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Der Dolmetscher

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01.08.2008
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Der Dolmetscher

"Sag es ihm."
Ich schließe die geschwollenen Augen und schüttle langsam den Kopf.
"Sag es! Sag ihm, dass er in einer Stunde sterben wird!"
Ich schweige und spanne den Körper an. Er schlägt mir ins Gesicht, dann auf die linke Niere. Ich krümme mich vor Schmerz, spucke Blut aus. Was bringt es, Widerstand zu leisten? Wir wissen alle, dass wir sterben werden. Es gibt keine Forderungen und damit keine Hoffnung. "Ich tue es", stöhne ich.
Mein Kumpel ist kaum mehr der Mensch, der er vor zwei Tagen war. Verkrustetes Blut an den Schläfen. Eine frische Platzwunde an der Stirn von einem Gewehrkolben. Die Hose vollgepinkelt.
Worte sind überflüssig, es ist ihm klar, was mein Blick zu bedeuten hat. Er senkt den Kopf und beginnt lautlos zu weinen.
Erneut quäle ich mich mit der nutzlosen Frage, warum zum Teufel wir gerade hier unseren Urlaub verbringen wollten. Vier Freunde, die durch ein angeblich noch relativ sicheres Land fahren. Angeblich. Relativ. Nun sind wir nichts als Spielzeuge einer Terrorgruppe, die sich wie ein Tumor immer weiter ausbreitet.
Einer von uns ist bereits tot. Ich habe nicht gesehen, wie er gestorben ist, ob es eine Patrone war, ein Messer oder ein Knüppel. Noch schlimmeres mag ich mir nicht ausmalen.
Ich beherrsche die Sprache der Einheimischen, darum werde ich wohl der letzte sein, den sie hinrichten. Das ist also mein finaler Job - das Verkünden von Todesurteilen.
Der Vollstrecker, wie ich ihn nenne, verlässt unsere Zelle. Zurück bleiben drei gefesselte, todgeweihte Männer und der Junge mit seinem Gewehr. Dieser Wächter unterscheidet sich von den anderen, und das nicht nur wegen seiner Jugend. Ich meine, einige Male Zweifel in seinem Blick gesehen zu haben. Nun ist er zum ersten Mal mit uns alleine im Verließ.
Ein winziger Strohhalm.
Ich gebe mir keine Mühe, besonders mitleiderregend zu klingen, da ich bei dieser Sache eh verflucht wenig Wahl habe. "Wie heißt du?", frage ich leise. Sein Blick heftet sich auf mich, doch er schweigt. "Du weißt, dass wir Touristen sind. Wir wollten dein schönes Land besichtigen, von dem wir schon viel gehört hatten. Wir haben niemandem etwas getan." Da ich noch keinen Gewehrkolben ins Gesicht bekommen habe, rede ich weiter. "Bitte sag mir: ist das wirklich das Leben, das du führen willst?"
Er springt von seinem Stuhl auf und beginnt zu schreien. "Ich bin ein Krieger! Das bisschen, das ich habe, werde ich verteidigen!" Nach einigen Sekunden beruhigt er sich wieder. "Ich habe nichts gegen dich oder deine Freunde. Aber ich bin gezwungen, dir das anzutun, um ein Zeichen zu setzen. Dass es falsch ist, was euresgleichen mit unserem Land macht."
Ich versuche einen anderen Ansatz. "Wir alle haben Kinder zuhause ..." In diesem Moment wird die Tür aufgerissen. Panisch sehe ich, dass es der Vollstrecker ist. Nein! Es ist noch zu früh! Der kräftige Mann packt meinen Freund an der Schulter und zieht ihn hoch. Seine Lippen zittern, die Augen starren ins Leere. "Es ist noch zu früh", flüstere ich. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich bin außerstande, in die seinen zu blicken.

Plötzlich höre ich draußen einen enormen Knall. Gleich darauf Geschrei und Gewehrschüsse. Der Vollstrecker lässt meinen Freund los, hebt sein Gewehr und läuft nach draußen. Ich werfe mich mit den beiden anderen zu Boden. Der Junge bleibt unschlüssig stehen. Er zittert vor Angst. "Leg das Gewehr auf den Boden!" schreie ich ihm zu. Er tut es und hebt die Hände.
Weitere Schüsse. Dann wird die Tür aufgerissen. Schwarz gekleidete Männer stürmen herein. Sie stürzen sich auf den Jungen, werfen ihn zu Boden und legen ihm Handschellen an. Sein kahl rasierter Schädel glänzt vor Schweiß. In seinen blauen Augen kann ich so etwas wie Erleichterung sehen.
Einer der Polizisten ruft uns zu: "Wir sind vom SEK. Sie sind in Sicherheit. Kann mich einer von Ihnen verstehen?"
"Ja", antworte ich. "Mein Name ist Abderrahim Said. Ich bin Dolmetscher."

 

Hi liebe Wortkrieger, nach längerem wieder mal was von mir. Wollte noch anmerken, dass der Text keinerlei politisches Statement sein sollte.

 

Hallo Irony,

mir gefällt deine kleine Geschichte sehr gut.
Spannend und fehlerfrei geschrieben. Hätte gerne mehr gelesen.

Eines habe ich anzumerken:

Die Hose angepinkelt.
Ist die Hose tatsächlich von jemand anderen angepinkelt worden oder durch ihn selbst vollgepinkelt?
Für mich klingt "anpinkeln" nämlich so, dass es von außen geschieht.

Liebe Grüße,
GoMusic

 

Vielen Dank für das Feedback GoMusic! Habe an in voll getauscht und gleich eine unschöne Wortwiederholung entfernt ;)

 
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Hallo Irony,

schwieriges Thema, das du dir da ausgesucht hast. Ein Leben in Gefangenschaft, der Willkür der Terroristen ausgeliefert. Kaum einer kann und will sich das vorstellen. Sehr brisantes, sehr aktuelles Thema. Du schreibst flüssig und sicher und ich fand deinen Text spannend, weil du den Leser relativ im Dunkeln lässt. Find ich gut.

"Bitte sag mir: ist das wirklich das Leben, das du führen willst?"

Ich hab mal gelernt, dass man groß weiterschreibt, wenn nach dem Doppelpunkt ein vollständiger Satz folgt, also "Bitte sag mir: Ist das wirklich das Leben, das du führen willst?"

"Ich habe nichts gegen dich oder deine Freunde. Aber ich bin gezwungen, dir das anzutun, um ein Zeichen zu setzen. Dass es falsch ist, was euresgleichen mit unserem Land macht."

Würde ein junger Terrorist sowas wirklich sagen? Was tut der Dolmetscher dem Land denn Schreckliches an, das die Terroristen nicht ebenfalls tun und zwar viel grausamer? Ich glaube, er würde hier eher die Glaubensschiene fahren und mit Worten wie Ungläubiger um sich werfen, so brainwashed wie manche da sind, vor allem die Jugend. Die Unsicherheit könnte ja trotzdem bleiben.

"Leg das Gewehr auf den Boden!" Komma schreie ich ihm zu.

"Wir sind vom SEK. Sie sind in Sicherheit. Kann mich einer von Ihnen verstehen?"

Vielleicht liege ich hier falsch, aber ich meine zu wissen, dass das SEK nur auf nationaler Ebene operiert. Für internationale Einsätze, was ja auf deine Geiselbefreiung hier zutrifft, ist das GSG 9 zuständig.

Hab zur Sicherheit jetzt doch gegoogelt:
Anders als die Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei, die für ähnliche Aufgaben gebildet wurden und den einzelnen Bundesländern unterstehen, ist die GSG 9 eine Einheit des Bundes und kann mit dem Einverständnis des Einsatzlandes außerhalb der Bundesrepublik eingesetzt werden.
https://de.wikipedia.org/wiki/GSG_9_der_Bundespolizei

Aber ich will nicht klugscheißen, deine Geschichte hat mir gefallen.

Beste Grüße
gibberish

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Gibberish,
vielen Dank für deinen Kommentar!

Ich glaube, er würde hier eher die Glaubensschiene fahren und mit Worten wie Ungläubiger um sich werfen, so brainwashed wie manche da sind, vor allem die Jugend.
Ne, in dem Fall nicht, da

Für internationale Einsätze, was ja auf deine Geiselbefreiung hier zutrifft ...

du hier daneben liegst.

Scheinbar ist die "Pointe" der Story doch nicht so klar wie ich dachte ... Anmerkung: der Text spielt einige Jahre in der Zukunft und nimmt eine theoretisch mögliche (wenn auch nicht unbedingt sehr wahrscheinliche) Entwicklung vorweg. Tipp: Es hat seinen Grund, dass ich vor dem letzten Satz keine Namen preisgebe.

Dankeschön noch mal, die Fehlerchen werde ich natürlich korrigieren!

 

Hallo nochmal,

nachdem ich deine Antwort auf meinen Kommentar gelesen hatte, habe ich auch nochmal deine Geschichte gelesen, und frage mich, ob ich das nun richtig verstehe. Die "Terroristen" sind Deutsche, die, quasi als Zeichen gegen die zunehmende Islamisierung in Deutschland, arabische Touristen gefangennehmen und in IS-Manier hinrichten wollen? Puh, ohne deinen Kommentar wäre ich nie darauf gekommen, ganz ehrlich.

"Ja", antworte ich. "Mein Name ist Abderrahim Said. Ich bin Dolmetscher."

In einem Land wie Deutschland, in dem 20% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben, hat es mich nicht stutzig gemacht, dass ein deutscher Dolmetscher für arabische Sprachen (wie ich deine Geschichte anfangs interpretiert hatte) auch einen arabischen Namen hat. Das empfinde ich nicht als ungewöhnlich und daher habe ich auch nicht daran gedacht, dass die Geiselnehmer deutsch sind. Vielleicht könntest du das deutlicher machen, in dem du dem Jugendlichen meinetwegen einen Dialekt verpasst oder am Ende schreibst, dass er blaue Augen und blonde Haare hat (ganz klischeehaft ;) ). Dann wird man schon eher stutzig und beginnt, über die Handlung nachzudenken.

Aber mal sehen, was andere Kommentare dazu noch zu sagen haben.

Sonnige Grüße
gibberish

 

Hi again,

oder am Ende schreibst, dass er blaue Augen und blonde Haare hat (ganz klischeehaft ).

das war schon drin :)

Sein kahl rasierter Schädel glänzt vor Schweiß. In seinen blauen Augen kann ich so etwas wie Erleichterung sehen.

Ich überleg mir, wie ich's noch deutlicher machen kann.

 
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Ah ja, okay, das hatte ich irgendwie überlesen, sorry. Vielleicht bezog ich das auch auf die SEK- Jungs. :D Die Hitze hier hat mir wohl schon das Hirn durchgekocht. Aber ich hoffe, ich konnte dir trotzdem weiterhelfen.

 

Hallo irony,

Eine gut lesbare Geschichte, praktisch fehlerfrei, sprachlich unspektakulär aber gut verständlich .... ABER: Als ich sie gelesen hatte, war ich etwas unschlüssig. Okay, Happy End und so, aber ich hätte mir mehr Pointe erwartet. Dass es sie ja gibt, habe ich schlicht nicht erfasst :Pfeif:

Zum einen bin ich nicht firm in Sachen SEK, GSG9 und was weiß ich, für mich hatte eben ein deutscher Trupp einen Auslandseinsatz - hab gar nicht weiter darüber nachgedacht. Der Name zum Schluss brachte mich auch nicht mehr auf die richtige Spur - Native-Speaker etc. Und die "blauen Augen" konnten mir ebenso wenig die Augen öffnen.

Es mag sein, dass ich etwas zu oberflächlich gelesen hatte, aber ich meine dennoch, dass die maßgeblichen Infos noch etwas zu subtil eingestreut sind. Ich für meinen Teil finde deine Geschichte erst seit ich den Kommentaren die entsprechenden Hinweise entnahm so richtig rund und gut.

Aber vielleicht bin ich ja auch nur einer von wenigen, die den Wink mit dem Zaunpfahl brauchen ;)

oisisaus

 

Hilfe, ohne der Pointe ist die Geschichte ja kein Eierschwammerl wert (österreichisch für "Pfifferling").
Da es doch bei weitem nicht so offensichtlich ist wie gedacht, werd ich wohl wirklich noch ein "Rechtsradikale" oder "Neonazis" einbauen müssen.

Danke dir oisisaus!

 

Hallo Irony

Deine Geschichte war flott zu lesen und hat ich in ihren Bann gezogen. Sie ist handwerklich gut geschrieben und der Plot erlebbar.
Soweit so gut, eigentlich müsste ich jetzt schreiben: Der Text ist ein Schlaglicht auf eine Szene einer noch viel grösseren Sache.
Doch die grössere Sache ist in diesem Fall nicht wichtig, austauschbar, was ja auch der Unterschied meiner Interpretation zu deiner Intention aufzeigt.

Bevor ich deine Kommentare gelesen habe, war mein Bild folgendes:
Irgendwo in einem uns fremden Land, nehmen Terroristen arglose Touristen gefangen und richten sie hin als Zeichen gegen Andersdenkende, demonstrieren Macht und Stärke für eine Sache, die sie für richtig halten. Zigfach in der Presse zu lesen, und man stumpft ab und ab und ab ... anderes Thema.
Du versuchst dabei nicht die grossen Zusammenhänge zu erklären, dir geht es alleine um die Beziehung zwischen unterschiedlichen Menschen, die in ihren Urinstinkten gar nicht so unterschiedlich sind.
Für mich ist denn auch die Schlüsselstelle zugleich die Essenz der Geschichte:

Der Junge bleibt unschlüssig stehen. Er zittert vor Angst. "Leg das Gewehr auf den Boden!" schreie ich ihm zu. Er tut es und hebt die Hände.
Weitere Schüsse. Dann wird die Tür aufgerissen. Schwarz gekleidete Männer stürmen herein. Sie stürzen sich auf den Jungen, werfen ihn zu Boden und legen ihm Handschellen an. Sein kahl rasierter Schädel glänzt vor Schweiß. In seinen blauen Augen kann ich so etwas wie Erleichterung sehen.
Dein Dolmetscher rettet den Jungen vor dem Märtyrertod, aber nur, da der Junge in einem Anflug des Zweifels den Rat seines Feindes annimmt.

Gemäss den Kommentaren spielt das ganze jedoch in einem anderen Umfeld, in ferner Zukunft haben rechtsextreme Gruppen die Rolle der radikalen Märthyrer für "die gute Sache" übernommen und nehmen Touristen aus dem nahem Osten als Gefangene und so weiter ...
Da macht auch das SEK wieder Sinn.

Aber eben, das unterscheidet sich von deiner Intention, als Pointe die Geschichte in der (nahen?) Zukunft mit (zu den heute aktuellen) verdrehten Rollen in Europa spielen zu lassen.

Trotzdem gerne gelesen,
Gruss dot

 

Etwas verspätet, danke ich dir dotslash!
Ich finde es sehr interessant, dass du und die anderen der Geschichte auch und gerade abseits des leicht zu überlesenen Twists Qualitäten bescheinigt - ich habe nicht unbedingt damit gerechnet.
Der Junge sollte ursprünglich gar nicht so entscheidend sein. Aber natürlich bin ich jetzt froh, den kleinen Neonazi drin zu haben - auch wenn ihn keiner als solchen erkannt hat :D
Wenn du auch die Schlüsselstelle woanders gefunden hast als geplant, bin ich happy, dass du mit der Geschichte was anfangen konntest. Vielen Dank noch mal und schönen Abend.

 

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