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Der Doppelgänger
Der Andere
„Wer bist du?“, fragte ich ihn.
Am stadtinneren Rand des Englischen Gartens stehen zwei Bänke, grün und alt und rissig. Ein paar Meter über dem Landtag stehen sie sich gegenüber. Im Sommer, wenn die Baumkronen dicht sind, würde man sich, gäbe es nur das Auge, weit ab vom Großstadtleben wähnen. Das Ohr allerdings erlauscht vom Blätterwald gedämpften Verkehr, der sich um den Regierungssitz windet. Die Bänke stehen am Ende eines Kieswegs. Eine Sackgasse, mein von Kindern und Sonnenbadern und Frauchen und Herrchen weitgehend unbehelligter Leseort.
Es war ein früher lauer Sommerabend mit noch bestem Leselicht, meine Zeit an diesem Ort. Der Mann, der dort auf einer meiner Bänke saß, trug eine dünne schwarze Lederjacke mit ausgebeulten Taschen, so wie ich.
Er trug auch meine Jeans, mein schwarzes T-Shirt, meine schwarzen Halbschuhe. Er trug meine Haare kurz, gerade so, dass die Locken sich ein knappes Mal kringeln konnten, er trug meine schwarze ovale Brille mit Metallgestell, er trug meine gewichtige Nase mit breitem Rücken, meinen Dreitagebart. Er trug meine Augen, mein Kinn. Und als er antwortete, hörte ich die Stimme, die ich von meinem Anrufbeantworter kannte: Danke für Ihren Anruf. Ich bin gerade nicht zu Hause. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, melde ich mich, sobald ich kann.
„Du kennst mich“, antwortete er.
Ich setzte mich. Die tiefstehende Westsonne blendete ein wenig. Ich bin nicht religiös, ich bin kein Esoteriker, in mir ist kein Hauch Parapsychologie.
Ich glaube prinzipiell nur, was ich sehen und anfassen kann. Den Kerl da drüben sah ich und er sah so aus, als könnte man ihn anfassen, ohne mit der Hand durch seinen Leib hindurch zu gleiten. An ihm war nichts mysteriös oder außerirdisch. Er sah nur aus wie ich.
„Hab mal gehört, dass viele Menschen Doppelgänger haben“, antwortete ich. Aber bei sieben Milliarden Menschen auf dieser Kugel ist die Wahrscheinlichkeit winzig, dass sie sich jemals kennenlernen.“
„Ich bin aber nicht dein Doppelgänger. Ich bin du.“
Okay. Das schien jetzt abzugleiten. Ich beobachtete eine Frau, die sich unseren Bänken näherte, kurz verhielt, nachdachte, sich umdrehte und hinter ein paar dicken Buchenstämmen, um die sich der Weg wand, verschwand. Warum? Weil beide Bänke belegt waren. Weil der Kerl da drüben real war, weil sie ihn auch gesehen hatte, weil keine Bank frei war, weil also da drüben definitiv kein Phantom saß, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut.
Zwei der Buchen, mächtige Exemplare, wuchsen auf den ersten Metern fast waagrecht. In meiner Kindheit waren sie bereits da gewesen, Mittelpunkt meines Schulweges, dick, krumm und einladend, um auf allen Vieren die Stämme hoch zu krabbeln, vielleicht mit einer fremden Mütze zwischen den Zähnen, die ganz oben an einen Ast gehängt werden konnte, so hoch wie möglich, um zu sehen, über wie viel Mut der Eigentümer der Mütze verfügte. Manchmal wurden dort auch Brotzeitbeutel aufgehängt, Schals, Schulranzen, variierend nach Jahreszeit.
„Erinnerst du dich an die beiden schiefen Bäume?“, fragte ich ihn, neugierig darauf, zu erfahren, wie viel Ich er sich von mir geliehen hatte.
„Natürlich. War ja oft genug oben. Bis zur ersten Krümmung auf allen Vieren. Dann wurd‘s schwierig!“
Ich weiß nicht, ob ich in diesem Moment nur voller Verwunderung über die Absurdität dieser Aussage den Kopf schüttelte, oder ob da auch ein Quäntchen Entrüstung dabei war. Aber gut. Spielen wir mit, dachte ich.
Soll er seinen Spaß haben! Ich beschloss ihn reden zu lassen. Ist das bewährte Mittel, wenn man etwas über eine Person in Erfahrung bringen will. Einfach reden lassen, schwadronieren, sich selbst entlarven.
„Weißt du noch, wie der Beckmann Werner deinen Schulranzen bis ganz oben getragen hat? Und dann mit seinen langen Armen hoch gegriffen hat, so hoch er konnte, und ihn in eine Astgabel gehängt? Weißt du das noch?“
Hatte er das? Ich konnte mich nicht erinnern.
„Du weißt es nicht mehr?“, hakte er nach.
„Nein, ehrlich gesagt…!“
„Du hast das vergessen?“
„Na und. Weißt du etwa noch alle Anekdoten aus deiner Kindheit?“
„Ich weiß alle, die du vergessen hast.“
Das Gespräch lief aus dem Ruder. Ich erinnerte mich dunkel an Werner Beckmann, etwas älter, kräftig, dominant. So ein Alphatier, das es in jeder Klasse gibt.
„Du weißt also auch nicht, wie es danach weiter ging?“
„Weiter ging? Womit?“
„Na mit deinem Schulranzen.“
„Nein weiß ich nicht mehr. Muss ich auch nicht wissen. Ist für mein Leben vollkommen ohne Belang!“
„Aha, es ist für dein Leben vollkommen ohne Belang, dass der Werner dich hat stehen lassen, heulend, und dass all die anderen mit ihm davon gezogen sind. Keiner hat zu dir gehalten. Keiner hat dir geholfen, keiner von denen, die längere Arme hatten als du, die den Schulranzen vielleicht hätten erreichen können. Keiner, der zu Werner gesagt hätte: Hol ihn ihm doch wieder runter! Es reicht. Das ist jetzt nicht mehr spaßig. Alle ließen sie dich stehen. Du wusstest nicht, was du tun solltest. Hast gewartet. Geweint.“
„Warum gräbst du jetzt diesen Mist aus?“
„Vielleicht, weil er mir gerade einfällt, wenn ich diese Buchen sehe. Mir fällt ein, wie du stundenlang vor den Bäumen gesessen bist. Immer mal wieder hochgekrabbelt wie ein Käfer, die Arme waren zu kurz. Nach Hause gehen kam nicht in Frage. Nicht ohne den neuen teuren Ranzen, den du zum Geburtstag bekommen hattest. Nicht gewünscht, einfach bekommen. Weil das vernünftig war. Keinen Fußball. Es hätte dir vielleicht ein wenig Anerkennung gebracht, wenn du deinen eigenen Ball gehabt hättest. Zumindest hätten sie dich mitspielen lassen. Weil es dein Ball gewesen wäre. Zumindest, wenn sie keinen anderen Ball da gehabt hätten. Mitspielen oder wenigstens Ersatz, wenn einer von ihnen heim musste. Aber nein, ein Schulranzen. Und jetzt nach Hause ohne ihn. Der Ledergürtel. Immer wieder der Ledergürtel. Hose runter und bücken. Zähne zusammen beißen. Keinen Laut, sonst würde es noch länger dauern. Tapfer sein. Der Vater, der erklären würde, dass es sein musste. Dass es nicht anders ging. Dass er das nicht gern tat. Aber Strafe musste sein. Und dann auf die Toilette zum Weinen.“
„Hör endlich auf, du Verrückter! Ja, vielleicht war es so! Na und? Ich bin nicht der einzige, der sowas erlebt hat. Vater hat es gut gemeint. Er wusste es nicht besser. Er kannte es nicht anders.“
„Ja, nur Gutes über die Toten! Weißt du wenigstens noch, wie die Sache ausgegangen ist?“
„Nein, nichts weiß ich mehr!“
„Ein Windstoß, ein kleiner Zweig der brach. Der Ranzen fiel runter. Aber hat es dir geholfen? Den Ledergürtel fürs Rumtreiben nach der Schule hat es dir nicht erspart. Weißt du noch? Das Klatschen, der Schmerz, die Scham.“
„Hör endlich auf! Ich hab das vergessen!“
„Vergessen, ja! Weggesperrt. In eine kleine dunkle Kammer eingemottet.
Abgeschlossen, Schlüssel weggeworfen.“
Ich sah, wie erregt er war. Wenn er sprach, war es, als würde er es wieder erleben, als würde er jedes seiner Worte wie Schläge des Gürtels an seinem Leib fühlen. Kein Abstand. Traurige Kreatur.
„Du sitzt da, als würde dich das alles nichts angehen!“, schrie er. Ich trage deine Erinnerungen herum. Deinen Schmerz. Und du? Bist du tot?“
„Nein, ich bin nicht tot“, antwortete ich. „Ich bin lebendig. Ich bin ich. Und was willst du sein? Mein Gewissen? Scher dich zum Teufel! Ich brauche dich nicht. Ich werde mit meinem Leben fertig. Es ist gut. Es ist ein gutes Leben.“
Er hatte sich jetzt ein wenig beruhigt. Gottseidank! Strich über seine Haare. Lehnte sich zurück, atmete tief. Mehrere Passanten hatten sich unterdessen unseren Bänken genähert und beigedreht. Wollten diesem Schaustück nicht zu nahe treten.
„Und heute?“
„Was heute?“
„Du hast alles im Griff. Hast ein gutes Leben. Ein geglücktes Kind. Eine befreundete Exfrau. Einen respektablen Job.“
„Ja, genau so ist es. Und es ist völlig in Ordnung so.“
„Woran ist deine Ehe gescheitert?“
„Das fragst du? Du weißt doch alles. Du weißt doch, wie wir uns immer fremder geworden sind. Kein Reden mehr möglich. Kein richtiges.“
„Ich weiß, dass Marianne verzweifelt war, weil sie nicht mehr ran kam an dich. Weil du immer verschlossener wurdest.“
„Sie hat nicht damit leben können, dass ich diese Symbiose nicht wollte. Dass ich ich sein wollte. Keine bessere Hälfte. Auch keine schlechtere.“
„Vielleicht wollte sie einfach einen Partner. Einen der da ist und nicht in irgendwelchen Ich-Sphären herumschwebt. Einen der wahr ist und echt und lebendig.“
„Wie kommst du dazu, dich hier zum Richter aufzuschwingen. Wer hat dich denn bestellt? Du weißt, was wahr ist? Du weißt, wer wahr ist?“
„Hasst du mich?“
„Dich hassen? Ein Phantom, eine Illusion, ein Fleisch gewordenes Selbstgespräch? Meine Güte, jetzt werd ich schon poetisch. Nein, ich hasse dich nicht.“
„Und weißt du. warum nicht?“
„Brauche ich jetzt schon eine Rechtfertigung dafür, nicht zu hassen?“
„Du hasst mich nicht, weil du es nicht kannst. Weil du genauso wenig hassen kannst, wie lieben. Weil du eine leere Hülle bist.“
„Ich hasse dich nicht, weil es keinen Grund dafür gibt“ sagte ich.
„Du bist tot“, sagte er.
„Du bist vollkommen durchgeknallt“, sagte ich.
„Was war es? Sag’s mir! Warum hast du zugemacht? War‘s dieses Gefühl, allein zu sein? Das einsamste Kind auf der ganzen Welt? Das nur funktionieren musste? Funktionieren für einen Fingerhut voller Zuwendung? Nichts umsonst? Nichts geschenkt? Nie!“
„Darf man das denn nicht? Erinnerungen wegsperren? Es muss doch weiter gehen! Ich musste doch weiter leben!“
„Ich weiß.“
„Aber du wirfst es mir vor!“
„Nein, das tu ich nicht. Nicht wirklich. Du bist nicht schuld!“
„Ist das wichtig, wer schuld ist?“
„Vielleicht nicht. Aber du hast zu viel abgesperrt. Nicht nur die Unfallstelle. Die ganze Autobahn hast du abgeriegelt.“
„Großartige Metapher. Ich gratuliere!“
„Du hast zu großräumig um das Geschwür herum geschnitten.“
„Du wächst über dich hinaus!“
„Eine örtliche Betäubung, die sich zur Vollnarkose herausgewachsen hat.“
„Metaphorischer Overkill.“
„Ich weiß. Es ist zu spät.“
„Was ist zu spät?“
„Es gibt mich schon.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Das kannst du nicht. Ich bin du. Ich bin der, der du hättest werden können. Ich kann das, was du nicht kannst. Mich spüren.“
„Ich kann mich nicht spüren?“
„Nein, und du kannst nicht einmal vernünftig um dich trauern. Du kannst dich beobachten. Du kannst manchmal fragen, ob das was da in dir drin ist, ein Gefühl sein könnte? Du schaust es an. Hmmm…was ist das jetzt. Mitleid? Zuneigung? Wut? Schaust es an wie ein Autor, ein Regisseur. Du kannst sogar Tränen inszenieren. Aber du hast nie mehr so geweint wie damals beim Tod von Winnetou. Als Marianne ging, warst du starr. Keine Erleichterung, kein Schmerz. Nichts. Grad war sie noch da, jetzt ging sie. Morgen wird sie nicht mehr da sein.“
„Das stimmt. Das Leben geht weiter.“
„Klar! Sie war nicht die erste, nicht die letzte, sie war die Hundertste! In wie viele Löcher hast du dich eigentlich gebohrt auf der Suche nach dem bisschen Liebe, das das Kind gebraucht hätte“
„Du meine Güte!“, sagte ich. „Du billiger Psychofritze, du Lebenserklärer. An wen bin ich denn da geraten? Da entgeh ich ein Leben lang allen Bhagwans und Gurus und Heilern und selbsternannten Selbstfindungshelferleins, und dann kommst du daher!“
„Ein Loch nach dem anderen. Alle tief und weich und dunkel und feucht. Und dann kommt wieder nur Stöhnen raus, keine richtige Liebe. Keine, die du brauchen kannst. Wieder nur Frauenliebe, Erwachsenenliebe. Keine, bei der du es nicht versuchst hast, egal ob du sie mochtest. Nicht mal wirklich gefallen mussten sie dir!“
„Meinst du, ich war anders als andere? Alles ziehst du in den Dreck. Ich hab den Frauen gefallen.“
„Ja, aber keiner lang. Du warst doch schneller weg, als du dort warst. Im Abseilen warst du noch schneller als im Landen. Sie waren Kulisse. Alles war Kulisse, das Leben wie ein Film. Und du im dunklen Kinosaal. Auf dem besten Platz.“
„Du hast sie doch nicht mehr alle. Was willst du aus meinem Leben machen? Einen Second-Hand-Laden?“
„Das trifft es gut. Alles aus zweiter Hand. Jede Regung abgetragen, abgekupfert. Was hast du gefühlt, nachdem das Krankenhaus dich angerufen hatte? Der Unfall? Vater tot, Mutter im Koma?“
„Was werde ich wohl empfunden haben. Trauer, Sorge, Angst!“
„Nichts hast du empfunden. Du hast funktioniert. Alles getan, was ein liebender Sohn zu tun hat. Dich gekümmert. Bekümmert getan. Die Schwestern auf der Intensivstation mochten den fürsorglichen Sohn. Den anwesenden. So viele, würden ihre Angehörigen einfach liegen lassen. Gelegentlich besuchen, Aber du. Toll fanden sie dich, toll fandest du dich. Aber schon auf der Fahrt in die Klinik. Was würdest du mit dem Haus machen? Was, wenn sie im Koma verbliebe? Was wenn sie behindert aufwachte? Deine alte Mutter. Noch war sie da und beschnitt deine Freiheit. Die künftigen Mieteinnahmen mit dem Haus. Was würden die wohl bringen? Genug, um den Job an den Nagel hängen zu können?“
„Woran misst man Menschen? An ihren Gedankenfetzen, die kommen und gehen? Oder an ihrem Handeln? Was hat meine Mutter wohl gebraucht? Sorgenvolle Anteilnahme und Rührung oder Kümmern. Da sein für sie?“
„Rede es dir nur schön! Alle Menschen waren das für dich. Kulisse, nichts weiter. Hintergrund, vor dem du wandeln konntest. Schade, dass dein Leben längst ein langweiliger alter Film geworden ist. Kein Thriller, nicht mal mehr ein Porno! Aber die hattest du ja zur Genüge! Wenn du dich beobachtet hast beim Reinschieben. Von vorn oder von hinten. Glaubst du, die Frauen haben das nicht irgendwann empfunden? Dass du nicht da warst, nicht dabei, keine Leidenschaft, keine Nähe. Ein Voyeur.“
Warum hörte ich ihm immer noch zu? Mein Leben funktionierte. Es ließ sich leben, so wie ich es lebte. Das Leben ist dazu da, gelebt zu werden, habe ich irgendwo gelesen. Zu nichts weiter. Nicht um ständig hinterfragt zu werden. Ich lebte es anständig. Versuchte es zumindest. Und es war nicht misslungen.
Er nahm seine Brille ab. Wischte sich die Stirn und den Nacken. Es war immer noch warm an diesem Sommerabend.
Die Sonne stand tief. Würde in ein paar Augenblicken unter den Horizont kriechen. Die letzten Strahlen wärmten meinen Nacken. Ich schwitzte. Nahm meine Brille ab, wischte über meine Stirn. Er saß mir gegenüber, hörte sich an, wie ich aufschrie vor Sehnsucht nach mir selbst. Als er gekommen war, Platz genommen hatte mir gegenüber, sah ich seinen verwunderten Blick auf mich. Ohne Erschrecken, ohne Erkennen.
Ich stand auf. Wollte nach Hause, Marianne anrufen, mit Marianne sprechen. Ihr sagen, dass ich lebte, dass ich nicht blutleer war, dass ich wach war und lebendig und voller Trauer. Aber Marianne hatte längst einen anderen.
„Wohin gehst du?“
„Zurück in unser Leben.“
„In unser Leben?“, fragte er.
Ich ließ ihn sitzen. Sollte er in Ruhe das letzte Kapitel seines Krimis lesen und dann verschwinden.