- Beitritt
- 21.04.2015
- Beiträge
- 1.419
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Der Bullshit-Reflektor
Sein Oberschenkel lag ganz nah neben ihrem. Sie spürte den leichten Druck und die fremde Wärme. Kathrin verzog das Gesicht und rutschte ein Stück zur Seite. Er rutschte nach. Spreizte die Beine noch mehr, so als wolle er jeden Millimeter Raum nutzen, der sich ihm bot. Wieder berührte er sie. Mit einem Seufzer raffte Kathrin Buch und Handtasche an die Brust und warf dem Kerl neben sich einen bösen Blick zu, während sie noch weiter von ihm abrückte.
Noch ein Zentimeter mehr und ich lande auf dem Boden. Depp! Sie musterte ihn verstohlen von der Seite, wartete auf eine Reaktion, auf ein peinlich berührtes „Oh, tut mir leid!“, vielleicht, wenn er bemerkte, wie nah er ihr auf die Pelle gerückt war. Nichts. Er hob kurz den Blick, glotzte sie mit ausdruckslosen Augen an und kratzte sich am Hinterkopf. Kathrin beobachtete, wie ein paar Schuppen auf den Kragen seiner speckigen Lederjacke herunterkrümelten. Die Härchen an ihren Unterarmen stellten sich auf. Der Typ kramte in seiner Jackentasche, stieß ihr dabei mehrmals den Ellenbogen in die Rippen, zog sein Handy hervor und flätzte sich gemütlich in den Sitz, um eine SMS zu schreiben. Die Tastentöne waren laut gestellt. Natürlich.
Als seine Jeans erneut anfing, sich an Kathrins zu schmiegen, hatte sie die Faxen dicke und stand mit einem Ruck auf. Das ertrage ich nicht noch eine halbe Stunde!
Sie trat in den Gang und machte sich auf die Suche nach einem neuen Sitzplatz. Die S-Bahn war voll mit schwitzenden Körpern und gereizten Gesichtern, an denen sie sich vorbeischob. Kathrin konnte die Ausdünstungen förmlich sehen, die in kleinen Schwaden aus der fremden Haut um sie herum aufstiegen.
Endlich erspähte sie einen freien Platz und ließ sich erleichtert fallen. Neben ihr saß eine ältere, zierliche Dame, die gerade hochkonzentriert das Werbeblatt eines Lebensmitteldiscounters studierte. Ihr von Falten zerfurchtes Gesicht mit den zusammengekniffenen Augen erinnerte Kathrin an eine schrumplige Rosine. Sie schmunzelte und lehnte sich entspannt zurück. Von dieser Seite drohte keine Annäherungsgefahr.
Kathrin schlug erneut ihr Buch auf. Weit kam sie jedoch nicht. Bevor sie überhaupt die Chance hatte, richtig in die Geschichte einzutauchen, schrillte ihr gegenüber ein Telefon. Es klang wie ein alter Wecker.
„Ja, Hallo?“, flötete eine stark geschminkte Frau in ihr Mobiltelefon – natürlich erst, nachdem sie hektisch in den unendlichen Tiefen ihrer Handtasche herumgewühlt hatte.
„Hallo Süße! Schön, dass du dich meldest. Was? Ich bin unterwegs zur Arbeit. Nein, nein, es geht gerade, wir können reden, ich sitz’ in der Bahn.“
Dein Ernst jetzt? Entgeistert starrte Kathrin der Frau ins Gesicht. Niemals würde sie verstehen, warum diese besondere Gattung Handy-Mensch es nicht kapierte, dass die S-Bahn keinesfalls das heimische Wohnzimmer ersetzte, bloß weil man an beiden Orten telefonisch erreichbar war.
Die Geschminkte überstrahlte Kathrins fassungslosen Blick aber ganz einfach mit einem Lächeln und setzte ihr Gespräch mit unbeirrbarer Ignoranz fort.
„Bei mir? Alles gut, Süße. Ich war gestern beim Arzt. Weißt schon, ich hatte doch so krasse Schmerzen, als wir Montagabend mit Max und Ben im Biergarten waren. Aber gar nichts Schlimmes. Du, ich hab’ einfach nur ’ne Blasenentzündung und muss jetzt ein paar Tage so’n Antibiotikum nehmen.“
Okay, das mit dem Lesen kannst du knicken heute! Kathrin klappte das Buch so laut wie möglich zu, der verzweifelte Versuch, dieses unpassende Gespräch zu beenden. Willst du uns vielleicht auch noch erzählen, wie dein letzter Besuch beim Gynäkologen war?
Schon komisch, bei einer Unterhaltung oder lauter Musik, die aus den Kopfhörern eines anderen Fahrgastes dröhnte, ja selbst bei Babygeschrei konnte Kathrin mühelos abschalten. Aber bei diesen sinnlosen Handygesprächen war ein Weghören einfach unmöglich. Und während sie so dasaß, die draußen vorbeiziehende Stadt betrachtete und von der bunt bemalten Plappertasche erfuhr, dass Max ja eigentlich ein mieses Arschloch sei, so wie er Maja behandle und sie auf die Party bei Kristin heute Abend so gar keine Lust habe – „Kristin wird irgendwie immer so anhänglich, wenn sie die Lampen anhat!“ – fragte sich Kathrin, ob es wohl spezielle Schwingungen gäbe, die der Mensch einfach nicht ignorieren könnte. Die immer durchdrängen, egal wie sehr man sich anstrengte, sie nicht wahrzunehmen. Nerviges Geplapper zum Beispiel. Oder Typen, die nicht kapierten, dass man in der Bahn nicht zwangsläufig miteinander kuscheln müsste.
Bullshit-Schwingungen. Kathrin lächelte. Jetzt bräuchte es nur noch ein Gerät, das diese Schwingungen von mir fernhalten könnte. Sie ließ ihren Blick über die Fahrgäste schweifen und wurde von dem lauten Gefasel ihrer Nachbarin aus ihren Gedanken gerissen.
„Das blaue? Bist du sicher? Ich hab’ ja immer das Gefühl, mein Arsch sieht darin riesig aus.“
Ein hysterisches Lachen platzte aus ihr heraus, das Kathrin erschrocken hochfahren ließ. Meine Fresse!
„Ach danke, Süße, das ist lieb von dir. Diese ekelhafte Kohl-Diät muss sich ja irgendwann mal bezahlt machen. Was? 36. Ja, doch, wenn ich’s dir doch sage. Eine ganze Kleidergröße weniger passt mir jetzt.“
Wieder dieses unerträgliche Wiehern.
„Ja, okay, du hast recht, ich zieh’ das blaue an. Und dazu die Schuhe, weißt schon, die wir letzte Woche zusammen ...“
Ein Bullshit-Reflektor! Das wär’s! Kathrin überlegte, wie ein solches Gerät wohl aussehen könnte. Kleine Ohrstöpsel vielleicht, weiches und anschmiegsames Material, damit sie sich auch über längere Zeiträume tragen ließen. Ausgestattet mit einer ausgeklügelten Technik, die jegliche Bullshit-Schwingungen abwehrte. Sie hatte keine Ahnung, wie das programmierbar sein könnte, aber vor ihrem inneren Auge entstand bereits die Gebrauchsanweisung.
Der Bullshit-Reflektor 2015
Vielen Dank, dass Sie sich für ein Gerät aus dem Hause GehMirNichtAufDieNerven entschieden haben, ein Garant für außergewöhnliche Vorrichtungen, die das Miteinander im heutigen Alltagstrubel erleichtern.
Wir freuen uns, Ihnen heute die aktuellste Erfindung vorstellen zu dürfen: Der Bullshit-Reflektor 2015! Neueste Technologien haben es uns erlaubt, ein System zu entwickeln, das es Ihnen ermöglicht, Ihr ganz individuelles Bullshit-Programm zu erstellen. Dieses merkt sich der Reflektor und wendet es zu Ihrer Entspannung im alltäglichen Leben an, sobald Sie in eine sogenannte Bullshit-Situation geraten.
Im Folgenden finden Sie die Liste unserer Definitionen, mit Hilfe derer wir Ihnen im Anschluss erklären werden, wie Sie Ihr neues Gerät erfolgreich installieren und in Betrieb nehmen können.
Reflektor
Bei dem Reflektor handelt es sich um zwei weiße, verformbare Ohrstöpsel, in deren Inneren sich ein Mikrochip befindet, der die von Ihnen eingegebenen Informationen abspeichert, unerwünschte Schwingungen abschirmt und zurückwirft.
Bullshit-Situation
Hierunter definieren wir Situationen, die Sie persönlich zur Weißglut treiben und Ihnen einen entspannten Alltag unmöglich machen. Es kann sich sowohl um den ungeduldigen Drängler handeln, der am Geldautomaten in der Schlange so nah hinter Ihnen steht, dass Sie ihn am liebsten fragen würden, ob er nicht gleich zu Ihnen in den Rucksack springen möchte. Oder aber die nicht aufhörende Quasselstrippe, die Ihnen das Leben schwer macht, indem sie immer und überall lauthals private Geschichten in ihr Handy brabbelt. Natürlich aber auch die Nachbarn, die sich unentwegt streiten oder nachts um drei noch einmal die Anlage aufdrehen, weil sie vom Club nach Hause kommen und ihnen noch ein wenig nach tanzen zumute ist, obwohl Sie genüsslich unter Ihrer Bettdecke schlummern. Hier sind Ihnen keine Grenzen gesetzt – umso mehr Bullshit-Situationen Sie registrieren, desto umfassender wird Ihr Schutz sein.
Inbetriebnahme
Bitte installieren Sie die GehMirNichtAufDieNerven-Software über die beiliegende DVD auf ihrem Computer. Im Anschluss führt Sie unser Programm durch die einzelnen Installationsschritte.
Extended Version
Dieses besondere Feature ist für Kunden entwickelt worden, die nicht nur von der abwehrenden Wirkung des Reflektors profitieren möchten, sondern aktiv gegen die Nervensägen ihrer Welt vorgehen wollen. Auf Wunsch können Sie über eine zweite DVD die Extended Version installieren. Diese ermöglicht Ihrem Reflektor nicht nur das einfache Blockieren der Bullshit-Schwingungen, sondern wirft sie dem jeweiligen Störenfried sofort via Rückkoppelung entgegen. Beispielsweise in Form von leichten Elektroschocks bei Dränglern oder aber mithilfe von Rückschall des ausgelösten Lärms. So würde ein aufdringlicher Mensch nicht nur aus Ihrem Wahrnehmungsfeld verschwinden, sondern erhielte zusätzlich einen Schmerzimpuls oder aber einen vom Rückschall erzeugten Schreck, der sein Verhalten möglicherweise nachhaltig verändern könnte.
Gebrauch
Laden Sie den Reflektor vor der ersten Inbetriebnahme in der beiliegenden Aufladestation vollständig auf. Setzen Sie die Ohrstöpsel ein. Das normale Hörvermögen wird durch den Reflektor nicht beeinträchtigt, er ist lediglich darauf programmiert, die Bullshit-Situationen auszublenden. Dies geschieht über spezielle Sensoren. Eine jede Bullshit-Situation hat ihre ganz eigenen Schwingungen, die unsere hochmoderne Technik erkennt und blockiert. So bewältigen Sie Ihren Alltag ab jetzt ruhig und entspannt und müssen sich nicht mehr pausenlos über all die Idioten da draußen aufregen.
Wir wünschen viel Spaß mit unserem Produkt.
Ihre GehMirNichtAufDieNerven GmbH
„Süße! Hör mir doch zu, ich erzähle dir keinen Scheiß. Sie hat original gesagt, du hättest dir bestimmt absichtlich die Haare zu diesem asymmetrischen Bob schneiden lassen, damit du auf der Hochzeit am meisten auffällst. Reg dich nicht auf. Wir wissen doch alle, wie sie drauf ist. Ich meine – Hallo?! – sie folgt Kim Kardashian auf Instagram und meint deshalb, sie hätte Ahnung von Style. Also da frage ich mich doch ernsthaft ...“
Als die Bahn endlich in Kathrins Station einfuhr, trat sie auf den Bahnsteig und hörte erleichtert, wie die sich hinter ihr schließenden Türen der pausenlos Quatschenden endlich den Ton abstellten.
Auf dem Weg zur Rolltreppe rempelte sie ein älterer Herr dermaßen an, dass sie einen Ausfallschritt zur Seite machen musste.
„Ja, Herrschaftszeiten, passen Sie halt auf, wo Sie hinlaufen!“, fuhr er sie wütend an und stapfte tatternd seines Weges. Kathrin zuckte mit den Schultern und schluckte die Wut hinunter.
Ein Bullshit-Reflektor. Ja, das wär’s!