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Der digitale Mensch
Der Enttäuschungsschrei, den Niana ausstieß, war sehr laut und herzzerreißend. Die darauffolgenden beiden Whats-App-Nachrichten gaben meinem Leben eine niederschmetternde Wendung für alle Ewigkeit.
„Du wirst für immer dort bleiben müssen, wo du bist.“
Schon diese Textzeilen trafen mich wie der Schlag. Und keine Angst. Ich werde euch ziemlich bald erklären, wo ich bin. Als ich nach gefühlten 5 Minuten die Zeilen lesen musste
„Ich kann unsere Beziehung unter diesen Umständen nicht weiterführen“, wollte ich mich spontan vor einen Zug werfen.
Doch das kann ich nicht und werde es niemals können. Entschuldigt, dass ich mich bisher nicht vorgestellt habe: Mein Name ist Leon Meise und ich bin ein digitaler Mensch.
„Ich gebe zu. Ich surfe auch viel zu viel im Internet“, schreiben mir die meisten Leute auf Facebook zurück, wenn ich ihnen schreibe, ein digitaler Mensch zu sein. Und schon merke ich, dass sie nicht im Ansatz verstanden haben, was ich meine.
Um den Begriff zu verdeutlichen, habe ich zwar nur ein schlechtes Beispiel parat, aber ich denke mir dann immer: Besser als gar keines „Was ist eine digitale Steuererklärung? Ist das etwa eine Steuererklärung, die zu viel im Internet surft? Nein, oder? Eine digitale Steuererklärung ist eine Steuererklärung, die materiell überhaupt nicht existiert und nur aus virtuellen Daten besteht. Und so bin ich eben auch. Nur als Mensch. Ich bin ein digitaler Mensch.“
Und wo ich bin? Diese Frage ist genauso schwer zu beantworten wie die Fragen „Wo ist Facebook? Wo ist Youtube? Wo ist die Webseite, die du jetzt gerade in diesem Moment liest.“ Vielleicht ist ein Teil von mir in Schweden, ein anderer Teil in Kanada – als Datenvolumen auf irgendwelchen Servern. Die stehen ja meist in den nördlichen Ländern. Und natürlich ist dort nur mein Geist – einen Körper habe ich nicht.
Ich hatte mal einen, doch das ist lange her. 2025 hatte ich ihn einfrieren lassen. Die Idee, menschliche Körper einzufrieren, um sie dann zu einer Zeit wieder auftauen zu lassen, in der Menschen unsterblich sein können, gab es schon seit den 90er Jahren des 20. Jh. Doch erst 2020 wurde die Idee real, zusammen mit einer anderen Erfindung – eben jenem digitalen Menschen. Zu einem solchen wurde man durch die Kopie aller synaptischen Verknüpfungen eines Gehirnes in einen virtuellen Raum. Es ist eine Zwischenlösung für alle, die ihren Körper eingefroren hatten und nun auf den medizinischen Fortschritt warteten, um ihn für alle Ewigkeit zurück zu erhalten.
Das Leben als digitaler Mensch war anfangs gar nicht so schlecht, wie man es sich vorstellen hätte müssen. Man hatte zwar keine Augen und Ohren, aber die brauchte man auch nicht, um jpg, mp3 oder Nachrichten zu entschlüsseln. Mit meinen Freunden blieb ich über Facebook und Whatsapp in Kontakt. Mit Webcams konnte ich sie sogar sehen. Nur bei Pokemon-Go musste ich passen. Mich interessierte, was in der Welt los war und konsumierte nahezu jede mir zur Verfügung stehende Nachrichten- und Politikseite. Ich veröffentlichte bei den Wortkriegern die Geschichten mit den besten Kommentaren, postete von allen Usern die meisten Premium-Lachse bei lachjetzt.de. Und mein größtes Hobby war mein Youtube-Kanal. Die Möglichkeiten, Videos zu erstellen, ohne sich selber vor die Kamera zu stellen, waren ja vielfältig.
Mit meinen Youtube-Videos verdiente ich Geld und deshalb hatte ich sogar ein Bankkonto. Natürlich konnte ich kein Geld abheben, aber ich konnte von meinem Konto abbuchen lassen - fürs Online-Shopping. Auch das ging. Es war klar, dass mich vor allem Downloadprodukte interessierten, aber auch Webflix und Sputifu bezahlte ich regelmäßig, denn ich wollte mitreden bei Musik und Filmen. Und im Jahre 2030 kaufte ich mir einen virtuellen Avatar, der auf einem beliebigen Monitor aussah wie mein ehemaliger Körper, und ich kaufte mir außerdem eine künstliche Stimme. Damit konnten mich bei Skype die Leute sogar sehen und hören.
Mehr als 20 Jahre war ich glücklich so. In der Zeit, als meine Freunde anfingen, von beginnendem Rheuma und hohem Blutdruck zu erzählen, war ich richtig froh, keinen Körper zu haben. Neue Freunde, die meine Interessen teilten , hatte ich längst gefunden. Im Jahre 2050 war es überhaupt kein Problem, Leute schon jahrelang zu kennen, ohne je erzählt zu haben, dass man auf eine gewisse Art und Weise gar nicht existierte. Alle diese Freunde waren natürlich viel jünger als ich. Dass es noch andere digitale Menschen gäbe, hatte ich zwar mal gehört. Ich hatte aber nie einen kennengelernt. Doch warum auch? Das, was in der realen Welt passierte, bekam ich am besten über reale Menschen mit.
Doch klar gab es auch etwas, was mir fehlte. Denn einige Sachen konnte man ja nun wirklich nur machen, wenn man körperlich ist. Doch da ich die Zeit als digitaler Mensch sowieso nur als eine Zwischenstation sah, machte ich mir keine Sorgen und blickte nach vorne.
„Wenn die Unsterblichkeit erfunden worden ist und ich wieder einen Körper habe, habe ich bis in alle Ewigkeit Zeit, mir eine Frau zu suchen, mit der ich dann bis in alle Ewigkeit zusammenbleiben kann.“, sagte ich mir. Doch eigentlich immer kommen die Dinge ja anders, als man denkt und insbesondere einen Parameter gibt es, der im Leben nicht kalkulierbar ist: Die Liebe.
Die 60er Jahre des 21. Jahrhunderts waren inzwischen schon fast vorbei. Immer noch, und das war meines Erachtens gar nicht so selbstverständlich, lernten sich die Leute über Dating-Apps kennen. Ich meldete mich auch an, einfach um das Flirten nicht zu verlernen. Durch spezielle Software konnte ich Bilder meines Avatars vor dem Hintergrund nicht nur aller Ecken der realen Welt kreieren, sondern auch aus allen der virtuellen. Und mit meinen zugeschnittenen, optimierten Fotos klappte die Kontaktaufnahme prima. In den seltenen Fällen, wo die Frau es war, die nach einem persönlichen Treffen fragte, schaffte ich es dann schon, mich da irgendwie herauszuwinden.
Doch die Tatsache, dass ich mich auch im Chat verlieben konnte, hatte ich unterschätzt. Niana war im Jahre 2045 geboren, 50 Jahre nach mir. Die Bilder von ihr waren der Hammer. Und ihre Lebensgeschichte glich auch der der ersten 22 Jahren meines Lebens. Auch sie wollte unsterblich sein, hatte auch überlegt, sich einfrieren zu lassen. Allein das war eine Eigenschaft, die verband. Und das Beste: Niana liebte mich auch, und zwar so wie ich war: körperlos. Fürs Erste zumindest.
Wir skypten nächtelang. Mit Rotwein prosteten wir uns zu und immer, wenn mein Avatar sich sein imaginäres Glas Bordeaux in seinen ebenfalls nicht existierenden Rachen goß, dann hatte ich das Gefühl, tatsächlich etwas angesäuselt zu werden.
Wir waren zwei Jahre sehr glücklich - solange, bis wir alle WhatsApp-Smileys uns mindestens schon 50 mal zugesandt hatten. Doch irgendwann träumte Niana davon, mit mir in Urlaub zu fliegen, mich in den Händen zu halten und mich zu küssen. Und das schlimmste war: sie konnte es nicht mehr erwarten.
Es war bisher unser Plan gewesen, dass auch Niana sich einfrieren ließe und wir beide uns solange in der virtuelle Welt aufhalten, bis der medizinische Fortschritt weit genug für die Unsterblichkeit wäre. Doch Niana gab sich irgendwann mit diesem Plan nicht mehr zufrieden. Einmal zweifelte sie sogar daran, dass diese Zeit je kommen würde. Für mich ein harter Schlag.
„Was stellst du dir sonst vor?“, fragte ich schließlich.
Und sie entgegnete: „Lass dich materialisieren. Nimm Kontakt auf zu der Firma, die dich einfrieren lassen hat und hol dir deinen Körper zurück - schon jetzt. Warte nicht auf etwas, das vielleicht nie kommen wird!“
Lange sträubte ich mich. Nianas Idee hätte meinen ganzen Lebensplan durcheinander geworfen, der immer noch die Unsterblichkeit vorsah.
Doch dann kam dieser eine Abend, der 20.08.2069. Wir sahen „Herr der Ringe“ – sie auf ihrem Großbildfernseher und ich virtuell –ich gebe zu, es ist für einen realen Menschen schwer vorzustellen, wie man als digitaler Mensch einen Film sieht, aber ich kann euch sagen, dass es geht. Auf ihrem Laptop war ich in Form meines Avatars bei ihr.
Aragorn und die Elbin Arwen standen auf einer Brücke in Bruchtal, in Hintergrund die Schlucht, und sie schauten sich in die Augen- beide genauso verliebt wie auch wir es waren.
„Ich würde lieber ein einzelnes Leben mit dir verbringen als eine Ewigkeit alleine.“, raunte Arwen Aragorn zu und bot ihm damit an, ihr Leben als Elbin aufzugeben und ein sterblicher Mensch zu werden.
Ich verfolgte die Szene noch bis zum Kuss, doch dann konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, weil mir nach heulen zumute war und ich genau wusste, dass ich jetzt eine Entscheidung getroffen hatte. Am nächsten Tag rief ich Niana über Skype an und wiederholte die Worte der Elbenfrau. Und auch Niana musste heulen, ganz überwältigt von der Vorfreude darauf, bald meinen Körper in den Händen halten zu können. Wir versprachen uns das ganz große Glück.
Keiner von uns beiden hätte gedacht, wieviel Aufwand nun folgte. Als allererstes Problem stellte sich heraus, dass die Firma, die damals meinen Körper eingefroren hatte, weder telefonisch, noch per Mail, noch postalisch zu erreichen war. Ich bat Niana, von San Francisco nach Hamburg zu fliegen, um die Firma zu besuchen. Dass sie es tat, war eine Selbstverständlichkeit. Sie erhielt jedoch erst im Oktober Urlaub. Gott sei Dank bekam sie einen günstigen Flug und ein günstiges Hotel. Am Tag nach der Ankunft stellte sie fest, dass eine andere Firma inzwischen in dem Bürö ihren Tätigkeiten nachging. Sie fragte nach dem Verbleib der „Everness company“. Und sie bekam die Antwort, es gäbe sie nicht mehr. Es befände sich aber noch ein Kühlraum im Gebäude, den die Firma Hincock, die nun die Räume gemietet hatte, nicht mit mieten konnte. Und in diesem Kühlraum befänden sich noch alle eingefrorenen Körper der Everness Company. Und es gäbe nur einen einzigen Mitarbeiter, der da genaues weiß. Es gab da wohl irgendeinen komischen Deal.
Ich träume immer noch davon, Niana in den Arm zu nehmen und zu küssen dafür, was sie in den darauffolgenden Tagen alles geleistet hatte – für ein Ziel, das letzten Endes dann doch nicht realisierbar gewesen ist. Sie hatte mir alle ihre Erlebnisse genau beschrieben, denn wir hatten nach diesen Ereignissen immer noch Kontakt, wenn auch nur auf Freundschaftsbasis.
Niana nervte solange, bis derjenige Mitarbeiter erschien. Er stellte sich mit dem Namen „Meyer“ vor. Ganz genaues wusste er auch nicht.
„Kann man an die eingefrorenen Körper ran?“, fragte sie Herrn Meyer.
„Zur Zeit gerade nicht“, erklärte dieser.
Es sei wohl immer noch geplant, die eingefrorenen Körper irgendwann wiederzubeleben, aber mit welcher Technik und wer das machen würde, das wüsste er nicht. Das sei ja auch gar nicht interessant, da es die notwendige Medizin für die Unsterblichkeit sowieso noch nicht gäbe.
„Und ob das interessant wäre“, fluchte Niana innerlich, Sie hätte Herrn Meyer fast zusammengeschrien, wusste aber genau, dass ihr Frust bei ihm an der falschen Adresse war.
Alle Aussagen, egal von wem, erschienen ihr vage. Schon durch ihre stetigen Berichterstattungen bekam ich Angst um meinen Körper.
„Können Sie mir das Labor trotzdem zeigen?“ Niana bequatschte Herrn Meyer solange, bis er das tat, was selbstverständlich streng verboten war. Er führte sie bis zu dem Schrank, in welchem mein Körper lag. Der Raum glich einer Leichenschauhalle. Niana blickte auf eine große Wand voller Schubladen. „Das war es. Weiter kann ich nicht“. Herr Meyer machte ihr klar, dass er keinen Schlüssel für die einzelnen Schubladen hatte.“
„Das ist okay. Das reicht mir“, erklärte Niana. Herr Meyer, versuchte noch, sie in Small-Talk zu verwickeln, was Niana aber ablehnte.
Als sie rausging, bedankte sie sich bei ihm, lief dann aufs Auto zu. Sie hatte sich alles ganz genau gemerkt. Zugangstüren, Lichtschranken, Abstände. Sie war in dem Moment froh gewesen, ein fotographisches Gedächtnis zu haben. Die nächsten Stunden war sie mit ihrem Smartphone beschäftigt. Der Empfänger ihrer Nachrichten war ich. Und Gott sei Dank fanden wir zusammen einen Plan. Doch nur fürs Erste war ich froh.
Nach 40 Jahren im Netz hatte ich eine ganze Menge Leute kennengelernt - auch viele, die ich problemlos ins Vertrauen ziehen konnte. Dass sich darunter auch eine Bande Einbrecher befand, war ein günstiger Zufall.
„Lass uns den Körper holen und dann sehen wir weiter.“, schrieb ich Niana, „auftauen, beleben, und vor allem die cerebralen Hirnstruktur dem Gedächtnis meines nun 40 Jahre alten Internet-Ichs anpassen“, das wäre heutzutage in den modernen Krankenhäusern kein Problem mehr. Der Körper müsse nur erstmal aus dem Gebäude heraus.
Ich möchte nur noch mal erwähnen, dass die Übertragung meines Internetgedächtnisses ein wichtiger Punkt war, denn hätte man den Körper so aufgetaut, wie er gewesen war, dann hätte ich ja ganz vergessen, dass ich Niana liebe. Ich wäre auf dem Stand von 2025.
Meine Schicksalsnacht war der 05.10.2069. Die Einbrecher erledigten ihre Arbeit professionell. Es dauerte nicht lange, bis sie, Niana Williams, vor derjenigen Schublade stand, hinter der mein Körper hätte lagern müssen. Ein letztes Mal benutzten die Männer ihre Brechstangen, die ihren Zweck erfüllten. Adrenalin stieg in Nianas Nervenbahnen hervor. Die Kälte aus den Kühlaggregaten drang ihnen allen bis in die Knochen.
Als die Männer die Schublade herauszogen und nur noch eine Plastikfolie Niana von dem Körper ihres Geliebten, der damals noch ich war, trennte, kroch ihr das Herz bis in ihre Hose. Gespannt wie ein Flitzebogen sah sie zu, wie meine Facebookfreunde die Folie von meinem Körper zogen, bzw von dem, was sie dafür hielten. Dann erhallte der Schrei und die beiden Whatsapp-Nachrichten, die mein Leben bis in alle Ewigkeit zur Hölle werden ließen, wurden abgesendet.
Niana blickte auf die übergebliebenen Reste von dem, was früher wohl mal mein Körper gewesen sein musste. Teils blickte sie auf Knochen, teils auf Haut. Alle wichtigen Organe schienen entnommen zu sein. Erst später, durch jahrelange Recherche im Internet erfuhr ich, dass die Everness-Company 2043 als Betrügerfirma aufgeflogen war. Mein Herz, meine Leber, und meine Nieren mussten wohl schon in den 20er Jahren an Organhändler verkauft worden sein, der Rest etwas später. Der Gründer hatte sich daraufhin in den letzten Winkel Südamerikas abgesetzt, zwischen denen es mit Europa auch in den 40er Jahren des 21. Jh. noch keinen Auslieferungsvertrag gab. Was mit meinem Hirn passiert ist, wusste niemand.
Wir schreiben jetzt das Jahr 2123. Ich chatte gerade mit ein paar Jugendlichen, die alle im 22.Jahrhundert geboren wurden. Wir quatschen über Mangas und Filme. Ab und zu schicken wir uns ein paar Bilder zu, die die Jugendlichen lustig fínden. Für mich ist das alles super öde, aber leider die einzige Freizeitbeschäftigung, die ich habe. Nur zu sehr träume ich davon, mal einen einzigen Baum in real zu sehen. Von Niana weiß ich, dass sie vor kurzem goldene Hochzeit gefeiert hat. Ab und an schickt sie mir mal einen Gruß und ein Bild von ihr und ihrem Mann. In all den 50 Jahren ohne sie musste ich jeden Tag an sie denken. Und diese Gedanken zerreißen mich jeden Tag aufs Neue.
Ich weiß nicht, wie das Leben weitergeht. Vor allem weiß ich nicht, was es noch Neues für mich zu entdecken gibt. Ich weiß nicht einmal genau, ob ich irgendwann sterbe.