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Der Damalsvogel
So schönes Gefieder. Seine Oberseite schillerte in einem kalten Aquamarinblau, so blau wie das Wasser, in das er sich jeden Moment wieder stürzen würde. Seine Unterseite leuchtete in den Farben des Sonnenunterganges, der im Hintergrund zu sehen war. Den Kopf hielt er stolz erhoben und zuweilen glaubte ich beinahe, den Zweig auf dem er saß wippen zu sehen, so lebensecht wirkte das Bild. Ich liebte es und konnte im Unterricht kaum die Augen davon abwenden.
»Lydia?«
Frau Meiers scharfe Stimme riss mich in die Gegenwart zurück. Ich murmelte eine Entschuldigung und beugte mich rasch über mein Heft. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich flehte innerlich, Frau Meier möge es bei der Ermahnung belassen. Irgendein gnädiger Gott erhörte meinen Wunsch, denn sie setzte sich wieder an ihr Pult. Ich spürte noch den einen oder anderen Blick meiner Mitschüler auf mir ruhen, aber das kümmerte mich nicht. Man gewöhnt sich daran.
*
Ich blieb auf meinem Platz sitzen, als es klingelte. Die anderen packten ihre Taschen und stoben zur Tür hinaus. Ich sah ihnen hinterher. Der Schulbus kam immer erst am Nachmittag um mich abzuholen. Bis dahin musste ich warten. In der Zwischenzeit löste ich immer meine Hausaufgaben, Frau Meier korrigierte derweil einen Stapel Hefte. Aus den Augenwinkeln erkannte ich, dass sie mich ab und zu über den Rand ihrer Brille beobachtete. Nach ein paar Sekunden pflegte sie dann wieder den Kopf zu senken und weiterzuarbeiten.
Ich schielte zum Bild hinüber. So schöne Farben ... Erst einmal hatte ich einen lebendigen Eisvogel gesehen. Es war lange her, doch ich erinnerte mich noch genau daran. Ich erinnerte mich an jeden Tag dieser sorglosen Ferienzeit, die ich mit meinen Eltern in den Bergen verbracht hatte. Unsere Hütte lag ganz in der Nähe des Flusses. Ma ging es damals noch gut, Pa hatte noch seine Arbeit und es wurde viel gelacht. Und an einem dieser letzten sorglosen Tage entdeckte ich den Eisvogel, wie er in das klare Wasser schoss, während die Sonnenstrahlen auf der Oberfläche funkelten. Ich stand am Ufer und sah ihm zu, die Hände in den Taschen, den Wind in den Haaren und das Herz voller Glück.
Es war nicht bloß ein Eisvogel auf dem Bild. Für mich war es der Damalsvogel. Ein Andenken an eine frühere Zeit.
»Du träumst ja schon wieder!«
Ich schrak zusammen. Frau Meier stand vor meinem Tisch. Ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze.
»Bist du mit deinen Aufgaben fertig?«
Stumm schüttelte ich den Kopf.
Die Lehrerin gab einen verärgerten Laut von sich. »Ich kann deine Unaufmerksamkeit nicht mehr dulden. Bitte sag deinen Eltern, dass sie demnächst in meine Sprechstunde kommen sollen. Ich wollte schon längst einmal mit ihnen über deine Mitarbeit reden.«
Ich fühlte, wie ich erblasste. Ich stotterte eine Entschuldigung, verhaspelte mich dabei und brachte keinen vernünftigen Satz zustande.
Das Gesicht der Lehrerin blieb eisern. »Du bildest dir vielleicht ein, dass eine kleine Standpauke zuhause ein Weltuntergang sei. Aber ich sage dir, dass es dir nur mal ganz gut tun wird, wenn dir deine Eltern Bescheid geben.«
»Nein, ich habe keine Angst vor Ärger, ich-« Ich biss mir auf die Lippen, dass es schmerzte. Frau Meier würde keine Rücksicht nehmen, das wusste ich. Kannte sie Kummer? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht nicht so gut, wie Ma und Pa ihn kannten. Verzweifelt wich ich ihrer harten Miene aus, während ich mich um die passenden Worte bemühte. Mein Blick traf den Damalsvogel und die Idylle dahinter. So schönes Gefieder ...
»Starr das dumme Bild nicht so an, sondern sieh mir in die Augen, wenn ich mit dir spreche!«
»Ich, ich ...«, stammelte ich.
Frau Meier fuhr mir über den Mund. »Wenn du glaubst, dass du mir so davonkommst ...«
Ein Pfeifen ließ den Redefluss der Lehrerin verstummen. Verwirrt schaute sie auf, doch das Geräusch verhallte sogleich wieder. Nach einem kurzen Zögern wandte sich Frau Meier erneut an mich. Ich konnte sie nur noch mit aufgerissenen Augen anstarren.
»Wie ich eben sagte-«
Pfeifen.
Abermals stockte die Lehrerin. Ich zitterte. Der hohe Ton klang geisterhaft in dem großen Klassenzimmer. Frau Meier suchte mit den Augen den Raum ab. Für einen Moment war alle Souveränität verschwunden. Mein Blick fuhr zum Fenster - geschlossen. Ich ließ ihn weiterschweifen, über den Boden, die Tische, die Schränke, die Tafel, die Wände, das Bild - das Bild.
So schönes Gefieder. So schöne Farben. So schöner Gesang.
Er hielt den Kopf noch höher als zuvor und stieß ein silberhelles Pfeifen aus. Die Wassertropfen glitzerten auf seinen seidigen Federn und mit rasendem Herzen bemerkte ich auf einmal das sanfte Schaukeln des Zweiges, auf dem er saß.
Ein Keuchen ließ mich herumfahren. Aus dem Gesicht der Lehrerin war alles Blut gewichen.
»Wie kann das sein ...«, flüsterte sie heiser. Ich atmete tief durch.
So gelassen wie möglich fragte ich: »Was denn?«
Sie krächzte und deutete mit bebendem Arm auf das Bild.
»Das Pfeifen«, hauchte sie. »Das Pfeifen.«
Ich kämpfte um Beherrschung. »Ich höre nichts«, erwiderte ich. »Was für ein Pfeifen? Was soll mit dem Bild sein?«
Vielleicht waren es Sekunden, vielleicht waren es Minuten, die vergingen, bis sich Frau Meier auf einen Stuhl sinken ließ und mich zu sich winkte.
»Es ... es geht mir nicht gut«, sagte sie so leise, dass ihre Stimme in der sanften Melodie beinah unterging. »Dein Bus kommt gleich. Warte draußen. Ich muss ... ich werde wohl krank.« Sie sah mich an. "Sag deinen Eltern, dass ich noch nicht weiß, wann ich sie sprechen kann. Vielleicht ...« Sie schüttelte den Kopf. »Geh jetzt bitte.«
Ich ergriff meine Tasche und verließ das Klassenzimmer. Kurz bevor ich die Tür schloss, blickte ich noch einmal auf das Bild. Und mir war, als blicke er von dort zurück.