- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.142
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Der dicke Hermann
Anne und ich waren über das Geländer der Kanalbrücke geklettert. Wir saßen auf dem Rand und ließen die Füße baumeln. Fünf Meter darunter lag das Wasser. Ich hatte Schiss, aber ich wollte nicht, dass sie es merkt.
„Auf drei?“, fragte ich.
„Warum ist eigentlich immer alles auf drei?“
Manchmal wunderte ich mich, wie sie jemals Spaß haben wollte, wenn sie sich ständig fragte, warum Dinge so waren, wie sie waren.
An jenem Tag saßen wir beide nicht auf der Brücke, um Spaß zu haben. Wir wollten springen, zum ersten Mal. Alle anderen in unserem Alter hatten es schon mal gemacht. Sie waren keine Kinder mehr. Anne und ich würden ewig welche bleiben, wenn wir nichts taten.
„Hast du eigentlich gar keine Angst?“, fragte ich.
„Nein.“ Sie sah mich an und verdrehte die Augen. „Mann, natürlich. Aber je länger wir hier oben sitzen und runtergucken, desto schlimmer wird es.“
Ich sah nach unten und sofort wieder hoch. Gott.
„Ich weiß. Aber ich meine nicht nur springen. Jetzt im Wasser zu sein, wo das gerade mit der Kuh war.“
Anne stöhnte. „Willst du mich verarschen?“
Ich zuckte die Schultern. „Komisch ist das doch schon.“
„Nein, ist es nicht. Die Wiese war nicht abgezäunt. Sie fällt rein, ertrinkt, ein Schiff fährt drüber, autsch. Wegen der Schiffsschraube war sie so kaputt.“
Als hätte es uns gehört, muhte ein Tier hinter der Böschung, die den Spazierweg entlang des Kanals von der Wiese trennte.
„Aber wenn keiner dabei war, weiß man es eigentlich nicht genau“, sagte ich. „Und wo ist eigentlich der Kanalschiffer, der drüber gefahren ist?“
„Der hat das gar nicht mitbekommen und ist weitergefahren. Oder er hat's mitbekommen und ist weitergefahren, weil er Angst hatte, dass er irgendwas bezahlen muss oder so. Oder dass er nicht mehr fahren darf. Mein Vater sagt, die trinken alle.“
Sie legte die Finger fest um die Betonkante und sah zum Himmel. „Wenn das einer wüsste, dass wir uns nicht nur vor dem Sprung fast in die Hose machen, sondern du auch noch damit anfängst. Überall auf der Welt brauchen die Mädchen was zum Singen beim Seilspringen.“
Eigentlich sangen sie es nicht. Es klang mehr wie ein Rap:
Der dicke Hermann, kugelrund
Sieht dich im Wasser, beißt dich und
Arme, Beine, sind weg, rot
Ist der Kanal und du bist tot
Außer Hitze und Mücken hing Musik in der Luft, Informer von Snow. Es kam von der nächsten Kanalbrücke, zweihundert Meter entfernt, wo die richtigen Teenager sich trafen, die schon fünfzehn oder sechzehn waren. Die Ältesten von ihnen kamen sogar mit dem Auto. Sie rauchten und küssten sich und wenn sie wollten, konnten sie Friedhof der Kuscheltiere 2 im Kino sehen, als wäre das nichts. In diesem Moment wollte ich einer von ihnen sein und einfach nur alles schon hinter mir haben. Sie planschten im Wasser und immer mal wieder, platsch, warf sich einer von der Brücke. Als wäre das nichts. Die Mädchen schrien beim Sprung, aber es war so ein Schrei wie in der Achterbahn. Sie hatten Spaß.
„Ich weiß auch, dass da nichts im Kanal ist.“ Ich ließ meine Stimme jetzt etwas tiefer klingen. „Nur-“
„Klar, ist da was im Kanal“, sagte Anne. „Aale und so. Sonst würden sich ja keine Angler dransetzen.“
„Ich meine nichts Gefährliches. Ein Hai oder so.“
„Ein ...“ Anne reckte die Arme zum Himmel, eine Geste der Verzweiflung. „Ein Hai kann bei uns nicht leben. Und in der Brühe da unten sowieso nicht. Der Kanal kommt ja auch nicht aus dem Ozean oder sowas. Die Nazis haben ihn gebaut. Oder irgendwie Leute kurz vorher.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Das weiß ich auch.“
Meine Oma hatte mal erzählt, darum haben sie den großen Fisch den dicken Hermann genannt. Als ein Bauer ihn das erste Mal gesehen hatte, schummerig wie eine Fata Morgana unter der Oberfläche, da hatte er im Dorf gesagt, er habe keine Ahnung, was es war, aber es war fett wie Göring. Hermann Göring, hatte ich inzwischen herausgefunden, war ein wichtiger Nazi gewesen. Ein wichtiger, dicker Nazi.
„Wenn du jetzt noch anfängst, an Haie zu denken, springst du heute nicht mehr“, sagte Anne. „Und wir haben es uns fest vorgenommen.“
Das gab mir ein gutes Gefühl im Bauch, dass sie da im Grunde gerade gesagt hatte: Allein trau ich mich auch nicht.
Ich versuchte zu verwandeln. „Wollen wir uns dabei bei der Hand halten?“
Anne sah konzentriert zur anderen Brücke, als wollte sie nochmal gucken, wie man es richtig macht. „Das ist mir zu kitschig.“
Hastig zog ich meine Finger zurück, kurz bevor sie ihre berührten. „Ja“, sagte ich. „Mir auch.“
Mein Herz hätte sich jetzt eigentlich wieder beruhigen müssen, aber beim Gedanken, in ein paar Sekunden in der Luft zu schweben wie ein Astronaut, wie es alle beschrieben, um nach einer Schrecksekunde die braune Suppe heranrasen zu sehen, Pustekuchen. Es schlug so wild, es musste da drin alle anderen Organe weich prügeln wie ein Fleischklopfer. Als ich sprach, zitterte meine Stimme.
„Also dann auf drei?“
Anne stöhnte. „Ich hab doch-“
„Fünf meinetwegen?“ Ich mochte den Gedanken, den Sprung so noch etwas hinauszuzögern. Jede Sekunde mit sicherem Beton unter dem Hintern zählte.
„Lass uns einfach springen“, sagte sie. „Dann geht's auch leichter, wenn wir nicht so einen Hermann davon machen.“
Sie tat so, als wäre es rausgerutscht, aber ich war nicht sicher. Schlau genug war sie, um so etwas mit Absicht zu sagen. Manche fanden das unheimlich oder doof, aber mir gefiel es, auch wenn ich mich mal ärgerte. Sie war wie Catwoman, und die ließ Batman manchmal wie einen Trottel aussehen. Batman! Mein Vater wusste nicht, was er von Anne halten sollte. Ich hatte ihn mal sagen hören, er sei nicht sicher, ob sie sich in ein paar Jahren, wenn das losgehe, überhaupt noch für Jungs interessierte.
Weil ich für Anne interessant sein wollte, sog ich Luft ein, als wäre es das letzte Mal. Dann stieß ich mich ab, wie ich es bei anderen gesehen hatte. Beim ersten Mal machten es fast alle aus dem Sitzen. Einen ordentlichen Schub brauchte es, wenn man so sprang, sonst riss die Brücke einem den Rücken auf oder man knallte mit dem Hinterkopf dagegen. Alles schon passiert, wenn nicht hier, dann zwei Dörfer weiter.
Aber ich machte alles richtig. Schwebte wie ein Astronaut. Mein Magen rotierte, auf eine gute Art. Als der Astronautenmoment vorbei war, kam das Wasser näher. Ich hörte Annes Stimme, hielt es für den Achterbahnschrei und wunderte mich, warum er leiser wurde, wenn sie doch mit mir fiel. Dann waren kurz alle Gedanken weg. Also wirklich: Alle. Platsch.
Der Klang der Welt war nicht mehr da. Wasser in den Ohren. Ich kniff die Augen fest zusammen. Es hieß, die dreckige Pampe im Kanal machte blind.
Als ich nicht mehr sank, fing ich an zu zappeln. Zurück zum Licht und zur Luft. Ich rechnete schon damit, zurück in die Welt zu stoßen, wiedergeboren als Mann, doch da war noch mehr Wasser und ich ruderte noch einmal kräftig mit den Armen. Immer noch Wasser! Jede Meldung über ein ertrunkenes Kind im Baggersee schoss mir durch den Kopf. Weil oben nicht von unten zu unterscheiden war, schwammen sie dem Grund entgegen. Dann war die Luft weg und der Weg zurück viel zu weit.
Ich wollte gerade schreien, da hatte ich es geschafft. Kein Druck mehr auf den Ohren. Ich wischte mir durchs Gesicht und riss die Augen auf. Anne rief meinen Namen vor Begeisterung. Bewunderung sogar. Jedenfalls dachte ich das zuerst. Aber warum war ihre Stimme immer noch so weit weg?
Ich sah hoch. Blinzelte gegen die heiße Junisonne. Anne hüpfte auf der Brücke herum, vor dem Geländer, an dem sie sich festhielt.
„Warum springst du nicht?“ Ich wollte es rufen, aber ich hatte die Puste noch nicht zurück.
Schlimm, verstand ich zuerst in Annes Antwort. Es war ihr zu schlimm, sie würde nicht springen. Die letzte Wasserblase in meinem Ohr platzte.
„Schwimm!“
Mein Blick ging in die Richtung, die ihr Finger wies. Sie zeigte auf etwas, das vom Ufer auf mich zukam. Eine Welle mit einem haarigen Buckel dahinter. Ich fuhr herum und kraulte, soweit ich mich aus dem Sportunterricht daran erinnern konnte. Eine vier hatte ich dafür bekommen. Ich schluckte das Wasser, in das die Binnenschiffer ihre Klos entleerten.
„Schneller, schwimm, schwimm!“, schrie Anne.
Die Welle kam von dem Ufer näher, das langsam abfiel und so immer tiefer ins Wasser führte. Ich schwamm auf die harte Kante der anderen Seite zu, wo die Boote hielten. Wie um alles in der Welt sollte ich dort rauskommen? Der sichere Boden lag zu weit über der Oberfläche, als dass ich mich mit einem Klimmzug aus dem Wasser hätte ziehen können. Ich versuchte, mich ein Stück aus dem Wasser zu katapultieren.
Es funktionierte nicht, aber ich trieb dadurch ein Stück nach rechts ab und ertastete einen Bogen in der Erde. Ich zog mich auf dessen Höhe. Es war nicht nur ein Bogen, es war ein Loch. Meine Füße ertasteten das andere Ende. Unten Wasser, oben nicht. Wie eine Grotte. Und das Wasser da drin war mit Sicherheit zu flach für einen Hai. Hoffte ich. Ich kroch hinein.
Drinnen wurde das Wasser immer flacher. Der kurze Tunnel führte aufwärts in eine Höhle, die nicht allzu tief unter der Wiese liegen konnte. Am gegenüberliegenden Ende dieser Luftblase untertage führte ein weiterer Tunnel aufwärts. Etwas Sonnenlicht kam dadurch herein. Viel sah ich nicht, aber was mir zwischen einer Coladose und einer nassen Bravo mit Edward Furlong auf dem Titel ins Auge stach, war die Ohrmarke einer Kuh. Das Ohr war noch daran.
Was hinter der Welle geschwommen war, folgte mir aus dem Kanal in den Tunnel. Hals und Oberkörper gehörten nicht mehr mir. Ich wollte einen Satz durch den matschigen Höhlenboden machen und durch den anderen Tunnel nach oben klettern, aber ich drehte mich um. Ich musste es wissen. Ich musste ihn sehen.
Zuerst erkannte ich nur den haarigen Buckel, dann hob es den Kopf aus dem Wasser und sah mich an. Es hatte lange Schneidezähne und Schnurrhaare so dick wie die Dreadlocks von dem Rage-Against-The-Machine-Typen.
Als es das Maul aufriss, löste sein Angriffsschrei meine Lähmung. Es war ein Quieken, so laut, dass es erst kitzelte und dann wehtat im Ohr. Ich rutschte durch den Schlamm der Höhle und trat Edward Furlong ins Gesicht. Hinter mir lauerte der Bewohner dieses Reichs, machte sich bereit, und ich wusste, jeden Moment würde das Platschen anfangen – Platsch! – wenn er sich durch den Tunnel zwängte, um mich zu fangen und mit seinen Hauern in Stücke zu hacken.
Im Tunnel, der nach oben führte, rammte ich die Finger in die weiche Erde, und als ich weit genug oben war, auch die Zehen. Meine Arme brannten erschöpft vom Schwimmen und ich konnte mich kaum halten. Ich wusste, gleich würde ich von unten gepackt werden. Anne rief meinen Namen.
Ich streckte einen Arm nach draußen und packte in einen Kuhfladen. Mein anderer Arm folgte. Ich zog mich hoch. Noch nie hatte ich die Wärme der Sonne so stark gefühlt wie jetzt auf meiner Haut voller Schlammschlieren. Bevor ich aufstand, rutschte ich von der Tunnelöffnung weg.
Anne stand oben auf der Brücke und winkte mir. Ich kam auf die Beine und stolperte über die Wiese und dann die Treppe hoch. Einmal knickte ich ein und schürfte mein Knie auf. Ein paar Mal drehte ich mich um, um zu sehen, ob da was aus dem Loch kam. Meine Beine waren so weich.
Oben sahen Anne und ich uns an, der Mund offen, der Blick durcheinander, als wären wir gerade mit dem Fahrrad hingeknallt. Sie wirkte genau so außer Atem wie ich.
„Das war er“, sagte ich. „Das ist der dicke Hermann. Es ist eine Ratte.“ So wie kurz zuvor, als ich nicht anders konnte, als mich umzudrehen, musste ich jetzt lachen. „Eine fette Ratte.“ Ich spuckte schmutziges Wasser auf den Boden und wischte mir einen Blutegel von der Brust.
Anne blickte nach unten. Meine Fresse, sie hatte Recht! Was hinderte den dicken Hermann eigentlich daran, uns hinterherzukommen, wenn er erst mal aus seiner Höhle war?
Ich griff ihre Hand. „Komm!“
Sie schüttelte den Kopf. „Das war eine Bisamratte.“
„Was?“
Noch nie erschien mir ein Augenblick unpassender für ihre Besserwissereien. Ich überlegte ernsthaft, ihr eine zu knallen.
Sie zog ihre Hand aus meiner. „Die fressen Pflanzen.“
„Bist du irre?“
„Sie wollte in ihren Bau.“ Anne deutete über das Geländer. „Sie ist nicht der dicke Hermann.“
Ich sah nach unten. Zunächst konnte ich keine Form in dem erkennen, was sich da unter der Oberfläche tat. Erst dachte ich, es wären viele, kleine Bewegungen hier und da. Kurz glitzerte die Sonne auf einem Teil des schuppigen Körpers, der sofort wieder verschwand. Was dort unten schwamm, reichte mindestens von einem Ufer zum anderen. Weder Anne noch ich hätten unsere Arme darum schließen können, denn es war nicht nur lang, sondern auch dick.
Sein Kopf kam aus dem Wasser. Die Kiefer mit Zähnen wie Schälmessern bissen zweimal kräftig auf den abgerissenen, unteren Teil der Bisamratte. Wasser spritzte. Es war kein Angriffsschrei gewesen, der hinter mir durch den Tunnel gehallt war.
Der Aal fror in seiner Bewegung ein, mit offenem Maul, ein Teil der Ratte trieb davon. Anne und ich starrten ihn an. Sein Auge war so groß wie eine Grapefruit.
Keine Ahnung, ob er uns auch sah. Ich glaube schon. Die schlängelnden Bewegungen hörten auf. Er ließ sich fallen, schwerelos. War immer weniger zu erkennen, als hätte der Kanal was Schlechtes geträumt. Drüben bei der anderen Brücke sprangen gerade zwei Mädchen. Sie schrien wie in der Achterbahn.