Der Chef
Um 8.15 Uhr hörte ich die starke und laute Stimme meines Vorgesetzten durch den Gang hallen. Zwei Minuten später begrüsste ich ihn mit ‚Guten Morgen Herr Bohrer’. Meiner Meinung nach ein passender Name, im Gegensatz zu seinem Vornamen Michael.
Ich habe gerade ein Blatt ausgefüllt, ehe er eintrat. „Haben Sie den Bericht für mich bereits beendet?“ Die Frage riss mich aus meinen Gedanken. Natürlich habe ich den Text geschrieben; er war bereits seit zwei Tagen fertig. Ich teilte ihm das mit und sein Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. Ich habe meine Sache getan, so dass er mir keine Predigt über Arbeitsverhalten vortragen konnte. Enttäuscht nahm er den Bericht und verliess das Zimmer. Kurze Zeit später stand er wieder vor mir. Er befahl mir, den Text nochmals durchzulesen und alle Fehler zu unterstreichen. Auf diesen zwei Seiten fand ich vier Fehler. Der nette Chef las wohl nur den ersten Absatz, denn dort waren alle Fehler. Anstatt das Fehlerhafte durchzustreichen und es mir mitzuteilen, durfte ich jedes Wort überprüfen. Obwohl ich mich sehr aufregte, sah man mir dies nicht an.
In unserem Geschäft trinken alle Angestellten um 9.30 Uhr einen Kaffee oder einen Tee. Dazu bringt jemand Croissants mit. An diesem Tag musste ich das Gebäck mitbringen. Ich wollte mir erst einen Kaffee brühen und dann im Arbeitszimmer die Backwaren holen. Einige Personen sassen bereits am Tisch und sprachen über Gott und die Welt. Die letzten Tropfen fielen gerade in die Tasse, als Herr Bohrer den Raum betrat. Er fragte mich zynisch, ob ich das Gebäck vergessen habe. Ich verliess den Raum, ohne mich umzusehen und holte gemächlich die Hörnchen. Ich kam zurück und sah das Gesicht meines Chefs einen kurzen Augenblick früher als er meines. Sein Gesichtsausdruck ging von der Zufriedenheit eines Kindes in ein langes Gesicht über.
Am frühen Nachmittag gab es ein Problem wegen eines Briefes. Er war falsch adressiert. Der richtig Empfänger war ein Ehepaar, welches einen Kredit für einen Hausbau beantragt hat. Deshalb kam eine Kundin zu uns und fragte, weshalb sie diesen Brief bekommen hat. Das Missgeschick war schnell geklärt und ich nahm mir vor, die Zusage für den Kredit am Abend persönlich vorbeizubringen. Herr Bohrers Laune besserte sich schlagartig, denn er konnte mir etwas vorwerfen. Er belehrte mich eine halbe Ewigkeit. Ich dachte schon, es war nur dies, was er mich sagen wollte. Damit lag ich total falsch. Der zweite Punkt war meine Arbeitszeit. Er hielt mir vor, ich würde zu wenig arbeiten. Er behauptete, ich würde zu spät beginnen, dafür aber pünktlich aufhören. Dabei weiss Michael genau, wie ich arbeite. Morgens fange ich auf Grund des Trams 10 Minuten später an. Um aber auf die richtige Stundenzahl zu kommen, mache ich eine Viertelstunde weniger Mittagspause. Ich versuchte ruhig zu bleiben, dennoch denke ich, er bemerkte meine Wut und Empörung. Ab heute darf ich 20 Minuten vor dem Büro warten, da ich das frühere Tram nehmen muss. Aber ich werde meine Mittagszeit voll und ganz ausschöpfen. Genervt kehrte ich an meinen Tisch zurück und versuchte zu arbeiten. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, da ich sehr empört war. Ich benötigte für alles doppelt so lange. Wenn jemand anrief, der eine Frage hatte, nörgelte ich herum und lies meine Laune an den Kunden aus.
Gegen Abend beruhigte ich mich allmählich, da ich bald Feierabend hatte. Ich wollte noch zu diesem Ehepaar gehen und für dies brauchte ich die Linie 7. Ich fuhr also in die gleiche Richtung wie Florian. Ich weiss nicht mehr, wie wir auf das Thema zu sprechen kamen. Florian hat sein Arbeitszimmer direkt neben demjenigen von Herrn Bohrer und die Wände sind sehr ringhörig. Für mich war es eine kleine Genugtuung, dies zu hören. Florian erzählte von einem Gespräch am Vormittag zwischen Herr Bohrer und dessen Boss Herr Schneider. Florian hörte Herr Schneider, der mit lauter und netter Stimme sagte: „Sie sollten nicht so oft private Gespräche führen. Haben Sie den Bericht gemacht?“ „Nein, habe ich nicht“, entgegnete eine leise, schüchterne Stimme.