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Der Dicke
"Der Dicke"
Trist und grau hing der Himmel über den mehrstöckigen Wohnhäusern. Vor den Hauseingängen waren schmale, schlecht gepflegte Grünsteifen, auf denen Hundehaufen und die Reste des Schnees der letzten Woche lagen. Vier Stockwerke zählte das Haus vor ihm, vier Fensterreihen, die auf vier andere Fensterreihen auf der gegenüberliegende Straßenseite blickten. Die gesamte Gegend war in diesem Stil gebaut, Wohnblöcke auf deren Rückseiten verwahrloste Innenhöfe mit Spielplatzgeräten und Fussballplätzen aus harten Grant zu finden waren.
Hier stand er. Allein. Der feuchte Wind blies kräftig durch den künstlichen Korridor zwischen den Häuserreihen, drang durch seine Kleidung an den Körper und hätte ihn eigentlich frösteln lassen müssen. Doch dazu war er viel zu aufgeregt. Etwas neues, außergewöhnliches lag vor ihm. Etwas aufregendes. Bisher war in seinem Leben nie aufregendes passiert. Wie auch? Die meiste Zeit seiner Kindheit hatte er in seinem kleinem Zimmer verbracht. Vor dem Fernseher, vor dem Computer, mit Büchern oder Spielfiguren. Mit anderen Kindern hatte er fast nie gespielt. Er fürchtete sich vor ihnen.
Manchmal, da hatte er sich gewünscht etwas aufregendes erleben zu können. Mit seinen Eltern in den Urlaub fahren. Irgendwohin, ganz weit weg, so wie die anderen es taten. Aber dafür hatten sie kein Geld gehabt. Sein Vater war mit fünfzehn von der Schule abgegangen und hatte auf einem Schiff angeheuert, um die weite Welt zu sehen. Er war in Shanghai gewesen und in Kapstadt, in Hongkong und Rio. Jetzt war er Hilfsarbeiter im Hafen und schleppte Kisten. Niemand nahm mehr ungelernte Kräfte ohne Schulabschluss. Es war an seiner Mutter die Familie zu ernähren. Aber ihr Gehalt als Verkäuferin in einem Blumenladen reichte kaum aus. Wenn die Miete bezahlt und das Essen gekauft war, blieb nicht genug übrig, um etwas sparen zu können. Einmal da hatte seine Mutter ihn bei der Ferienfreizeit der Kirche angemeldet. Zwei Wochen Spanien, in einem Zeltlager mit anderen Jugendlichen. Er hätte nichts bezahlen brauchen. Kinder aus sozial schwachen Familien fuhren umsonst mit. Er war nicht hingegangen. Sie hätten ihn da ausgelacht, so wie als Kind schon, so wie immer.
Zeit seines Lebens war er dick gewesen. Dick und ungeschickt. Eine andere Erklärung brauchte er für sich nicht, warum er keine Freunde hatte. Ihre Welt war nicht seine und damit hatte er sich irgendwann abgefunden.
Jetzt war er fünfundzwanzig und lebte in einer kleinen Wohnung am Stadtrand, in einer Ghettosiedlung, ganz ähnlich der Gegend, in der er sich jetzt befand. Er lebte allein. Frau oder Freundin hatte er nie gehabt, auch keinen Sex, nicht einmal einen Kuss hatte er erleben dürfen.
Abend masturbierte er oft. Aber auch das verschaffte ihm immer weniger Befriedigung. Es war beinahe nur noch eine reflexartige Handlung vor dem Einschlafen. Früher hatte er danach oft geweint, weil er sich so sehr wünschte, eines Tages einmal dieses Gefühl mit einer echte Frau erleben zu können. Zumindest diese Sehnsucht war mit den Jahren versiegt.
Die Anzeige, die ihn hierher geführt hatte, hatte er in der Zeitung gelesen. Nicht nur einmal. Jeden Tag in den vergangene Monaten hatte sie dort gestanden, jeden Tag hatte sie ihm zugeflüstert der Verlockung nachzugeben. Gestern war es soweit gewesen. Eine weibliche Stimme am anderen Ende sagte ihm, wo er hinfahren musste. Bei Höhn klingeln. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Edyta würde auf ihn warten. Morgen, 17:30 Uhr.
Und hier stand er, vor der Hausnummer, die die Stimme ihm gesagt hatte. 34b.
„He, was ist nun?“, rief der Taxifahrer aus dem geöffnete Fenster. „Soll ich warten oder weiterfahren? Entscheiden sie sich mal!“
Er drehte sich langsam um, für einen Moment kam ihm der ältere Herr am Steuer des cremefarbenen Mercedes wie ein Wesen aus einen anderen Welt vor. Es fiel ihm schwer seine Gedanken zu ordnen.
„Nein, nein. Ich denke, dass es länger dauert.“
Der Taxifahrer nickte und grunzte eine Antwort, bevor er in Richtung des S-Bahnhofs davonfuhr.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der einzige Weg ging nach oben. In den zweiten Stock. Er klingelte bei Höhn. Es dauerte einen Moment bis die Antwort des Türsummers zu hören war. Das Treppenhaus war in weiß gehalten, der Boden mit grün-bläulichen Linoleum ausgelegt. Es roch nach Bohnerwachs und vor den Türen standen die Schuhe von kleinen Kindern.
Im zweiten Stock stand die linke Tür offen, ein bedrohlich aussehender Mann stand im Türrahmen und musterte ihn.
„Was suchen sie?“
„Wohnt Edyta hier?“, fragte er leise ohne dem Mann in die Augen zu blicken.
„Kommen sie rein. Gerade durch, zweite Tür links. Ich glaub, sie wartet schon.“
Seine Hände zitterten leicht und er spürte einen leichten Druck in der Magengegend, als er den schmalen Hausflur betrat, der beinahe im Dunklen lag. Nur gedämpftes Licht fiel aus den Türspalten rechts und links des Ganges. Einzig am Ende des Flures, dort wo Edyta auf ihn warten sollte, war es hell erleuchtet.
Leises Stöhnen und gleichmäßiges Keuchen drang aus den Zimmern, während er sich mit zittrigen Knien und fahrigen Schritten dem hellen Punkt näherte. Sein Herz klopfte ihn bis an den Hals und seine Händeflächen waren feucht von kalten Schweiß. Nervös betrat er das Zimmer, das von einer Deckenleuchte erhellt wurde. Der Raum war ganz in rot gehalten und karg eingerichtet. Ein großes Bett, mit vielen Kissen, ein Tisch, ein Stuhl. Es roch nach Raumspray.
Eine Frau in einem hellblauen Morgenmantel saß auf der Bettkante und rauchte eine langstilige Zigarette. Sie hatte lange, pechschwarze Haare und einen weißen Teint. Sie war nicht mehr jung, vielleicht dreißig, vielleicht älter. Er fand sie schön. Sein Herz klopfte noch mehr. Der Brustkorb tat ihm weh.
„Hallo“, sagte sie mit einem russischen Tonfall in der Stimme. Sie lächelte ihn an und kam auf ihn zu.
„Hallo“, murmelte er zurück.
„Wie hättest Du es denn gerne? Vorne, hinten, blasen?“
Seine Hände zitterten noch stärker und ein Kribbeln in seinen Lenden kündigte die wachsende Erregung an.
„Ich...“, stammelte er. „Ich weiß es nicht.“
Sie lächelte wieder, legte ihre Hand auf seine Brust. „Keine Sorge. Ich weiß, was du willst. Zieh dich einfach aus.“
Er nickte gefügig und zog hastig Hemd und Hose aus. Sanft drückte sie ihn auf das Bett. Ihre Hände stimulierten ihn und bescherten ihm ungeahnte Genüsse. Er wollte sie küssen, um seine Dankbarkeit dafür zu zeigen, aber sie stieß in zurück.
„Keine Küsse, Kleiner“, sagte sie und machte weiter.
Hatte er etwas falsch gemacht? Die Zurückweisung verwirrt ihn, aber ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Mit kundigen Fingern streifte sie ihm das erste Kondom seines Lebens über und führte ihn in sich ein. Ganz vorsichtig begann er sich zu bewegen.
In einem wohligen Schauer schloss er seine Augen. Er spürte in diesem Moment das pure Glück seinen Körper durchfluten. Der ersehnte Augenblick war endlich nahe, die Abzweigung in eine bessere Welt sichtbar. Er war glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben war er glücklich.
Er öffnete die Augen wieder und betrachtete sie. Ihr Körper, ihre Gesten verrieten Wollust, aber ihre Augen blieben matt. Ihre Augen sagten die Wahrheit. Alles war Lüge. Ein tausend Mal geprobtes und aufgeführtes Schauspiel. Da wurde ihm klar, dass auch sein kurzes Glück eine Lüge gewesen war. Wie konnte er etwas anderes erwartet haben? Er kam sich erbärmlich vor. Viel erbärmlicher als noch eine Stunde zuvor.
Der Akt dauerte nicht lange. Edyta verstand ihr Handwerk, das Schauspielern und den Geschlechtsverkehr. Er ejakulierte in das Kondom ohne auch nur die geringste Lust zu empfinden.
Sie kassierte 50 €. Er ging, ohne etwas zu sagen. Draußen regnete es. Er weinte Tränen, die niemand sah. Tränen die wohl auch niemanden interessierten. Vielleicht gab es für jemanden wie ihn einfach keine Abzweigungen. Unendlich müde trottete er zu Fuß durch den Regen zum Bahnhof.