Mitglied
- Beitritt
- 03.07.2021
- Beiträge
- 31
Der da vorne
Der kleine, schmächtige Typ da vorne wird’s nicht bringen. Wie sollte er auch? Wer so ist wie der da, der ist gar nichts. Wie der schon aussieht. Die Hose ist zu lang, ganz zu schweigen von diesem scheußlichen Sakko. Geschmack hat der nicht. Und für den bin ich nun hierhin gekommen? Schade. Was für eine Zeitverschwendung. Wäre ich bloß weggeblieben.
Aufgedonnert habe ich mich. Mit Lippenstift und allem, was dazu gehört. Die Haare habe ich mir streng zurückgesteckt. Die Schuhe habe ich noch keine Stunde an. Jede Minute in diesen Dingern ist zu viel. Manchmal muss ich mich über mich selbst wundern. Wichtige Dinge warten seit Tagen. Die hätte ich gut erledigen können. Doch ich sitze hier in unbequemen Schuhen.
Er sitzt da. Nichts passiert. Die Zeit steht still. Ich überprüfe meine Uhr. Sie läuft. Ewig langes Warten. Endlich regt sich da vorne doch etwas: Er reißt den rechten Arm hoch, schmettert ihn nieder, landet unerwartet sanft auf schwarz-weißem Untergrund. Die Linke kommt dazu. Sein Oberkörper bebt, die Beine zittern, zappeln, treffen jedoch sicher die Pedale. Seine Stirn gleicht einem Wellblech. Schweißtropfen bleiben in den kleinen Rillen hängen. Er verausgabt sich komplett. Wie will er das die ganze Zeit durchhalten? Mit blanker Wut. Anders geht es nicht.
Sein Einsatz ist beängstigend ekstatisch. Die bedrohlich tiefen Töne lassen nichts Gutes verheißen. Sie sind die Vorboten eines reißerischen Sturms, der zwar nicht unerwartet kommt, aber schnell.
Es hält mich kaum noch auf meinem Platz. Mich bringt es fast um. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ich muss mich beherrschen. Das gehört sich so. Er macht es mir nicht leicht. Eigentlich will ich das gar nicht. Ich bin sonst nicht so. Heute ist es anders.
Vor mir sehe ich schnell aufeinander folgende Bilder, fast wie in einem Film. Die Realität um mich herum scheint sich aufzulösen. Dennoch kann ich nicht von ihm ablassen.
Ich starre ihn an, sehe durch ihn hindurch. Ich blicke in eine Welt voller Tumult und Chaos. Die Ordnung ist gestört, unwiederbringlich. Es herrscht Krieg, mittendrin, bei uns, ganz unmittelbar. Meine Ohren werden betäubt vom Lärm. Ein Gewitter zieht auf. Wolken verdichten sich zu bedrohlichen Gebilden. Sie beginnen sich mit den Dächern der Stadthäuser zu vereinen. Gleich wird es zur Katastrophe kommen. Lange kann es nicht mehr dauern. Blitze, Donner, Gewalt. Ich will mich wehren, ertrage das nicht länger. Dann absolute Ruhe. Ich fühle mich einsam, hilflos wie ein kleines Kind.
Erst jetzt fällt mir auf, dass sein Hemd klitschnass ist und dreckig, voller Flecken. Seine Schuhe sind voller Schlamm. Nein. Das kann nicht sein. Das ist völlig unmöglich. Bewegen wir uns gerade gemeinsam in einer anderen Welt? Ich habe keine Zeit die Frage hinreichend zu klären. Denn nun legt er noch einmal zu. Die Schweiß durchtränkten Haare kleben an seinem Kopf. Er leistet harte Arbeit. Irgendwann ist er erschöpft. Muss er sich bedingungslos ergeben? Das geht nicht. Er muss gewinnen. Man sieht ihm das Leiden deutlich an, aber gerade jetzt darf er nicht aufgeben. Schafft er es? Ich leide mit ihm ohne eine Chance auf Gegenwehr. Dann nimmt er sich urplötzlich zurück.
Das Unwetter scheint vorüber. Der Krieg ist aus. Ich beruhige mich wieder.
Er kann nicht über seinen Schatten springen. Es steht ihm ins Gesicht geschrieben. Der Mann da vorne lebt. Er weiß, was es heißt, alles zu geben, Bilder zu erzeugen wie von Geisterhand. Er reißt mich mit. Ein wilder Fluss, der elektrisiert. Gefährliche Stromschnellen. Ich bin ein Teil von ihm, von der unbändigen Wildnis, von diesen unglaublich betörenden Klängen.
Eine wohlig warme Atmosphäre umgibt mich. Ich bin nicht mehr allein, nicht mehr einsam. Wir sind zu zweit. Der da vorne und ich in einer harmonischen Welt. Wir treiben auf einem Teich. Es ist kaum noch etwas zu hören. Stille durchdringt mich. Die Sonne erwärmt meine Haut. In weiter Entfernung erklingen liebliche Melodien, leise Töne, fast nicht wahrnehmbar. Nichts ist mehr übrig von seinem anfänglichen Fuchteln. Seine Füße stehen ruhig auf dem Boden. Seine Hände gleiten sanft von links nach rechts. Nur die Schweißtropfen auf seiner Stirn haben sich nicht wesentlich verändert.
Der kleine, schmächtige Typ auf der Bühne verwächst mit seinem Klavier. Er bringt’s. Das war immer schon so. Ich wusste es von Anfang an, bereits damals, als ich ihn geheiratet habe.