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Der Davids-Clan: Hausbesuch
Gerade schloss Kara ihre Wohnungstür auf, während ihre Gedanken noch um die heutigen Interviews kreisten und sie bereits die Aufgaben auswählte, denen sie sich morgen früh als erstes widmen würde. Im Flur begann sie, ihre Jacke aufzuknöpfen, als sie den Mann erblickte, der in ihrem Wohnzimmer im Sessel saß, halb von ihr weggedreht, sodass sie das Tattoo aus geometrischen Formen im Nacken seines kurzgeschorenen Kopfes sah, das sie an einen Edelstein erinnerte. Das Tattoo des Davids-Clans. Maximilian Davids höchstpersönlich.
Rasche Schritte auf dem Flur. Ein junger Mann mit Augenringen und dem Schatten eines Dreitagebarts - Sam bestimmt, Max' rechte Hand - griff nach ihrer Schulter, um sie in die Wohnung zu schieben.
Kara schrie auf. Das Knie hochgerissen traf seine Weichteile. Sie passierte ihn, lief die Treppe hinab.
Treppab, Kurve, Herzklopfen. Treppab, Schlittern mit der schwitzigen Hand am Geländer. Oben kurzes Schmerzensstöhnen, Schritte polterten hinter ihr her. Schon verließ sie der Atem.
Treppab, Keuchen, weiter. Treppab. Sie gelangte in den Eingangsflur, sah im Licht der Straßenlaternen einen breiten, menschlichen Umriss draußen vor der Haustür stehen - gehörte bestimmt dazu.
Planänderung. Eine weitere Treppe hinunter, Keller. Sie riss die Tür auf, kletterte auf die Mülltonnen und richtete sich auf, um das Gitter darüber zu erreichen.
Am Schuh wurde sie zurückgezogen. Schlug auf den Mülltonnen auf, schrie: "Nein!" Knallte auf den Boden.
Schnell warf sich Sam mit seinem Gewicht auf sie, fesselte sie und stopfte ihr einen Knebel in den Mund. An ihren auf dem Rücken gefesselten Händen zwang er sie zum Aufstehen. "Vorwärts."
Er schob sie vor sich her zurück treppauf, zurück in ihre Wohnung. Hinter ihnen zog er die Tür zu, verschloss den Fluchtweg. Der Kerl drückte sie runter in einen Stuhl. "Hinsetzen."
Maximilian Davids saß noch in der gleichen Haltung im Sessel, nach vorne gelehnt auf die Hände gestützt, als würde er nachdenken. Sam nahm hinter ihr Aufstellung.
Kara keuchte durch den Knebel, blickte mit weit aufgerissenen Augen zum Clanführer vor sich und dem Handlanger hinten. Es kam kein Befehl. Sie waren nicht hier, um sie zu töten oder sie hatte noch eine Chance, sich rauszureden. Der Gedanke beruhigte sie allmählich.
Endlich richtete sich Herr Davids im Sessel auf und drehte sich zu ihr um. Er warf einen kurzen Blick hinter sie, woraufhin ihr Sam den Knebel aus dem Mund nahm.
"Wie lautet dein Name?" Seine Augen, allein seine Ausstrahlung flößten ihr Respekt ein. Sie brachte keinen Ton heraus. Die erste Frage hatte er mit ruhiger Stimme gestellt, in die zweite mischte sich ein Hauch Ungeduld. "Das ist nicht so schwer zu beantworten. Kara Kelkill, ist das dein Name?" Er zog einen Ordner aus der Jacke, löste die Gummis und las vom obersten Blatt ab: "Kara Orthilde Kelkill."
Der Gedanke daran, welche dunklen Geheimnisse über sie in dem Ordner stehen könnten, trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.
Hinter ihr seufzte der Handlanger und begann, Bücher aus einem Regal zu nehmen und durchzublättern. Das Regal mit ihren Notizbüchern voller Mitschriften von Interviews und Comicideen.
Während sie sich ausmalte, auf was genau er dort stoßen könnte, wandte sich Herr Davids kurz den Aufzeichnungen zu und setzte einen informellen Tonfall auf. "Wie geht es deinem Vater?"
"Lassen Sie meinen Vater da raus." Wenn sie ihr letztes Familienmitglied durch eigene Schuld verlieren würde, könnte sie sich das nie verzeihen.
Hinter ihr hielt der junge Mann kurz im Blättern inne. Nur kurz.
"Du kannst ja doch sprechen." Herr Davids Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln. "Keine Sorge, wir klären das unter uns."
Nervös blickte Kara erneut nach hinten. "Kann … kann er aufhören, in meinen Sachen rumzuschnüffeln?"
Anstatt zu antworten, blätterte der Clanführer durch Dokumente in seinem Ordner. Das Umschlagen der Seiten hinter ihr setzte erneut ein. Der Mann im Sessel zog ein Blatt hervor und hielt es der jungen Frau entgegen. Das Bild zeigte den engen Eingang zum Reinbeker Blatt in einem Hinterhof. "Ist das die Redaktion, wo du arbeitest? Die umgezogen ist, nachdem ihr Morddrohungen wegen deiner Comics erhalten habt?" In Karas Gesicht zuckte es. "Möglich?"
Der Mann legte das Foto beiseite und hielt ihr ein weiteres vor. "Ist das deine Familie? Dein Vater? Dein verstorbener Bruder? Deine verschwundene Mutter?"
Beim Anblick des alten Familienfotos biss sich Kara auf die Zunge. Er packte das Bild weg. "Meinst du wirklich, Sam findet hier irgendwas über dich heraus, was wir nicht längst wissen?"
Hinter ihrem Rücken griff Kara an ihr linkes Handgelenk unter der Stulpe. "Nein. Schon gut, er kann weitermachen."
Der junge Mann stellte das Buch zurück und griff sich das nächste. Weiteres Blättern. Die Frau versteifte sich.
Herr Davids zog einen Zeitungsausschnitt aus dem Ordner. "Ich bin unzufrieden mit diesem Artikel, den du über mich verfasst hast. In dem steht, ich hätte hundert Kinder in die Welt gesetzt und würde mich um deren Verantwortung drücken. Ich wünsche, dass du eine Korrektur ..."
"Oh, den hier kenne ich gar nicht", unterbrach ihn Sam. "Du stehst vor einer gefesselten Person und sagst: Die Kriminalität in dieser Stadt ist unfassbar." Er lachte laut auf und sie hörte vor Schreck auf zu atmen.
Doch statt des erwarteten Wutausbruchs seufzte der Clanführer. "Ja, das klingt nach mir."
Fragend schaute Kara zwischen den beiden hin und her.
"Ich kann so nicht arbeiten. Sam, leg das Buch weg."
Der Angesprochene warf dem älteren Mann einen harten Blick zu und donnerte das Buch mit übertrieben viel Kraft zurück in das Regal. "Spielverderber." Kara atmete auf.
Der Clanführer lächelte hämisch. "Mal doch bitte nächstes Mal einen, in dem ich Sam die Eier abschneide."
"Ja, ja, sehr gerne, mache ich gleich morgen früh." Sie wusste nicht, was sie von der Situation halten sollte, aber um einen Comic zu malen, mussten sie sie am Leben lassen.
"Sam."
"Ich bin dagegen."
Der Clanführer gab dem Handlanger mit einem Kopfnicken in Karas Richtung einen stummen Befehl. Sam löste die Fesseln der jungen Frau.
Karas Füße zuckten kurz in Richtung der Tür, doch sie blieb sitzen und rieb sich die Handgelenke, während sie die beiden Besucher abwechselnd fragend anschaute. Sam warf ihr ein leeres Notizbuch und einen Stift in den Schoß und nahm mit verschränkten Armen hinter ihr Stellung.
"Nun mach schon." Herr Davids klappte den Ordner zu und nahm wieder seine Denkerpose ein. "Mach deinen Job. Stell mir Fragen. Frag mich, was es wirklich mit den hundert Kindern auf sich hat."
Kaum hatte Kara mit der ersten Frage begonnen, nahm sie den Faden auf und führte den Clanführer professionell durch das improvisierte Interview, wie sie schon hunderte gehalten hatte. Mehrmals stellte sie Rückfragen zu einem Punkt, doch Herr Davids antwortete geduldig und bestätigte jede Aussage. Hinter ihr begann Sam, gelangweilt herumzuwippen.
Schließlich überflog sie noch einmal ihre Notizen und die Verabschiedung kam wie automatisch über ihre Lippen, in jahrelanger Arbeit antrainiert. "Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben, Herr Davids."
Maximilian Davids erhob sich aus dem Sessel. "Nächstes Mal prüf gefälligst besser nach, was du über mich erzählst." Er ging zur Tür. "Deine dramatischen Dichtungen kannst du bei anderen ausleben, aber nicht bei mir."
"Ich habe meine Angaben aus einer vertrauenswürdigen Quelle."
"Orwel Prim ist keine vertrauenswürdige Quelle."
"Woher ...?" Doch der Clanführer war bereits verschwunden.
Sam gab ihr einen Wink, ihm die Gegenstände zu geben und schrieb eine Telefonnummer neben die Interviewnotizen an den Rand. "Falls du mich auch mal interviewen willst." Er gab ihr die Dinge mit einem Zwinkern zurück. "Oder mir nochmal in die Eier treten."
"Nein danke."
Als die Besucher verschwunden waren, ließ sich Kara laut seufzend an der Wohnungstür zu Boden sinken.