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"Hausaufgabe": Maximal 2500 Wörter, Schauplatz Deutschland zwischen 1920 - 2020, Inhalt muss eine Kopie, ein Duplikat oder eine Fälschung enthalten und es muss mindestens eine historische Figur vorkommen.
Der Doppelgänger
Berlin, März 1945
Wilhelmstraße 77
Die schwere Stahltür schließt sich geräuschlos wie von unsichtbarer Hand, nachdem der Leibarzt das Büro verlassen hat. Wieder allein, nur er und Blondi.
Dort, wo die Nadel seine Haut durchstoßen hat, knapp unter der Armbeuge, juckt es ein wenig. Doch das Eukodal wirkt und spült wie immer Wellen der Euphorie durch seinen Körper. Über das stumpfe Grau der Wände wandert mit einem Mal ein heller Schimmer, die Farben des Gemäldes an der Wand leuchten plötzlich satt. Selbst Blondis Fell, wie sie da so hechelnd in ihrem Korb liegt, erscheint ihm nach der Spritze ein wenig glänzender.
Diese Droge ist etwas Wunderbares. Besser als Kokain. Warum hat er sie nicht bereits viel früher probiert? Wäre er doch bloß vor Jahren schon drauf gewesen, vermutlich hätte er Stalingrad gewonnen. Die Gedanken schlagartig so klar, so leicht.
Doktor Morell ist ein verdammtes Genie, das steht mal fest. Und alle, die bei den täglichen Stippvisiten des Arztes hinter seinem Rücken ihre Mienen verziehen, sollten sich besser in Acht nehmen. Als ob er das nicht mitkriegen würde, wenn sie ihm dieser Tage mit ihren Sauertopfgesichtern hinterherschauten. Generell herrscht hier in letzter Zeit eine viel zu negative Stimmung, man sollte ...
Der Tischfernsprecher klingelt.
Er nimmt ab. »Jawohl?«
»Heil Hitler!«, schreit es am anderen Ende der Leitung.
»Ja klar, wer denn sonst?«, antwortet er genervt.
»Ähm … ja. Ich habe die wissenschaftliche Abteilung am Apparat, mein Führer«, sagt Rochus Misch, der Bunkertelefonist.
»Stellen sie durch«, schnarrt Adolf. Es klickt zweimal in der Leitung. Hitler streicht sich den Scheitel zurecht, während er wartet. Das Eukodal schärft weiterhin seine Sinne. Die Augen verengen sich zu Schlitzen. Ist das etwa ein Fettfleck, dort auf seinem überlebensgroßen Selbstporträt? Wenn der dicke Bormann hier wieder alles mit seinen Wurstfingern angegrabbelt hat …
Jemand atmet am anderen Hörer, die Kabelung steht: »Dr. Abderhalden hier, mein Führer. Die ›Forschungsgruppe Zwo-Eins‹ würde Ihnen gerne auf der Krankenstation eine Präsentation bereiten.«
»Ich liebe Präsentationen!«
»… Ich weiß, mein Führer.«
»Bin sofort da.«
»Heil Hitler!«
»Sie sagen es.« Adolf legt auf und umrundet den massiven Eichenschreibtisch. Für einen kurzen Moment begutachtet er den Fleck auf seinem Konterfei aus der Nähe. Tatsächlich, fettige Fingerabdrücke. Na, das würde ein Nachspiel für den dicken Martin haben.
Er verlässt sein Büro und nickt Fräulein Junge zu, die bei seinem Erscheinen das Tippen auf der Schreibmaschine einstellt. Bei seiner Kopfbewegung senkt sie devot den Blick.
»Ich wohne einer Präsentation auf der Krankenstation bei und möchte nicht gestört werden.«
»Jawohl, mein Führer … soll ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen?«
Hitler hält inne, überlegt. »Hm … haben wir noch diese Limonade da? Die Gelbe, Sie wissen schon ...«
Erneut senken sich Traudl Junges Lider. »Ich weiß. Jawohl, mein Führer.«
»Ein Glas davon wäre in der Tat fantastisch.« Hitlers Mundwinkel kräuseln sich.
Das Lächeln ist verschwunden. Die Bunkergänge deprimieren ihn. Grau in Grau, so weit das Auge reicht. »Memorandum an mich selbst«, denkt er auf seinem Weg durch die Anlage, »vielleicht können wir die Farben neu gestalten. Ein kräftiges Braun, das wäre was. Und in regelmäßigen Abständen eine schöne Hakenkreuzflagge. Das würde auch die Stimmung auflockern, dann liefen hier weniger Regengesichter umher.«
Jedes Mal, wenn sein Weg den von Lakaien kreuzt, bleiben diese stehen, reißen den Arm hoch und brüllen ihn an. Er ignoriert sie nahezu, hebt im Vorbeigehen bloß noch knapp die Hand. Der Doktor hat ihm dazu geraten, ansonsten drohe in Bälde ein Tennisarm. Wie gesagt, guter Mann, dieser Morell.
Auf der Krankenstation erwarten ihn die anderen Weißkittel. Ein halbes Dutzend steht da im Halbkreis, sie umringen ein von einem weißen Laken verhülltes Objekt, in etwa mannshoch.
Sechs Arme fliegen in die Höhe, sechs Kehlen schmettern: »Heil Hitler!«
»Ja ja, ich weiß. Also dann, meine Herren, schießen Sie mal los.«
Dr. Abderhalden tritt vor. Er leckt sich die Lippen, in seinen Augen liegt ein erregter Glanz. »Mein Führer, unseren Spionen ist es gelungen, dem Feind eine neuartige Technologie zu stehlen. Wir haben es ...«
»Welchem Feind?«
»Wie bitte?« Der Doktor wirkt irritiert.
»Na, welchem Feind haben Sie es gestohlen? Wir haben so viele, fast die ganze Welt ist gegen uns.«
»… Dem Amerikaner, mein Führer.«
»Ah … dem. Gut. Machen Sie weiter.«
»Jawohl.« Abderhalden tritt an das verhüllte Objekt heran, legt seine Hand auf den blütenweißen Stoff. »Wir haben es unter größten Bemühungen vollbracht, ein exaktes Duplikat von Ihnen anzufertigen. Ich präsentiere …«, seine Finger greifen in das Laken und ziehen es schwungvoll zur Seite. »Den ›Hitler 1000‹!«
Der Führer versucht sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen.
Dort steht er selbst. Eine Replik seines Seins, mit offenen Augen und starrer Miene, gekleidet in eben die gleiche Uniform, die er gerade trägt: feldgraue zweireihige Jacke und schwarze Hosen. Wie eine Wachsfigur verharrt der Doppelgänger da, bewegt sich keinen Millimeter.
»Unglaublich«, murmelt Hitler und tritt näher an sein Duplikat heran. Ganz nah beugt sich der Führer ihm entgegen, schaut ihm in die Augen und berührt sachte sein Gesicht. Es fühlt sich beinahe menschlich an, bloß die Wärme der Haut scheint zu fehlen. »Ausgezeichnet, Herr Doktor«, sagt er zu niemand Bestimmten. Die Ärzte atmen kollektiv aus, die in der Luft mäandernde Anspannung verfliegt.
»Danke, mein Führer«, sagt Abderhalden und nimmt einen flachen Kasten von der Größe eines Kleinempfängers von einem Beistelltisch, die Oberfläche des metallenen Geräts ist übersät von Knöpfen, Kippschaltern und Schiebereglern. »Möchten Sie sehen, was er alles kann?«
Hitler runzelt die Stirn und tritt an die Seite des Arztes. »Wie meinen Sie das?«
»Oh … er kann noch viel mehr, als nur unbewegt dazustehen.«
Hitlers Augen weiten sich. »Das ist ja wunderbar, zeigen Sie her!«
Der Doktor nickt, zieht eine silberne Antenne aus der Fernsteuerung und drückt auf einen Knopf. Mit einem Blinzeln erwacht der Doppelgänger zum Leben. Seine kalten Augen schauen umher, noch immer steht er still.
»Gespenstisch«, murmelt der echte Hitler.
Abderhalden betätigt weitere Schalter und Knöpfe. Der ›Hitler 1000‹ bewegt sich. Der Doktor lässt ihn einmal im Kreis marschieren, schließlich kommt die Kopie vor der Gruppe wieder zum Stehen. Auf den Gesichtern der Ärzte erscheinen selbstzufriedene Züge.
»Die Technologie des Feindes ermöglicht es uns, vergangene Tonbandaufnahmen von Ihnen in das Duplikat einzuspeisen und als dann durch seine eigenen Stimmbänder wiederzugeben«, referiert Abderhalden und legt einen Hebel um.
Der ›Hitler 1000‹ öffnet den Mund: »Wollt ihr den totalen Krieg?«, fragt er, mit originalgetreuer Stimme.
»Ja!«, ruft der echte Hitler verzückt und klatscht vor Begeisterung in die Hände. »Noch mal!«
Der Doktor drückt einen Knopf.
»Niemand fragt den Gewinner, ob er recht hat«, ertönt es aus dem Mund des Doppelgängers.
»So ist es!« Hitler ist völlig aus dem Häuschen, wie elektrisiert tigert er vor seinem Duplikat umher. »Noch einen!«
Die Türen der Krankenstation öffnen sich und Hitlers Geliebte, Eva Braun tritt ein, in der Hand ein schlankes Glas voll Flüssigkeit, mit dem Reichsadler darauf.
»Sehr intelligente Menschen sollten sich eine primitive und dumme Frau nehmen«, sagt der ›Hitler 1000‹.
»Schluss damit!«, zischt Adolf Dr. Abderhalden an. Der Doktor fummelt an dem Gerät herum.
»Was machst du da, mein Wolf?«, fragt Eva.
»Nichts, ›Tschapperl‹«, antwortet er ein wenig zu schnell und stößt den Arzt mit dem Ellenbogen an.
»Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben«, schnarrt es aus dem ›Hitler 1000‹.
»Es reicht!«, brüllt Adolf. Das Gesicht des Arztes ist so weiß wie sein Kittel, nervös drückt er auf Knöpfe und betätigt Hebel. Der Doppelgänger blinzelt und schließt den Mund.
Hitlers Scheitel ist verrutscht, eine schwarze, fettige Strähne hängt ihm ins Gesicht. Mit bösem Blick stiert er Dr. Abderhalden an, doch als Eva sich nähert, weicht seine Aufmerksamkeit.
»Was ist das denn?«, fragt die Brünette interessiert und umrundet die Gruppe von Männern. Als sie den Doppelgänger erblickt, verliert sie kurz die Fassung und verschüttet ein wenig gelbe Limonade. »Aber … d-das bist ja … du«, stammelt sie.
»Das ist bloß eine Kopie,›Tschapperl‹. Es gibt nur einen wahren Adolf Hitler.« Er richtet sich den Scheitel und wendet sich wieder Abderhalden zu: »Na schön Doktor, er kann also laufen und sprechen. Was kann er noch?«
»Ähm … nun ...«, krächzt der Doktor und räuspert sich. Langsam kommt das Rot auf seine Wangen zurück. »So einiges. Wir können zum Beispiel Teile seiner äußeren Erscheinung ändern.«
Hitlers Augenbrauen heben sich. »Demonstrieren Sie das!«, befiehlt er.
Die Hände des Arztes huschen über das Steuerungsgerät. Auf einen Schlag färben sich Haare und Oberlippenbart des Doppelgängers strohblond, das Blau seiner Augen strahlt noch ein klein wenig heller.
»Na da schau’ her!«, sagt Eva Braun begeistert.
»Weg damit!«, ruft Hitler und fuchtelt mit der Hand vor dem Gesicht des Doppelgängers. »Wie sieht denn das aus? Das ist ja furchtbar!« Der Doktor kippt Schalter und drückt Knöpfe.
»Also ich finde, du siehst fesch aus, mein Wolf«, sagt Eva und lächelt versonnen ins Gesicht des blonden Hitlers.
»Weswegen bist du nochmal hier, ›Tschapperl‹?«, fragt Adolf sie und es dauert einen Moment, bis sich die Aufmerksamkeit seiner Geliebten vom Antlitz des Doppelgängers löst und sie sich stattdessen dem Original zuwendet.
»… Ah, ja. Also erstens, hier ist deine Limonade.« Sie hält ihm das Glas mit der trüben, aus Apfelsaft und Molke gefertigten Flüssigkeit entgegen. Er nimmt es ihr ab.
»Danke. Und zweitens?«
Evas Augen huschen von ihm zu den Ärzten und wieder zurück, sie tritt nahe an Adolf heran, ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern: »Mein Kokain ist alle und ich wollte dich fragen, ob du mir aushelfen kannst.« Die beiden tauschen einen Blick, der Doktor wendet sich dezent zur Seite.
»Ähm … sicher.« Hitler greift mit der linken Hand in die Innentasche seiner Uniformjacke, in der rechten schwappt das Getränk über den Glasrand.
»Wenn Sie erlauben, mein Führer«, sagt Abderhalden und legt einen Schalter an der tragbaren Fernsteuerung um. Der linke Arm des Doppelgängers hebt sich in die Horizontale, die Finger der Hand öffnen sich. »Der ›Hitler 1000‹ ist auch Becherhalter«, sagt der Doktor, nicht ohne Stolz.
»Nicht schlecht«, murmelt Adolf und drückt seiner Kopie das Glas in die Hand. Mit beiden Händen zur Verfügung holt er eine silberne Schatulle zum Vorschein und reicht sie Eva. »Aber nicht alles, ›Tschapperl‹. Lass mir diesmal auch noch was übrig.«
»Jawohl, mein Wolf«, erwidert sie grinsend, steckt das Döschen ein und zwinkert ihm zu. Dann verlässt sie den Raum. Die Ärzte schauen ihrem Abgang hinterher.
Hitler räuspert sich und wendet sich wieder dem Doppelgänger zu. Er will ihm das Glas aus der Hand nehmen, doch sein Ebenbild hält es unbewegt fest.
»Er soll loslassen, machen Sie schon!«, schnauzt der Führer den Doktor an.
»Einen Moment, ich … äh ...«, stammelt Abderhalden und dreht an diversen Reglern. Mit einem Ruck des Handgelenks kippt der ›Hitler 1000‹ plötzlich das Glas zur Seite, dabei verschüttet er die Limonade über die Steuerungskonsole. Funken sprühen, erschrocken lässt der Arzt die Technik fallen. »Verdammt …!«
»Tötungsmodus aktiviert!«, schnarrt der Doppelgänger.
»Tötungsmodus …?«, entfährt es Hitler erstaunt, doch da ist es schon zu spät. Der ›Hitler 1000‹ packt ihn an der Kehle und drückt zu. Er hebt ihn hoch, Adolfs Füße verlieren den Bodenkontakt. Hilflos strampelt der Führer mit den Beinen, er versucht, sich aus dem Griff seines Selbst zu befreien, doch die Hand umschließt seinen Hals wie ein Schraubstock. Sein Gesicht läuft rot an. »… Sauhund …«, krächzt er.
In die Mediziner kommt Bewegung, Dr. Abderhalden hat die Fernsteuerung aufgehoben und drückt wie wild darauf herum. Ein Wissenschaftler greift den Doppelgänger von hinten an, dieser rammt ihm emotionslos den rechten Ellenbogen ins Gesicht. Der Weißkittel taumelt zurück, Blut sprudelt aus der Nase wie aus einem gebrochenen Wasserrohr. Zwei andere Ärzte ergreifen die metallenen Stangen umherstehender Infusionsständer und prügeln damit auf den ›Hitler 1000‹ ein.
Unbeeindruckt hält der Doppelgänger den Führer noch immer in die Höhe, Hitlers Gesicht verfärbt sich purpurn, die Augen treten aus den Höhlen. »Aarrgh…«, entfährt es ihm. Mit einem Mal stinkt es scharf nach Kot, Adolfs Hände patschen noch kraftlos auf das eigene Antlitz, dann weicht das Leben aus ihnen, schlaff baumeln sie herunter.
Schweißgebadet drückt Abderhalden weitere Knöpfe.
»Tötungsmodus deaktiviert«, sagt der Doppelgänger und löst den Griff. Hitlers toter, stinkender Kadaver plumpst zu Boden.
Sechs Ärzte umringen den Leichnam, schauen auf ihn herab.
»Ups«, sagt Abderhalden.
Zustimmendes Gemurmel, dann Schweigen.
Dr. Abderhalden ergreift als Erster das Wort: »Na schön, meine Herren, Vorschlag zur Güte: Lassen Sie die Leiche verschwinden und sorgen Sie dafür, dass sein Leibarzt, Dr. Morell umgehend entlassen wird. Ich justiere die Steuerung neu. Wenn wir ihn aus der Öffentlichkeit fernhalten, bemerkt mit ein wenig Glück niemand den Unterschied. Zur Not improvisieren wir, bis die Alliierten Berlin eingenommen haben. Einverstanden?«