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Der Deal

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23.08.2018
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Der Deal

Es war ein ganz normaler Donnerstagabend. Und so wie eben an jedem normalen Donnerstagabend probte auch heute der Männergesangverein „Cantabile 1960“.
Insgesamt 15 Sänger waren noch übrig geblieben von immerhin 45 Aktiven. Aber das ist lange her – der Tod hatte in der Zwischenzeit viele von ihnen dahingerafft. Trotzdem gab es noch einige Gründungsmitglieder. Toni Bari war einer von den Alten, die jeden Donnerstag, jahrein – jahraus, eisern jede Probe besuchten, weil das Singen in einem Männergesangverein eben sehr viel Spaß macht. Und es ist gut für die Psyche, es steigert das Wohlbefinden und pflegt soziale Kontakte. Darüber hinaus konnte er seinem geliebten Hausdrachen Berta für einen Abend entfliehen. So machte er sich auch heute wohlgelaunt auf den Weg in das Probelokal.
Allerdings war ihm auf dem Weg dorthin plötzlich leicht unwohl geworden. Irgendetwas fühlte sich anders an als sonst. Es war ihm fast ein wenig unheimlich, als er da so zu Fuß unterwegs war. Dieses Gefühl war allerdings schnell verschwunden, als er mit seinen Sangesbrüdern die Stimme zum gemeinsamen Singen erhob.
Seit Jahren pflegten die alten Männer das deutsche Volksliedgut. Dass die Intonation immer schlechter wurde, störte niemand – ja, sie nahmen es einfach nicht wahr. Für sie war es das Wunderbarste, Lieder zu singen, die Erinnerungen an vergangene Zeiten weckten. Da kam es auf ein Vierteltönchen höher oder tiefer nun wirklich nicht an.
Nur einen Chorleiter konnte man damit jagen. Den gab es auch schon lange nicht mehr. Sie hatten es in der Vergangenheit mit mehreren Dirigenten probiert, aber die waren alle viel zu pingelig und liefen auch ganz schnell wieder davon. Vor gut zwei Jahren waren sie dazu übergegangen, sich vor dem Portrait ihres einstigen, geliebten und außerordentlich nachsichtigen Maestros zu versammeln, der es stets verstand, die Ohren auf Durchzug zu stellen, um glücklich und zufrieden das Häufchen Männer zu dirigieren. Dann fühlte er sich nämlich wie einer der ganz Großen der Welt. Und das machte ihn dermaßen glücklich, dass sämtliche Wahrnehmungen von desolaten Klangergebnissen durch dieses Gefühl ausgeschaltet wurden. So himmelten sie auch an diesem Abend das Bild ihres ehemaligen Dirigenten an, der leider allzu früh verstorben war und frönten mit Inbrunst dem Chorgesang.
Bis sich plötzlich die Tür ganz langsam öffnete. Eine hochgewachsene, dunkel gekleidete und schlaksige Person trat in den Raum und nahm in einer Ecke auf einem Stuhl Platz. Da sie diesen Fremden noch nie gesehen hatten, und er wegen seines Erscheinungsbildes die Aufmerksamkeit auf sich zog, verstummte sehr bald das Lied, dass sie gerade gesungen hatten. Toni fragte den Fremden:
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Vielleicht“, entgegnete dieser, „aber das wird sich noch zeigen.“ Er schob seinen Hut ein wenig aus dem Gesicht, so dass man erkennen konnte, dass er ebenfalls schon sehr betagt sein musste.
„Wenn Sie erlauben, möchte ich ein wenig zuhören“, setzte er hinterher. Der Fremde sprach dabei sehr langsam und deutlich, fast ein wenig aufdringlich. Nach einem Blick in die Runde seiner Mitsänger stellte Toni fest, dass niemand etwas dagegen hatte.
„Es könnte ja sein, dass er Anschluss sucht und mit uns mitsingen will“, hörte man einen Sänger mit seinem Nachbarn tuscheln.
„Vom Alter und vom Aussehen würde er auf jeden Fall passen“, tuschelte der Nachbar zurück. Also probten sie freudig weiter, in der Hoffnung, einen neuen Sänger zu gewinnen. Dass dies die letzte Probe von Toni Bari sein sollte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Nachdem sie drei weitere Lieder gesungen hatten, trennten sie sich, damit jeder rechtzeitig in sein Bett kam, um ausreichend zu schlafen.
Zuvor hatte sich der Fremde bedankt mit den Worten:
„Wir werden uns bald wiedersehen“, und verschwand in der Dunkelheit des Abends. Toni verstarb in dieser Nacht.
Er war zu Hause, wie immer nach der Probe, zu Bett gegangen, friedlich eingeschlafen und am Morgen nicht mehr aufgewacht. Natürlich waren alle sehr traurig über den Verlust, und keiner fehlte bei der Beerdigung.
Leo Teno wurde Nachfolger von Toni als Chorsprecher.
In der nächsten Probe bedauerte er nochmal den Verlust, worauf Johannes Legat sagte:
„Es ist zwar traurig, aber sehr bald trifft es jeden von uns. Also nutzen wir die verbleibende Zeit und singen, was das Zeug hält.“ Worauf sie einigermaßen freudig zu proben begannen. Plötzlich, nach dem vierten Lied, trat erneut der Fremde ein. Diesmal nahm er Platz auf einem Stuhl unmittelbar neben Leo Teno. Als der Fremde bemerkte, dass Leo erschrak, sagte er leise zu ihm:
„Ich möchte mich ein wenig unter euch mischen, damit ich euer Feeling spüren kann“, und schob grinsend hinterher: „Wenn es erlaubt ist.“
„Natürlich dürfen Sie“, sagte Leo verunsichert und sah zum ersten Mal die Augen des Fremden. Sie entsprachen in keinster Weise seinem restlichen Äußeren, das auf ein hohes Alter schließen ließ. „Fahren Sie ruhig mit Ihrer Probe fort, und lassen Sie sich nicht von mir stören“, forderte der Fremde die Sänger mit seiner klaren Stimme zum Weitermachen auf.
Leo fielen wieder seine Augen auf, aus denen ein kraftvoller, sowie unheimlicher Blick auf ihn fiel.
Punkt halb zehn war die Probe zu Ende. Alle standen von ihren Stühlen auf, um nach Hause zu gehen. Nur Leo blieb in sich zusammen gesunken sitzen. Entsetzt stellten seine Freunde fest, dass er tot war. Der Fremde war verschwunden.
Sie schauten nach irgendwelchen Verletzungen an ihrem Freund, aber er war völlig unversehrt. Der herbeigerufene ärztliche Notdienst stellte als Todesursache Herzversagen fest. Als der Arzt beim Erstellen seines Berichtes auf die Uhr sah, die an der Wand hing, um den Zeitpunkt des Todes zu ermitteln, stellte er fest, dass diese auf 21.15 Uhr stehengeblieben war.
In der darauffolgenden Woche betraten die Männer ihren Proberaum und versammelten sich, wie gewohnt, vor dem Bild ihres Maestros. Plötzlich bemerkten sie, dass das Abbild ihres Meisters aus dem Rahmen verschwunden war.
„Hier geht irgendwas nicht mit rechten Dingen zu“, stellte Karl Basso, der neugewählte Sprecher, entsetzt fest.
„Der Raum ist die ganze Woche über geschlossen, der Schlüssel bei mir zu Hause.“
„Meinst du, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Fremden und den Dingen, die sich hier abspielen?“, fragte Werner Osti.
„Weiß ich nicht“, antwortete Karl und nahm aus seiner Hosentasche eine neue Batterie für die Wanduhr.
Die nächsten Proben verliefen normal und unspektakulär. Doch dann geschah wieder etwas Seltsames: Plötzlich, inmitten eines getragenen ruhigen Liedsatzes, den der Chor gerade mit Hingabe sang, ertönte aus der Wanduhr ein tiefer Gong, die Zeiger drehten sich wie von Geisterhand auf 21.25 Uhr und bewegten sich nicht mehr weiter.
„Komisch“, bemerkte Hans Pian, „wie kann es sein, dass die Uhr auf 21.25 Uhr stehenbleibt, wir haben gerade 20.05 und vorher ist sie gelaufen?“ Und Werner fügte hinzu: „Eine neue Batterie ist auch in der Uhr.“
Und dann sahen alle zu Karl hin. In seinem Gesicht stand das nackte Entsetzen.
Wie versteinert stammelte er:
„Ich will noch nicht sterben, ich bin erst 83 und möchte noch viele Jahre hier singen.“
„Beruhigt euch“, vermeldete Werner, „ein wichtiger Baustein im Gefüge fehlt: Der Fremde.“
„Stimmt", fügte Hans hinzu, „wir sollten jetzt weiter proben.“
Und das taten sie auch. Sie sangen zwei ruhige Volkslieder und entspannten sich dabei zusehends.
Plötzlich erhob sich Karl von seinem Platz und entschuldigte sich mit den Worten:
„Ich hab gedacht, dass ich es noch bis zum Ende der Probe aushalten kann, aber es geht nicht. Also gehe ich jetzt mal für große alte Jungen.“ Kurz nachdem er den Raum verlassen hatte, hörte man ein lautes Gepolter vor der Tür.
Panikartig stürzten alle hinaus, um zu sehen, was da geschehen war: Karl lag leblos auf dem Boden. Er war die Treppe hinabgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Außer ihm und den Chorkollegen war niemand zu sehen.
„Was zum Teufel geht hier vor“, schrie Walter Subdo entsetzt. Einige brachen in Tränen aus und gingen zurück in den Proberaum. Hans verständigte den Notdienst und die Polizei. Die Todesursache war der Treppensturz. Fremdeinwirkung ausgeschlossen. Es war ein tragischer Unglücksfall.
Schweigend nahmen alle Männer im Proberaum Platz. Und dann durchfuhr sie das eiskalte Grauen: Mit gebrochener Stimme hörte man Franz Kreuz stammeln:
„Schaut die Uhr an, es ist genau fünf Minuten vor Probenende geschehen“
Und dann ging ein fürchterlicher Aufschrei durch den gesamten Chor: In dem Bilderrahmen an der Wand war wieder ein Portrait – allerdings war darauf nicht ihr geliebter Maestro zu sehen. An seiner Stelle war der Fremde abgebildet und schien sie unvermittelt anzuglotzen.
Wortlos verließen sie den Raum und gingen betreten nach Hause.
In der nächsten Probe war es der unscheinbare, aber liebenswerte Fritz Prim, der plötzlich die Augen verdrehte und lächelnd hauchte:
„Lebt wohl, ich bin 93 und muss jetzt einfach gehen.“ Werner und Hans konnten ihn gerade noch auffangen und somit verhindern, dass er auf dem Boden aufschlug. Als sie ihn hingelegt hatten, öffnete sich die Tür.
„Seine Zeit war gekommen.“ Der Fremde hielt eine Taschenuhr hoch, die das exakte Datum und die Uhrzeit anzeigte.
„Ich möchte mit euch reden“, fuhr er fort. „Meine Aufgabe im Universum ist es, den Tod für denjenigen zu vollstrecken, dessen Zeit abgelaufen ist.
Ich habe einige von euch in den letzten Jahren einkassiert. Das ging nicht anders. Nun seid ihr nur noch elf Sänger. Und“, er schaute auf seine Uhr, „so wie das hier aussieht, wird es diesen Chor nicht mehr lange geben.“ Fast ein wenig traurig fuhr er fort: „Ich habe Mitleid mit euch, weil ich die Chormusik sehr liebe und verehre, genauso wie ihr auch. Seit über hundert Jahren wünsche ich mir nichts sehnlicher, als einen Männerchor zu leiten. Durch den Lauf der Dinge war ich in letzter Zeit eben öfter zu euch berufen worden. Dadurch konnte ich den tragischen Schwund an Stimmen mit- verfolgen. Und das Ende naht nun bald.“
Nach einer Pause fuhr er hoffnungsvoll fort: „Aber ich habe in meiner Mission einige Freiheiten, ich kann bestimmte zeitliche Abläufe eigenständig koordinieren. Und das“, seine Stimme wurde ein wenig triumphierend, „gibt mir die Möglichkeit, einen Deal mit euch zu machen.“
Fassungslos schauten die elf alten Männer ihrem Gegenüber in die Augen und auf den Mund.
„Bist du der Tod?“, fragte Paul Tonleit den Fremden. „Ja, ich bin der Tod“, antwortete dieser.
„Und du kannst tatsächlich ein wenig am Rädchen drehen?“, wollte Walter wissen.
„Ich muss jeden von euch irgendwann mitnehmen, aber ich kann die Dinge ein wenig hin und herschieben“.
Und fast einstimmig war zu hören:
„Und wie wird dieser Deal aussehen?“
„Ich setze den auf der Uhr vorgegebenen Zeitpunkt eures Ablebens auf unbestimmte Zeit aus“, antwortete der Tod, und er fuhr mit einer strenger werdenden Stimme fort: „Dafür erwarte ich von euch die Akzeptanz folgender Regeln:
Ich bin der Boss, was ich sage, wird gemacht. Eine schlechte Interpretation und falsche Intonation dulde ich nicht. Es wird auf höchstem Niveau gearbeitet.“ Und lächelnd fügte er hinzu: „Ihr werdet es nicht bereuen, ihr werdet eine wunderbare Zeit erleben.“
„Und wenn ich nicht sauber intonieren kann?“, fragte ängstlich der 96-jährige Herbert Diminu. Souverän kam die Antwort vom Maestro:
„Dann wirst du es eben lernen."
„Aber“, entgegnete Herbert leise, „wenn ich den ganzen Stress einfach nicht ertrage und mich dezent zurückhalte, so dass es nicht stört, wenn ich falsch singe?“ Worauf der Tod erhaben antwortete:
„Dann setzte ich einfach die Uhr in der Abteilung Herbert Diminu wieder in Gang, und für dich ist danach alles wieder beim Alten.“
Nach diesen Worten war Ruhe im Saal.
„Gib uns eine Woche Bedenkzeit“, warf Walter nach einigen Minuten des Schweigens in den Raum.
„Ihr müsst euch sofort entscheiden“, entgegnete der Tod stirnrunzelnd, „wenn ihr das nicht tut, wird euch meine Uhr eines Besseren belehren.“ Ihnen allen wurde klar, dass sie keine Wahl hatten. Entweder sterben, und das bald, oder singen. Und wieder kam es wie aus einem Mund:
„Wir werden singen.“
Der Tod hatte ein Lächeln im Gesicht und antwortete:
„Dann bis nächste Woche.“
An diesem Abend kamen alle ohne Ausnahme wohlbehalten zu Hause an und erfreuten sich am nächsten Morgen kraftvoller Frische und ausgezeichneter Laune.
Die darauf folgenden Proben waren allerdings alles andere als entspannend. Der Chef war unerbittlich, indem er höchste musikalische Qualität einforderte. Wenn ein Tönchen auch nur ein ganz kleines bisschen von seiner absoluten Frequenz abwich, wurde sofort angehalten und solange gefeilt, bis es einhundertprozentig war. Außerdem musste ständig einer alleine singen, und es wurde dabei an seinen sängerischen Künsten gearbeitet und auf Genauigkeit bestanden bis zum Exzess. Alle stöhnten, aber sie hatten keine Wahl, wollten sie noch ein wenig länger singen, als die ihnen anberaumte Zeit es zulassen würde.
„Du brauchst einen Namen“, forderte der neue Sprecher Josef Glissan vom Chef. Und seinen ganzen Mut zusammenfassend fügte er hinzu: „Und du musst Deine Garderobe ändern. Kein Chorleiter steht in so schäbiger Kleidung vor seinen Musikern und schon dreimal nicht bei einem Konzert.“
Der Meister errötete zart für einen kurzen Moment, aber die Röte wich in Sekundenschnelle wieder der hellen Gesichtsfarbe, und er entgegnete souverän:
„Du hast Recht, mein Name wird sein: Oskar Dengelstein, und um das andere macht euch keine Gedanken, das ist meine Sache.“
In der darauf folgenden Woche stand ein mit Jeans und Turnschuhen bekleideter Meister vor seinen Sängern, der trotz seines makaberen Aussehens durchaus sympathisch wirkte.
„Zufrieden?“, zischte er.
„So fällst du wenigstens nicht so sehr auf“, sagte Franz, und sie fingen sofort mit der Probe an.
Nach weiteren sechs Wochen intensiver Probenarbeit hatte sich ein Wandel vollzogen. Der Chor war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Intonation war lupenrein sauber und die Interpretationen von höchster Qualität. Außerdem hatten sie ihr Repertoire um einige Genres erweitert.
Aber nicht nur dies. Alle hatten viel mehr Freude am Musizieren bekommen – es machte richtig Laune. Auch der Maestro war schon sehr zufrieden.
Und dann gab es noch die schier unglaubliche Sache – nämlich, dass sich der allgemeine Zustand der Sänger dramatisch verändert hatte:
Bei fast allen waren die Hautfalten geglättet, Herbert und Werner fuhren wieder mit dem Fahrrad herum, Josef hatte mit dem Kegeln begonnen, und Hans war wegen draufgängerischen Autofahrens bereits dreimal von der Polizei verwarnt worden.
Einige Bewohner dieser Kleinstadt, die Schauplatz des Geschehens war, wunderten sich schon ein wenig über das, was da bei den elf Männern zu beobachten war.
Und es wurden Stimmen laut, die behaupteten, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging.
Dann kam das erste Konzert unter der Leitung von Oskar Dengelstein. Durch die äußeren Auffälligkeiten der Chormitglieder waren viele Leute aufmerksam geworden und füllten somit den Gemeindesaal bis auf den letzten Platz.
„Du bist perfekt gestylt“, stellte Walter fest, und Oskar entgegnete:
„Natürlich, oder was habt ihr denn gedacht?“
Fröhlich gelaunt gaben sie ihr Konzert, welches ein großer Erfolg wurde. Tosender Applaus, der drei Zugaben einforderte, zeigte die Begeisterung des Publikums.
Allerdings wurde die euphorische Stimmung ein wenig eingetrübt, denn man hatte drei Todesfälle im Publikum zu beklagen. Die Ehefrau von Franz Kreuz, der Bruder von Walter Subdo und der Schwager von Hans Pian hatten während des Konzertes still und unbemerkt das Zeitliche gesegnet. Da sie alle drei fast hundert Jahre alt waren, wurde das Geschehen von der breiten Masse als Sterben in angenehmer Atmosphäre deklariert. Die Männer vom Chor haderten allerdings mit ihrem Chef, aber tun konnten sie nichts.
Bald sollte sich herausstellen, dass dieses Konzert der Anfang einer langjährigen Erfolgssträhne war. Die Schönheit dieses Klangkörpers gepaart mit der Tatsache, dass fast alle Sänger über 90 Jahre alt waren, hatte sich schnell herum gesprochen und zog immer weitere Kreise.
„Josef Glissan“, begann der Moderator sein Interview kurz vor Ende der Übertragung eines Konzertes beim Fernsehen, „wie erklären Sie dieses Phänomen? Fast alle von ihnen sind über 90 Jahre alt und so leistungsfähig, dass es einem unheimlich wird, wenn man sie sieht und hört." Und ein wenig witzelnd fügte er hinzu: „Haben Sie da irgend ein Wundermittel oder sogar sowas wie einen Pakt mit irgendwas?“
Josef erschrak. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
„Zugegeben“, fing er an zu stottern, „normal ist das nicht gerade, aber….aber …wir haben“, er rang nach Luft, „wir haben da einen……neuen Chef…….der….“
Dann war das Bild auf den Fernsehmonitoren verschwunden.
„Aus gegebenem Anlass müssen wir leider die Übertragung abbrechen. Wir bitten um Ihr Verständnis“, war von der Sprecherin, die nun eingeblendet war, zu hören.
„Das war anders nicht zu machen“, beteuerte der Maestro in der nächsten Probe, „und wer von euch in Zukunft den Mund über Gebühr hinaus öffnet, bekommt es ebenfalls mit der Uhr zu tun“, fügte er drohend hinzu.
„Wenn unser Abkommen an die Öffentlichkeit gelangt, platzt der Deal, und das will ja keiner“, sagte er entschuldigend.
Diese und noch zwei weitere Proben waren von Betroffenheit gezeichnet. Aber dann wurden sich alle wieder der Vorteile, die sie hatten, bewusst, und die Erfolgskurve ging weiter steil nach oben. Es gab dann und wann bei Konzerten ein paar Tote. Da die Dahingeblichenen allerdings immer sehr alt waren, vermerkte niemand etwas Anstößiges am Ableben dieser Leute.
Bald war der Chor bis weit über die Landesgrenze berühmt und von Veranstaltern heiß begehrt. Immer wieder zeigte sich das Publikum begeistert und auch verwundert über den Leistungsstand und die jugendliche Frische dieser immerhin fast hundertjährigen Männern, und bald kam niemand mehr auf den Gedanken, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Die Leute erfreuten sich vielmehr an der Sensation dieser Gegebenheit.
So war auch die Konzertreise quer durch Italien ein grandioser Erfolg. Am vorletzten Abend der Tournee forderte das total begeisterte Publikum sechs Zugaben. Allerdings waren die Sänger anschließend ein wenig müde.
Nach einem ausgiebigen Frühstück am nächsten Morgen traten sie die Rückreise in Richtung Heimat an. Sie bunkerten ausreichend Bier und Wein in ihrem luxuriösem Reisebus – längst ließ ihr Gesundheitszustand wieder alle Sünden vergangener Tage zu. Und das genossen sie in vollen Zügen.
Die zehn Männer waren während der Fahrt in ausgezeichneter Laune. Sie erfreuten sich an ihren reanimierten Bier -und Weinflaschen. Sie sangen die ganze Zeit ausgelassen und laut. Und sie genossen es, seit langer Zeit mal wieder so richtig zwischen den Ganztonschritten hin und her zu schaukeln. Der Maestro war nämlich nicht da, drum konnte er es auch nicht hören. Er hatte gesagt, dass er noch eine Woche in Italien zu tun hat.
Irgendwann waren alle müde, und nachdem der Letzte eingeschlafen war, war es ruhig im Bus. Nur das Motorengeräusch war zu hören, während sich der Luxusliner durch 46 Serpentinen den Alpenpass hinauf schlängelte. Der Busfahrer, der vom Lärm der letzten zwei Stunden genervt war, atmete erleichtert auf, als er den Scheitel des Passes erreicht hatte. Wieso er die Passstraße genommen hatte, wusste er nicht. Durch den Tunnel wäre es jedenfalls schneller gegangen. Wahrscheinlich hatte ihn der Lärm dieser Männer zu sehr abgelenkt, und er hatte einfach nur die falsche Abbiegung genommen. Aber nun war es egal.
„Jetzt noch die Abfahrt und dann geht es entspannt über die Autobahn weiter", dachte er.
Aber vor dieser letzten Etappe musste er noch einem menschlichen Bedürfnis nachgeben. Er parkte den Bus in der Parkbucht rechts von der Straße und begab sich an das hintere Ende seines Fahrzeuges zum Pinkeln.
„Ich lasse den Motor besser laufen“, sagte er zu sich, „sonst wachen die auf einmal auf, und dann beginnt wieder dieses fürchterliche Gegröle.“
Als er seine Hose zuknöpfte und sich langsam vom hinteren Ende des Liners in Richtung vorderer Eingangstür bewegte, glaubte er einen Schatten zu sehen, der eilig in den Bus huschte.
„Halluzination wegen Müdigkeit“, sprach er wieder zu sich.
Im selben Augenblick wurde er eines Besseren belehrt. Mit dem typischen Zischen, dass beim Verschließen der Türen bei Reisebussen zu hören ist, war ihm klar, dass der Schatten keine Halluzination war. Der Bus setzte sich rasch in Bewegung, nach der Beschleunigung und der Fahrweise zu urteilen, durch einen Profi am Steuer.
„Um Gottes Willen, was geschieht da“, schrie er verzweifelt hinterher. Hilflos musste er zusehen, wie der Bus immer schneller werdend hinter der nächsten Kurve verschwand.
Panikartig rannte er hinterher, doch als er atemlos an der Biegung ankam, an der der Bus verschwunden war, gab er auf. „Aussichtslos“, murmelte er vor sich hin. Eine Weile hörte er noch das Geräusch des Fahrzeuges, dann war es still. Er setzte sich auf einen Stein am Straßenrand, holte sein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nummer ein.
Als plötzlich, wie aus dem Nichts, eine Stimme die Ruhe unterbrach, „nicht nötig, Ihr Liner steht unversehrt hinter der nächsten Kurve in der Parkbucht“, erschrak er sich fast zu Tode. Vor ihm stand ein einsamer, hochgewachsener Wanderer im schwarzen Umhang und mit Hut bekleidet, der ihn anschaute und fortfuhr: „Suchen Sie nicht nach Ihren Fahrgästen, Sie werden sie nicht finden“, und fast ein wenig traurig setzte er hinterher: „Es geht ihnen gut, da wo sie jetzt sind.“
Nach einigen Schritten in Richtung Gipfel, drehte er sich noch einmal um:
„Nichts für Ungut – wir sehen uns später. Und noch ein Tipp: Gehen Sie in einen Männergesangverein singen. Das verlängert das Leben.“ Damit verschwand er in der Dunkelheit.

 

Hallo @August Jopasi

seit 3 Tagen steht Deine Geschichte nun ohne Kommentar hier, da muss ich nun doch mal etwas dazu sagen :) Allerdings bin ich hin und her gerissen, was ich Dir zu DeinemText schreiben soll.

Zum Einen ist Deine Idee nett, das Setting ist stimmig, der Text liest sich flüssig, ist strukturiert aufgebaut - super. Andererseits nimmt mich der Text nicht mit, wirkt irgendwie langweilig. Wobei "langweilig" auch das falsch Wort ist - mir fällt nur gerade kein besseres ein.

Vielleicht liegt es daran, dass der eigentliche Protagonist Deiner Geschichte der Fremde ist, die Geschichte aber so geschrieben ist, als ob jemand im Chor, oder der Chor selbst der Protagonist ist.
Und dabei fand ich es nicht störend, dass die meisten Deiner Wendungen vorhersehbar sind - zumindest für Leute, die schon einige "der Tod spielt mit dem (Ab)Leben"-Geschichten gelesen haben. Insofern bin ich etwas ratlos, was ich Dir als Tipp für den Text mitgeben kann - und das finde ich total schade.
Vielleicht vergleiche ich aber auch zu sehr mit den Tod-Geschichten von Nail Gaiman, wobei das süße kleine gothic-Mädel als Personifizierung des Todes von der Idee her kaum zu toppen ist ;)

Aber: gern gelesen!
viele Grüße
pantoholli

 

Hallo @August Jopasi

seit 3 Tagen steht Deine Geschichte nun ohne Kommentar hier, da muss ich nun doch mal etwas dazu sagen :) Allerdings bin ich hin und her gerissen, was ich Dir zu DeinemText schreiben soll.

Zum Einen ist Deine Idee nett, das Setting ist stimmig, der Text liest sich flüssig, ist strukturiert aufgebaut - super. Andererseits nimmt mich der Text nicht mit, wirkt irgendwie langweilig. Wobei "langweilig" auch das falsch Wort ist - mir fällt nur gerade kein besseres ein.

Vielleicht liegt es daran, dass der eigentliche Protagonist Deiner Geschichte der Fremde ist, die Geschichte aber so geschrieben ist, als ob jemand im Chor, oder der Chor selbst der Protagonist ist.
Und dabei fand ich es nicht störend, dass die meisten Deiner Wendungen vorhersehbar sind - zumindest für Leute, die schon einige "der Tod spielt mit dem (Ab)Leben"-Geschichten gelesen haben. Insofern bin ich etwas ratlos, was ich Dir als Tipp für den Text mitgeben kann - und das finde ich total schade.
Vielleicht vergleiche ich aber auch zu sehr mit den Tod-Geschichten von Nail Gaiman, wobei das süße kleine gothic-Mädel als Personifizierung des Todes von der Idee her kaum zu toppen ist ;)

Aber: gern gelesen!
viele Grüße
pantoholli

Hallo pantoholli/QUOTE

Hallo pantoholli,
Vielen Dank für Deinen Komentar,
das mit dem Protagonisten ist ein interessanter Gedanke, über den ich nachgedacht haben. Der Chor braucht den Dirigenten, um Musik authentisch zu interpretieren - der Dirigent braucht den Chor, um Musik darstellen zu können, sozusagen sind die Sänger sein Instrument. Jeder lebt von jedem.
Es freut mich, dass Du die Geschichte gerne gelesen hast.
Liebe Grüße
August Jopasi.

 

Hallo August Jopasi,
ich mag die Geschichte. Gestolpert bin ich jedoch über zwei Stellen:

Dass genau ab dem heutigen Tag dramatische Veränderungen im Leben der Chormitglieder eintreten sollten, ahnte noch niemand.
und
Doch schon sehr bald sollte die Geschichte einen Verlauf nehmen, den sich keiner der Männer wünschte.
Es geschah am Ende einer Konzertreise quer durch Italien, die wie gewohnt, außerordentlich erfolgreich war.
.
Die nehmen der Geschichte die Spannung, da das "unerwartete Ereignis" angekündigt und die Überraschung genommen wird.
Die erste Stelle nimmt den Fokus von der Geschichte des Sängers und richtet das Augenmerk auf den Chor an sich. Der - eigentlich - überraschende Tod ist aus dem Zentrum der Geschichte geraten.

Bei der zweiten Stelle war mir sofort klar, dass alle sterben würden. Das war schade, weil ich beim Lesen noch keine Spekulation über das Ende angestellt hatte, aber durch diese Andeutung dazu gezwungen wurde.

Ansonsten hat die Geschichte für mich gut funktioniert, einige Stellen könnten noch gekürzt und flüssiger gestaltet werden. Die Erfolgsgeschichte des Chores könnte z. B. etwas kompakter sein.
Du könntest überlegen, ob du den Charakter des Todes etwas mehr Form geben möchtest, er kommt, für meinen Geschmack, etwas zu menschlich und hemdsärmelig daher.

Grüße
DHF

 

Hallo August Jopasi,
ich mag die Geschichte. Gestolpert bin ich jedoch über zwei Stellen:


und

Die nehmen der Geschichte die Spannung, da das "unerwartete Ereignis" angekündigt und die Überraschung genommen wird.
Die erste Stelle nimmt den Fokus von der Geschichte des Sängers und richtet das Augenmerk auf den Chor an sich. Der - eigentlich - überraschende Tod ist aus dem Zentrum der Geschichte geraten.

Bei der zweiten Stelle war mir sofort klar, dass alle sterben würden. Das war schade, weil ich beim Lesen noch keine Spekulation über das Ende angestellt hatte, aber durch diese Andeutung dazu gezwungen wurde.

Ansonsten hat die Geschichte für mich gut funktioniert, einige Stellen könnten noch gekürzt und flüssiger gestaltet werden. Die Erfolgsgeschichte des Chores könnte z. B. etwas kompakter sein.
Du könntest überlegen, ob du den Charakter des Todes etwas mehr Form geben möchtest, er kommt, für meinen Geschmack, etwas zu menschlich und hemdsärmelig daher.

Grüße
DHF

Hallo DHF,
vielen Dank für Deine Anregungen.
Ich habe genau über die zwei Stellen, von denen Du denkst, dass sie der Geschichte die Spannung nehmen, schon beim Schreiben gedacht, ob ich sie lieber weglassen soll.
Und jetzt reklamierst Du genau diese zwei Sätze.
Ich werde eine entsprechende Überarbeitung machen, weil ich denke, dass Du Recht hast.
Auch über die anderen Punkte, die Du angesprochen hast, werde ich nochmal nachdenken.
Viele Grüße
A.J.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @August Jopasi,

bei der Form fällt mit erstmal auf, dass nahezu jeder Satz unnötigerweise einen eigenen Absatz hat. Sprachlich hat die Geschichte für mich so den Ton französischer Filme, sowas modern Märchenartiges, das passt auch ganz gut, finde ich. Allerdings verhaust du dich an ein paar Stellen (s.u.).

Müsste ich es einem Genre zuordnen, würde ich es eine schwarze Komödie nennen. Naturgemäß sitzt nicht jeder Gag, einige sind auch albern oder platt. Und dass der Bus im Finale vom Den-Abhang-runterfallen explodiert wie in einer Krimiserie aus den Achtzigern ... naja.

Insgesamt fand ich Idee und Umsetzung aber skurril genug, um dranzubleiben. Mit gefiel das, dieser Deal, auch wenn ich glaube, dass die Generation Männergesangverein eher ganz klassisch einen Vertrag abschließen würde. Was mir ein bisschen fehlte, war eine Hauptfigur aufseiten des Chores. Ohne ist es manchmal ein bisschen schwierig, der Handlung zu folgen.


der Männergesangverein „Cantabile 1960“

der Männergesangverein „Cantabile 1960“.


waren aus einstiger Zeit noch übrig geblieben von immerhin 45 Aktiven. Aber das ist lange her

"aus einstiger Zeit" klingt geschwurbelt und überflüssig und außerdem stolpern die Zeiten.


Toni Bari

Der Name klingt irgendwie nicht nach einem Deutschen um die 80.


Weil das Singen in einem Männergesangverein eben sehr viel Spaß macht.

Klingt unvollständig, würde ich mit Komma zum Satz davor verbinden.


Darüber hinaus konnte er seinem geliebten Hausdrachen Berta für einen Abend entfliehen.

"Geliebter Hausdrache" ist so haha, zu viel erklärt, durch das "entfliehen" ist ja klar, was Sache ist. Ich persönlich würde noch mehr Understatement vorziehen und einfach sagen, nicht zuletzt war er deshalb gern beim Singen, weil Berta dort nicht war.


So machte er sich auch heute wohlgelaunt auf den Weg in das Probelokal wie eh und je.

"wie eh und je" hängt da so komplett überflüssig hinten dran.


Vor gut zwei Jahren gingen sie dann dazu über

Vorvergangenheit, waren sie dazu übergegangen.


Dann fühlte er sich nämlich an wie einer der ganz großen der Welt.

Er fühlte sich wie einer von denen, anfühlen ist was anderes.


Dann fühlte er sich nämlich an wie einer der ganz großen der Welt. Und das machte ihn dermaßen glücklich, dass sämtliche Wahrnehmungen von desolaten Klangergebnissen durch dieses Gefühl ausgeschaltet wurden.

So ähnlich wie das "weil". Ich bin zwar auch Fan von kurzen Sätzen, aber mit Komma fließt es besser, finde ich.


So himmelten sie auch an diesem Abend das Bild ihres ehemaligen Dirigenten, der leider allzu früh verstorben war, an

Trick, um so stakselige Einschübe zu vermeiden: "Dirigenten an, der leider". Das "der" kann sich ja auf gar nichts anderes beziehen, darum stolpert man auch nicht, wenn da noch ein Wort mehr kommt.


Da sie diesen Fremden noch nie gesehen hatten

Auch das liest sich als alleinstehender Satz unvollständig.


„Vom Alter und vom Aussehen würde er auf jeden Fall passen“, tuschelte der Nachbar zurück.

Das klingt wie die Wertung des Autors oder eines Lesers, nicht wie etwas, das diese Männer über sich selbst sagen.


Das dies die letzte Probe von Toni Bari sein sollte

Dass


Nachdem sie drei weitere Lieder gesungen hatten, trennten sie sich, damit jeder rechtzeitig in sein Bett kommt

Zeit


worauf ein junger 79-jähriger sagte:

Kalauer "junger". Generell finde ich das nicht so gut, wenn eine Geschichte sich über ihre Figuren lustig macht.


Also nutzen wir die verbleibende Zeit und singen was das Zeug hält.

singen, was


schob grinsend hinterher –„ wenn es erlaubt ist.“

schob grinsend hinterher: "Wenn es erlaubt ist.“

Komisch“, bemerkte Hans Pian „wie kann es sein, dass die Uhr au

Pian. "Wie ..."


Und dann sahen alle zu Karl hin.

hin raus


füllten somit den Gemeindesaal bis auf den letzten Platz.

Klassiker: Warum blieb der frei?


Die Männer vom Chor haderten allerdings mit ihrem Chef, aber tun konnten sie nichts.

"des Chores" klingt schöner, und "allerdings" raus, doppelt gemoppelt mit "aber"


Viele Grüße
JC

 

Hall Proof,
vielen Dank für Deine Antwort.
Ich kann damit einiges anfangen, besonders mit den Fehlern und einigen Formulierungen.
Viele Grüße
A.J.

 

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