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Der Dachboden - oder eine Reise in die Vergangenheit.
Gestern Abend war ich seit längerem wieder einmal auf unserem Dachboden. Eine alte, steile Holzstiege führt hinauf. Bei jedem Schritt quarzen und ächzen die alten Stufen unter meinem Gewicht. Ein halbes Jahrhundert sind sie nun schon alt. Schon lange haben sie keine harten Kanten mehr. Die Zeit hat auch an ihnen Spuren hinterlassen. Abgetreten und stumpf ist das Holz. Aber die alten Eichendielen geben nicht auf.
Seit Jahren wollte ich schon eine ordentliche Beleuchtung installieren. Aber im Sommer ist zu warm, um das zu tun, wofür es im Winter zu kalt ist. Duster ist es. Die beiden schwachen Glühlampen schaffen es kaum, die letzten Schatten aus den Ecken zu verscheuchen.
Am kleinen Dachfenster hat eine Spinne ihr kunstvolles Netzt gewebt. Sie selbst hat sich irgendwo in einer Ritze verkrochen um dort den Winter zu verbringen.
Unter Tüchern und Planen stehen Möbel und Kisten mit Schätzen aus vergangenen Tagen. In der Ecke steht ein altes Vertiko. Die Scheiben seines Aufsatzes sind mit den Jahren blind geworden. Ein leises Quietschen ertönt, wenn man die beiden Flügeltüren öffnet. Da stehen die alten Kerzenständer und das alte kleine schwarze Kreuz. Nur selten wurden sie aus dem Schrank geholt. Es waren traurige Anlässe, wenn in den Haltern Kerzen angezündet wurden.
Daneben steht das alte Essgeschirr vom Großvater aus dem 1. Weltkrieg. Er war damals als Koch auf einem U-Boot stationiert. „Sein“ Boot schaffte es nach dem Krieg leider nicht mehr, aus eigener Kraft den Heimathafen anzulaufen. Es wurde von der Mannschaft irgendwo im Mittelmeer auf Grund gelegt. Sauber gefaltet liegt in einer Schachtel noch die alte Marineuniform mit Mütze. Und auch die U-Boot Flagge ist noch vorhanden. Das Eiserne Kreuz und die anderen Orden haben schon lange einen Ehrenplatz in der Vitrine im Flur bekommen.
In einer Schublade liegt ein alter Hirschfänger. Sein Griff ist glatt wie Elfenbein. Er gehörte meinem Großvater. An der Klinge erkennt man, dass das Messer oft in Gebrauch war. Erinnerungen kommen aus dem Dunkel wieder ans Licht – die alte Küche. Der alte Holzherd mit seinem Wasserschiffchen, auf dem die Großmutter kochte. Im Winter legte die Oma Äpfel in das Wasserschiffchen. Für uns Kinder war es ein Genuss – heiße Äpfel mit Rosinen zu vernaschen. Der Opa saß derweil am Tisch und machte Brotzeit. Bedächtig schnitt er mit dem Hirschfänger die Krumme von den Brotscheiben. Die Rinde war zu hart für seine alten Zähne. Er sammelte die Krummen im Brotkasten. Regelmäßig habe ich sie mir geholt. Noch heute esse ich von Brot noch am liebsten die „Stützchen“. Am Abend dann – wenn das Tagwerk vollbracht war - holte sich Opa einen Küpfer Most aus dem Keller, setzte sich auf den Stuhl neben dem Herd, und rauchte genüsslich seine Pfeife. Die Oma las durch ihre dicke Brille dann die neuesten Nachrichten aus der Zeitung (die sie von meinen Eltern – abends immer holte) vor.
Viel Abwechslung gab es auf dem kleinen Bauernhof nicht – und das Leben geizte mit Luxus. Nur selten führte der Weg zum Metzger – warum auch? Zweimal im Jahr wurde ein Schwein geschlachtet – Milch und Käse gab es von den fünf Kühen, die im Stall standen. Und Eier legten die Hühner in Hülle und Fülle. Im alten Gewölbekeller lagen in Sand eingeschlagen Kohlrabi und gelbe Rübchen. Das Sauerkraut, das im Herbst angesetzt wurde, reichte den ganzen Winter.
Hin und wieder machte meine Oma breite Nudeln. Die hingen dann in der Nawet-stube (Nebenzimmer) tagelang an Stangen von der Decke - wie Lametta am Weihnachtsbaum.
Meine Oma war ein Kräuterweib. Im Sommer zog sie durch Wald und Flur und sammelte Pflanzen und Kräuter die wir heute als Unkraut abtun. Oftmals durfte ich sie begleiten und ihr beim Tragen helfen. Leider ist Vieles von dem Wissen der alten Leute verloren gegangen.
Es war schon eine Besonderheit, wenn die Oma Verwandtschaft in der Stadt besuchte. Obwohl es nur 16 Kilometer sind, war es doch für die damaligen Verhältnisse eine große Reise. Meist blieb sie dann über Nacht in der großen Stadt.
Vielleicht mache ich mich jetzt lächerlich – oder man tut mich als Spinner ab. Ich habe darüber nur extrem selten gesprochen. Meine Oma wusste Sachen, die konnte sie nicht wissen. Und sie sah Dinge die konnte man nicht sehen. Oft hatte ich das Gefühl sie würde durch mich hindurch sehen – so als ob ganz weit hinter mir am Horizont etwas zu erkennen wäre. Ich habe den Blick damals nicht deuten können – er machte mir irgendwie Angst – ich verstand es nicht.
An manchen Tagen legte Oma ihre Karten. Es waren alte abgegriffene Tarotkarten die sie sorgsam in einem Zigarrenkistchen aufbewahrte. Die vielen bunten Bilder auf den Karten faszinierten mich schon als kleiner Junge. Ich war einer der wenigen, der sie berühren durfte. Schon sehr früh wusste ich um die einzelnen Bedeutungen der Karten. Und so machte mir die Karte „der Tod“ keine Angst- ich wusste, dass sie auch für Veränderung steht – für Ende und Neubeginn. Nach dem Tod meiner Oma hat meine Mutter leider das Zigarrenkistchen durch den Kamin gejagt. Inzwischen besitze ich eine ordentliche Sammlung an Tarotkarten. Und gelegentlich lege ich mir die Karten.
Als ich mit 8 Jahren sieben Wochen lang in der Uniklinik in der Stadt lag, war es eigentlich meine Oma die mich öfters besuchte. Meine Mutter kam nur selten – und an die wenigen Besuche von ihr habe ich keine guten Erinnerungen.
Damals als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde gingen wir noch in die Stadt. Ich durfte mir in einem Süßigkeitenladen Bonbons für 30 Pfennig aussuchen. Wir überquerten damals den Marktplatz und stießen auf die Marienkirche. Ich war ganz aufgeregt und fragte ob ich mir die Ritter anschauen dürfe, und die großen Pferde, und die bunten Zelte - und darf ich die Hunde füttern? Meine Mutter schimpfte mich und meinte – dummes Kind – das gibt es da nicht. Meine Oma schaute mich nur so seltsam an und meinte lass den Bub in Ruhe.
Jahre später – als ich für unseren Stammbaum im Staatsarchiv recherchierte – fand ich durch Zufall ein Bild. Es zeigte ein Lager an der Marienkirche mit Zelten und Stroh auf den Pflastersteinen – dazu prachtvolle Rösser – und dazwischen große Jagdhunde. Ich kannte die Szene ganz genau. Ich habe mich danach oft gefragt, ob ich das Bild eventuell schon damals irgendwo gesehen haben könnte – ich fand aber keine Antwort. War es nur ein Déja-vu?
Als ich 10 Jahre alt war- starb meine Oma. Tage vorher sollte ich Selters aus unserem Gewölbekeller holen. Nachdem ich nicht zurückkam – ging meine Schwägerin nachschauen wo ich bleibe. Sie fand mich auf der Kellertreppe sitzend. Ich sah meine Oma im Keller in ihrem Schaukelstuhl schaukeln. Die rechte Gesichtshälfte war ganz normal – es sah aus, als würde sie schlafen. Dann drehte sie ihr Gesicht zu mir hin und ich sah, dass die linke Gesichtshälfte ein Totenschädel war. Ich sagte meiner Schwägerin – „guck die Oma ist schon halb tot“. Das seltsame war, ich hatte keinerlei Angst. Eine Woche später legte Oma sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Es war Zeit für die Kerzenleuchter und dem Kreuz vom Dachboden.
Auf den Tag – ein Jahr später stellte ich das Fahrrad meines Opas in die Scheune und deckte es mit einer Plane ab. Meine Mutter fragte mich damals: „warum hast du das gemacht“? „Opa braucht es nicht mehr“ war meine Antwort. Tage später haben wir unseren Opa beerdigt…….
Es gibt Momente, da habe ich kein gutes Gefühl. Manche Menschen machen mich irgendwie traurig. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll, es sind Situationen die mich beklemmen. Dann versuche ich mich abzulenken – zu lesen, Fernseher zu schauen oder auf dem Computer herum zu hacken bis ich die Müdigkeit nicht mehr bezähmen kann.
Früher sagte man manchen Menschen nach – sie hätten das zweite Gesicht. Was für die einen eine besondere Gabe ist, ist für die Betroffenen ein böser Fluch.
Wer weiß, vielleicht ist alles auch nur Einbildung.