Der Dachboden
Hier sitze ich nun, frierend und weiß einfach nichts mit mir anzufangen. Es ist Winter. Eigentlich mag ich diese Jahreszeit, nur in diesem Winter ist es eigenartig. Jeden Tag überkommt mich diese Melancholie. Was ist nur mit mir los? Die Vögel, die nicht in den Süden ziehen, sitzen am Fenster und versuchen die letzten Sonnenstrahlen aufzufangen, die die Sonne noch hergibt. Ob es ihnen viel nützt? Ich glaube kaum. Wie gerne würde ich das Fenster öffnen, um ihnen Einlass zu gewähren. Doch hier oben lassen sich die Fenster nicht öffnen, so müssen diese Geschöpfe, die eigentlich den Frühling symbolisieren, frieren. Jetzt fange ich noch stärker an zu zittern. Ich drücke den Kopf ganz dicht an die Wand und kuschel mich mehr und mehr in die Decke ein. Sie riecht sehr gut, denn sie gehörte meiner Großmutter und trägt noch immer deren Duft. Im Gegensatz zu dem Duft, der hier oben auf dem Dachboden herrscht, muffig und erdrückend, ist dieser sehr angenehm. Er strahlt sehr viel Wärme und Liebe aus, die Gefühle, die ich gegenüber meiner Großmutter empfand. Das Zittern lässt nach. Langsam fasse ich wieder Mut aufzustehen. Ich gehe zum Fenster; die Eisblumen, die sich daran abbilden sehen einfach wunderbar aus. Ich merke, wie sie mir ein kleines Lächeln abgewinnen, doch dies bleibt nicht von Dauer. Ich habe gerade den alten Karton, völlig verstaubt und mit Spinnenweben übersät, in der Ecke stehend, entdeckt. Soll ich es wagen ihn zu öffnen? Trotz der Tatsache, dass ich weiß, dass er die Melancholie noch verstärken wird, gehe ich langsam darauf zu. Nanu, er ist zugeklebt. Ich wusste gar nicht, dass die Mutter das getan hatte. Das Paketklebeband war schon ganz gelb, wahrscheinlich hatte sie den Karton schon vor einer halben Ewigkeit zugeklebt. Drüben, im Werkzeugschrank, müsste sich ein Messer befinden. Ah! Da ist es ja; mit dem alten hölzernen Griff. Langsam gehe ich wieder zum Karton zurück und versuche ihn zu öffnen. Ich war noch nie gut darin, mit Messern umzugehen. Meist hat mir Vater dabei geholfen. Wie schön wäre es, wenn er hier sein könnte, um mir zu helfen. In letzter Zeit merke ich mehr und mehr, dass ich ihn bei vielen Dingen, bei denen ich seine Hilfe eigentlich immer benötigt hatte, gar nicht mehr brauche. Wie auch bei dieser Sache, das Paket zu öffnen. Es schmerzt mir im Herzen; bei dem Gedanken, dass ich ihn nicht mehr so oft brauche und bei den Sachen, die ich jetzt hier in diesem Karton wiedergefunden habe. Natürlich hab ich seine Hilfe nicht mehr so nötig, ich bin ja auch älter geworden. Ein kurzer Hoffnungsschimmer umhüllt mich und lässt mich den Entschluss, mit dem ich hier hoch gekommen bin, vergessen. Da ist das alte Foto, es tut weh, dieses zu sehen und sofort verblasst diese kleine Hoffnung wieder. Nein, natürlich brauche ich ihn bei vielen Sachen nicht mehr. Fahrrad fahren kann ich schon längst allein und beim Brotschneiden stelle ich mich auch nicht mehr so ungeschickt an. Sogar das Kochen hat mir die Mutter beigebracht. Doch es fehlt die Liebe. Natürlich bekomme ich sehr viel von der Mutter, aber es fehlt der zweite Teil, dem von meinem Vater. Heiße Tränen rollen an meinem Gesicht hinunter und tropfen auf das eingerahmte Foto, mitten auf sein Gesicht. Warum hat sie die Fotos nur hier oben eingeschlossen? Auf diesem alten Dachboden, wo sie völlig einstauben und kein Sonnenlicht zu spüren bekommen. Und was noch schlimmer ist, wo sie in Vergessenheit geraten. Würde ich mich besser fühlen, würde diese Melancholie verschwinden, wenn ich jeden Morgen aufwachen würde und sein Gesicht an der Wand sehen würde? Ich glaube schon. Ein Jahr nach seinem Tod sind alle Bilder mit ihm verschwunden, ich habe ihn nie mehr gesehen; jetzt weiß ich, wo sie sich befinden.
Ich setze mich wieder, die Decke eng um die Schultern geschlungen, das Foto fest in den Händen haltend. Plötzlich merke ich etwas in meiner Hosentasche. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass ich tatsächlich an den Apothekenschrank gegangen bin, um diese Dose zu holen. Nachdem ich die Dose aufgeschraubt habe, kullert der weiße Inhalt hinaus. Es schmeckt sehr bitter, doch ich bin weiterhin tapfer und schlucke. Nach einer ganzen Weile merke ich, wie mir die Augen schwer werden. Langsam lehne ich mich an den Karton, das Foto immer noch fest in den Händen haltend und schließe die Augen. Letzte Woche kam der Brief, dass auch mein Bruder, genau wie mein Vater, im Krieg gefallen war. Seitdem tröstet sich die Mutter mit einer Flasche, wahrscheinlich wird ihr der Inhalt dieser Flasche genauso Trost geben, wie mir der Inhalt meiner Dose. Ich höre plötzlich die Vögel viel lauter zwitschern. Wahrscheinlich werde auch ich bald so frei, wie die Vögel sein und davon fliegen. Und wer weiß, vielleicht treffe ich auf meinem Weg sogar die Menschen, die mir soviel bedeuten und die in dieser Welt nicht mehr existieren. Mit diesem letzten Gedanken schlief ich endlich ein.