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Der Dank der Familie
Sie erreichten die Küste kurz vor Sonnenaufgang. Zwar hatte das Licht der Morgendämmerung den Strand noch nicht berührt. Dennoch waren sie spät dran; die Fahrt von Sirte hatte länger gedauert, als sie erwartet hatten und auch eine geeignete Stelle zum Anlanden hatten sie erst suchen müssen. Der Mann am Ruder drosselte den Motor, so dass das Schlauchboot die letzten Meter nahezu geräuschlos mit den leichten Wellen an den Strand trieb. Die Kiesel knirschten unter dem Kautschuk. Die sieben Männer sprangen heraus, warfen ihre Beutel an den Strand und zogen das Boot aus dem Wasser. Dann knüpften sie die Steuerpinne an ein Seil, das sie bis zur Öse am Bug spannten, drehten das Schlauchboot, schoben es zurück ins Wasser, fixierten den Gasgriff auf schwachen Vortrieb und stießen das Boot an. Gemächlich tuckerte es gegen die leichte Brandung zurück aufs offene Meer.
Die Männer schauten sich um, ob sie jemand in der blauen Dämmerung gesehen hatte. Aber der Strand war noch immer verlassen, auch in den kleinen Häusern hinterm Strandabschnitt rührte sich um diese Uhrzeit nichts. Die Männer hoben die Beutel auf, liefen den Strand entlang und verschwanden hinter den Felsen zwischen den Häusern. Ihre Ankunft hatte nur wenige Minuten gedauert. Laetitia, die das Ganze hinter der Gardine ihres Schlafzimmers aus beobachtet hatte, wartete ab, bis die Männer außer Sicht waren, und ging, ohne das Licht anzumachen, in die Küche zum Telefon. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie rief Massimo an. Er war seit dem Unglück mit Bruno immer für sie da. Egal, zu welcher Zeit.
Es dauerte bis zum nächsten Vormittag, bevor sie davon hörte. Auf dem Wochenmarkt, zwischen Obst, Gemüse, gebrauchter Kleidung und Haushaltswaren, raunten sich Händler und Kunden die selbe Geschichte zu. Wenige Kilometer hinter Pedara, am Fuße des Ätnas, seien unweit der Straße die Leichen von sieben bärtigen Männern gefunden worden. Sie hätten nebeneinander gereiht im Lava-Geröll gelegen, die Hände gefesselt mit Kabelbindern hinter dem Rücken und alle mit einem Loch in der Schläfe. Einige waren misshandelt worden. Dem Aussehen nach stammten sie von der anderen Seite des Wassers. Die Polizei habe wohl einen anonymen Tipp zum Fundort bekommen. Ganz bestimmt habe sich die Familie um diese Männer gekümmert.
Laetitia, die Brot, Zwiebeln, Auberginen und Tomaten besorgt hatte, nickte stumm, aber verlor kein Wort. Erzähle es niemandem, hatte Massimo am Telefon gemahnt. Natürlich hielt sie den Mund! Wie ihr Bruno.
Am Abend klopft es an der Außentür der Küche. Es ist Massimo. Ich habe dich erwartet, sagt Laetitia und lächelt. Massimo tritt herein, zieht die Tür hinter sich zu, beugt sich zu ihr und küsst sie höflich auf die Wangen. Setz dich, sagt Laetitia und weist auf den Tisch neben dem Ofen. Möchtest du etwas essen? Nein, sagt er und nimmt Platz. Sie holt zwei kleine Gläser aus dem Schrank und die dunkle Flasche mit dem Grappa aus dem Regal und setzt sich zu ihm. Dann gießt sie den Schnaps in ihre Gläser.
Sie beide kennen sich seit über 20 Jahren. Bruno, ihr Ehemann, war damals verurteilt worden für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Weil er schwieg, versprach ihm die Familie, sich um seine Frau und seine kleine Tochter zu kümmern und bestimmte den jungen Massimo als beider Beschützer. Tatsächlich sind sie sogar um ein paar Ecken miteinander verwandt; Laetitia ist die Nichte einer angeheirateten Tante seines Vaters.
Nach 14 Jahren war Bruno im Gefängnis an einer Lungenentzündung gestorben. Laetitia heiratete nie wieder, sie wollte und brauchte keinen neuen Mann. Die Familie kümmert sich seither um das kleine Haus, in dem sie wohnt, um den Unterhalt für sie und ihre Tochter, die seit vorvergangenem Sommer im fernen Triest Jura studiert. Und wenn sie Unterstützung benötigt, hilft Massimo.
Ich bin gekommen, um dir im Namen der Familie zu danken, sagt er. Deine Aufmerksamkeit hat großes Unheil verhindert. Laetitia neigt ihren Kopf. Erzähl mir, was passiert ist, antwortet sie.
Massimo nimmt einen Schluck aus dem Glas. Wir haben sie an der Straße nach Catania gefunden. Sie waren zu überrascht, um sich zu wehren. Wir haben sie eingeladen und ins Versteck gebracht. Sie hatten Messer und Handgranaten dabei. Wir haben sie befragt, aber die Älteren haben nichts gesagt. Der Jüngste, er sah aus wie 17, hat Englisch gesprochen, ein bisschen zumindest. Er war fast noch ein Kind, kaum Bart, womöglich war er auch erst 15. Er hat uns sein Handy entsperrt, so dass wir Bilder machen konnten. Wir haben den Ältesten vor seinen Augen erschossen, aber der Junge hat trotzdem nicht das Richtige gesagt. Oder wir haben ihn nicht verstanden. Wir haben ihn gezwungen, die Fotos zu verschicken. Dann haben wir einen nach dem anderen erschossen, zum Schluss den Jungen. Er hat gezittert wie eine Zeder im Wind, aber was sollten wir tun? Du weißt, es kann keine Zeugen geben. Es ist nie passiert. Es gibt keinen Bericht in der Zeitung, keinen im Fernsehen. Es wird auch kein Protokoll der Polizei geben, das ist geregelt. Alle werden schweigen.
Laetitia denkt an Bruno. Massimo fixiert sie einen Moment. Hast Du irgendjemandem außer mir erzählt, was du gesehen hast, fragt er dann eindringlich. Laetitia denkt an ihre Tochter, mit der sie am Nachmittag telefoniert hat. Nein, sagt sie ruhig, niemandem. Massimo mustert sie. Er glaubt ihr nicht. Laetitia schaut ihm in die Augen, hält seinem Blick stand. Er muss sich sicher sein.
Gut, sagt er schließlich, ich glaube dir. Laetitia nickt. Er sagt nicht die Wahrheit. Sie fühlt es. Sie atmet tief. Sie weiß es. Ach, Bruno. So ist das also.
Langsam hebt sie ihr Glas und trinkt es aus. Werden noch mehr solche Männer kommen, fragt sie. Ich glaube nicht, sagt Massimo bestimmt. Die Botschaft ist klar. Sie werden sie verstehen.
Laetitia schaut ihn an. Massimo erwidert ihren Blick. Alles ist ruhig. Die Zeit steht.
Sie wissen es beide. Es ist für die Familie.
Ich möchte beten, sagt sie. Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch, faltet die Hände und schließt die Augen. Darf ich mitbeten?, fragt Massimo sanft. Laetitia nickt. Sie beten still. Er beobachtet sie. Ihre geschlossenen Augen. Ihre grauen Haare, die ins Schwarze wechseln, da, wo die künstliche Farbe ihre Wirkung tat. Der schmale Goldring an ihrem Finger. Ihre Lippen, die stumme Wörter formulieren.
Als sie fertig ist, haucht sie ein Amen, öffnet die Augen und dreht den Kopf zu ihm. Tut es weh?, fragt sie ruhig. Nein, lügt er. Sie nickt wieder. Massimo steht auf und stellt sich hinter ihren Stuhl. Er beugt sich nach vorne, geht etwas in die Knie und legt vorsichtig seinen muskulösen linken Arm um sie. Laetitia schließt die Augen und seufzt. Er presst ihren Körper fest an die Rückenlehne, umgreift mit der rechten Hand ihren Kopf und bricht ihr mit einem kräftigen Ruck das Genick. Laetitias Körper erschlafft und sackt zur Seite. Massimo richtet sich auf, setzt sie wieder hin und bettet ihren Kopf behutsam auf die Tischplatte. Er steckt sein Schnapsglas in seine Jacke. Sein Blick wandert prüfend durch das Zimmer. Dann geht er hinaus, schaut sich um und zieht die Tür sachte hinter sich zu.