie kurz überlegt hatte.
Dragi schien zu grübeln. „Bestimmt. Wenn ich durch die Schultüte hierher kommen konnte, dann müsste es auch umgekehrt funktionieren.“
Anna sprang aus ihrem Bett und hob die goldene Schultüte auf.
„Ich gehe zuerst hinein“, sagte Dragi und spie vor Freude einen kurzen Schwall Feuer, der nicht länger war als die Flamme eines Feuerzeuges. „Und dann setzt du dir die Schultüte auf den Kopf. Es könnte funktionieren.“
Lächelnd verschwand Dragi in der Schultüte. Als Anna nichts mehr hörte, setzte sie sich langsam die Schultüte mit der Öffnung nach unten auf ihren Kopf. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie hatte das Gefühl, als wenn sie Karussell auf dem Jahrmarkt fuhr. Immer schneller und schneller. Ihr Zimmer verschwand langsam vor ihren Augen, und dann erblickte sie ein Land, das sie noch niemals zuvor gesehen hatte.
Anna stand auf einer hohen Felsklippe, und unten im Tal erblickte sie weitgestreckte, grüne Wiesen, deren Gräser sich im warmen Wind bogen. Die Wipfel hoher Bäume wippten, und zu ihrer rechten Seite erkannte Julia eine riesige Gebirgskette. Der höchste Berg war anscheinend ein Vulkan, denn aus seiner Spitze dampfte heller Rauch, ähnlich wie eben aus Dragis Nase.
„Wir sind da!“, jubelte Dragi neben Anna, und Anna erschreckte sich. Dragi war nun riesengroß geworden. So groß wie das Haus in dem Anna mit ihren Eltern lebte. „Es hat funktioniert.“ Der Drache lächelte gütig, und dann tanzte er vor Freude los, wobei die Erde leicht bebte.
„Aber warum bist du so groß?“, fragte Anna.
„Oh“, antwortete Dragi und schaute an seinem grünen Körper hinab. „In meinem Land bin ich immer so groß. Deine Welt ist halt eine andere, als meine.“
„Es ist wunderschön hier“, sagte Anna, die staunend das Drachenland überblickte. Zwischen den Wiesen und Wäldern im Tal schlängelten sich Bäche und Flüsse aus klarem, plätscherndem Wasser hindurch. In weiter Entfernung, so weit Anna blicken konnte, stand die Sonne glutrot am Himmel, und sie schien untergehen zu wollen.
„Haben wir Abend?“, fragte Anna, die in Nachthemd und mit ihrer Schultüte auf dem Kopf neben Dragi stand.
„Jawohl“, antwortete Dragi. „Die Sonne wird bald untergehen. Steig auf meinen Rücken. Ich zeige dir meine Heimat.“
Anna machte große Augen. „Du willst mit mir fliegen?“
Der Drache nickte, während aus seinen großen Nasenlöchern nun Rauchschwaden stiegen, die so hoch wie ein Kirchturm waren.
Anna stieg auf den Drachen. Es war schwer für sie, denn er hatte eine glatte Haut, und ihre kleinen Füße rutschten immer wieder zu den Seiten weg. Nach einigen Minuten hatte sie den Kopf von Dragi erreicht, der so groß wie ihr Zimmer war.
„Halt dich an meinen Ohren fest“, sagte Dragi. „Dann kann dir nichts passieren. Ich werde ganz langsam fliegen.“
Anna umklammerte eines der großen, spitzen Ohren. Dann hörte sie das Flügelschlagen von Dragi, der sich sogleich mit einem Zischen in die Lüfte erhob. Sie verließen die Klippen, auf denen sie eben noch gestanden hatten und flogen hinunter ins Tal. Ein scharfer Wind blies Anna um die Ohren, und sie setzte die Schultüte vom Kopf ab, damit sie nicht verloren ging.
Sie flogen durch die grüne Ebene, über einen großen See hinweg, in dessen Wasser sie sich spiegelten. Dann überflogen sie riesige Wälder, zwischen deren Bäumen Anna immer wieder andere Drachen erkannte, die Dragi sehr ähnlich sahen. Der Wind zerrte an Annas Haaren und ihrem dünnen Nachthemdchen, doch sie jubelte vor Vergnügen, denn es machte ihr viel Spaß.
„Das ist wunderschön!“, schrie Anna, damit Dragi sie unter dem Lärm seiner Flügel hören konnte.
„Ich weiß“, sagte Dragi. „Deshalb lebe ich so gerne hier. Ich will hier niemals weg.“
Er flog eine große Kurve und dann geradeaus weiter. Vor ihnen lag nun ein Meer. Die abendliche rote Sonne tunkte das Wasser mit seinen leichten Wogen in ein Meer aus Erdbeersoße, so dachte Anna. Dragi flog eine Kurve über die offene See hinaus, und der Wind wurde ein Hauch kühler als an Land. Anna schaute aufgeregt hinunter. Unter der rot-orangen Wasseroberfläche tummelten sich Drachen, an deren Füßen sich Schwimmhäute befanden, und die mit riesigen Flossen ihren Weg durch das Meer schwammen.
„Das sind Wasserdrachen“, erklärte Dragi Anna. „Sie leben nur hier im Meer, doch sie sind gute Freunde.“
Die Sonne sank immer tiefer, und ein Teil von ihr war bereits hinter dem Horizont im Meer verschwunden. Dragi steuerte wieder auf das Festland zu. Überall am Himmel sah Anna nun Drachen fliegen, die sich als schwarze Schatten gegen den roten Himmel abzeichneten. Sie flogen alleine oder im Schwarm.
„Sind das aber viele“, staunte Anna, während ihr der Wind kräftig um die Ohren wehte.
„Ja, die machen alle ihre Abendrundflüge“, antwortete Dragi. „Am Abend ist es am schönsten hier im Drachenland. Dann taucht die rote untergehende Sonne das ganze Land in einen goldenen Schimmer. Schau dir mal die Berge und den Vulkan dort hinten an.“
Anna blickte zu der Gebirgskette hinüber, auf die Dragi nun zuflog. Die Felsen schienen in dem roten Licht förmlich zu glühen. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.
Der Drache stieg nun höher in die warme Luft hinauf, und Anna hatte das Gefühl, dass sie gleich den Himmel mit den Fingern berühren konnte. Dragi flog über einen Berg und deutete nach unten. „Sieh mal dort“, sagte er.
Anna schaute hinunter, und auf der Spitze eines felsigen Berges stand eine Gruppe kleiner Drachen, die nur ungefähr halb so groß wie Dragi waren. Sie standen am Abhang des Berges, und alle machten unregelmäßige Schläge mit ihren Flügeln. Hinter ihnen stand ein größerer Drache.
„Was ist das?“, fragte Anna neugierig.
„Das ist unsere Flugschule. Die Jungdrachen lernen dort unten das Fliegen. Der große Drache ist Lehrer Mogelwei. Bei ihm habe auch ich Fliegen gelernt.“
Der Lehrer erblickte Dragi, und vor lauter Freude spie er einen Schwall Feuer aus der Schnauze, und seine Nasenlöcher rauchten gewaltig.
Dragi überflog die Berge und steuerte dann wieder in die grünen Täler hinab. Nach einigen Augenblicken konnte Anna wieder die hohe Klippe erkennen, auf der sie und Dragi bei ihrer Ankunft im Drachenland gestanden hatte. Dragi flog noch eine langgestreckte Kurve und ließ sich dann auf der Klippe nieder. Anna nahm ihre Schultüte unter den Arm und stieg von dem Drachen hinab.
„Danke, Dragi“, sagte sie. „Das war toll. Du lebst in einem zauberhaften Land.“
Anna schaute über den Rand der Klippe. Das Tal wurde durch die Sonne in eine rote Glut getaucht, und jede Wiese, jeder Baum und jeder Bach glänzte im Abendlicht. Am liebsten wäre Anna ins Tal gelaufen und hätte jeden Meter erkundet.
„Ich muss dich jetzt verlassen“, sagte Anna. „Ich muss morgen wieder zur Schule und etwas lernen.“
Der Drache nickte. „Ich weiß. Vielleicht verfliege ich mich eines Tages wieder, und dann besuche ich dich wieder.“
„Genau“, sagte Anna und lachte. „Bis dahin kann ich bestimmt schon lesen und schreiben. Dann kann ich dir mal etwas vorlesen.“
„Darauf freue ich mich“, sagte Dragi.
Anna setzte sich wieder ihre Schultüte auf den Kopf. Erneut drehte sich alles in ihrem Kopf. Das schöne Drachenland wurde undeutlicher. Zum letzten Mal konnte sie das Tal und die Berge erkennen, dann verschwanden sie. Vor ihren Augen erschienen nun wieder bekannte Gegenstände. Sie sah ihr Bett und ihren Schreibtisch, den Papa ihr geschenkt hatte. Sie war nun wieder zu Hause in ihrem Zimmer. Schnell setzte sie die Schultüte vom Kopf ab und stellte sie ordentlich auf ihren Tisch. Dann schlüpfte sie unter die Bettdecke. Sie freute sich schon auf den nächsten Schultag. Sie war ja so gespannt, was Pia sagen würde, wenn sie ihr von Dragi und dem Drachenland erzählte.