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Der Brunnen auf dem Markt (Bürgermeisters Traum)
Das Dörfchen lag scheinbar ermattet in der Glut des Mittags, recht hoch oben auf einem Hügel, der, bei aller gebotenen Phantasie, einem in der Landschaft kauernden Katzenbuckel ähnelte.
Aber halt, denn eigentlich handelte es sich um ein gar nicht einmal so kleines Dorf, verfügte es immerhin über einen Marktplatz, auf dessen Mitte ein gotisch anmutender Brunnen plätschernd das Wasser im Kreis spazieren führte, ehe er es am höher gelegenen zentralen Punkt in einem amorphen Strahl nach oben bugsierte. Ja, der Eindruck, er erbräche es, schien nicht weiter hergeholt, als das Wasser, welches durch ihn hindurch zirkulierte.
Nun, war es wirklich so heiß? Stand die Sonne hoch im Mittag? Nein, der Tag neigte sich bereits dem Abend zu, und obschon niemand im Dorf seiner leichten Bekleidung wegen fror, so klagte auch keiner über lastende Hitze. Und bei Licht besehen befand sich das Dorf eigentlich gar nicht auf einem Hügel, es mochte eine Erhebung sein - wer wollte da nachmessen?
Der Ort bot eine nicht geringe Zahl an Häuptern, die unterschiedlich hoch empor ragten, Männlein wie Weiblein, ein jeder warf den Schatten, den er verdiente - und darunter befand sich auch der Bürgermeister - all das soll, will und werde ich nicht zurücknehmen!
Der Bürgermeister war von kümmerlicher Statur, dürr und hager. Und gab er einmal einen Witz zum Besten, so gelang es niemandem, sich aufrichtig darüber zu amüsieren, was doch nicht vom Gebotenen herrührte, denn in der Humor verscheuchenden Art des Vortrags begründet lag.
Wer mochte sagen, weshalb ausgemacht dieser Mensch jenes Amt bekleidete und nicht ein solcher von stattlicher Erscheinung, rund und stämmig; jemand, der seinem Wesen nach etwas kauzig war, doch von erhabener Bodenständigkeit und gesegnet mit einem vielleicht etwas derben, doch nie je böswollenden Humor? Einer, der einen mächtigen Schatten warf, in welchem zu verweilen bedeutete, sich würdiger Finsternis und heiterer Geborgenheit anheimzugeben, als läge man tief im Wald unter einer fröhlichen Eiche?
Ich gebe zu, ein genau solcher Mensch war dieser Bürgermeister!
So sich die Bewohner des Dorfes mit diesen und jenen, ernsten und lächerlichen Sorgen herumplagten, wie überall sonst auf dieser Welt sich Menschen mit Sorgen herumplagten, schätzten sie sich doch glücklich, einen solchen Bürgermeister in ihrer Reihen zu wissen, dessen erdige, beruhigende Wesenheit vielen kleinen und großen Seelenkümmernissen und Beschwernissen zu mancher Leichtigkeit verhalf.
Des meist saß der Bürgermeister auf der alten Bank am Marktplatz - jedenfalls, sofern es nicht gar zu ungemütlich wetterte oder ein eisiger Wind winters den Frost durch die Gassen scheuchte. Von dieser Bank, aus schwerem Feldstein gehauen und einem Hünengrab nachempfunden, konnte er den Brunnen in seiner ganzen Pracht betrachten, wie dieser sich mit dem Wasser mühte. Auch - natürlich - beschaute er sich die Leute seines Dorfes, wie sie einherschritten, er kannte sie ja alle samt und sonders!
Und was er sah, war mannigfach, all das, was Menschlein-Sein begründet, daran gebrochen, was sie tun, was sie sind und wer und wie - Alte, die sich durch den November ihres Lebens schleppten, Kinder, die in alles toll hineinsprangen und - sausten, die Jugend und ihr Spiel der ziehenden Verlockung, die Tüchtigen in ihrer rastlosen Geschäftigkeit, die Trägen, Grübelnden, Bemutternden, Ekelhaften, Heiteren, Bitteren und entkernten Seelen.
Auch an diesem Tage saß der Bürgermeister auf der Bank beim Brunnen, und mehr , als diesen zu beschauen oder mit seinem Blick den Vorübergehenden zu folgen, mehr als all dies, dachte er nach, tief in sich versunken, denn er hatte einen Traum in der Nacht zuvor, einen Alp der Vernichtung und des Verderbens - bar wahren Lichts, einen Traum vom Ende dieses Dorfes.
Der Traum des Bürgermeisters
Der Ausgang befindet sich im Bereich einer nach unten führenden Treppe jenseits aller Vernunft. Wo hatte sich noch der Eingang befunden? Er war einst den Stufen gefolgt, die ihn nach unten führten, es sind dieselben, es sind aber dieselben. Die nach unten führenden Stufen des Eingangs können nicht die nach unten führenden Stufen des Ausgangs sein. Er benutzt die Stufen, die herab führen, den Ausgang, er kann ihn nicht hinaus geleiten, er führt hinab. Er führt hinaus? Obgleich das unmöglich ist, steht er jenseits des Ausgangs, was bedeutet: draußen.
Draußen, hier, um ihn herum nur Weite ohne Landschaft, eine Scheinwüste. Er dreht sich suchend im Kreise, blickt in die Ferne zum Horizont, über den neugierige Götter springen, auf welchem überbunte Weiber der Sehnsucht balancieren, sich ihrer Unnahbarkeit mutwillig, ja boshaft bewusst, da hört er das Plätschern, das so vertraute, es war von Anbeginn zu hören, doch die Götter in der Ferne und die ewig-keuschen, farbenklecksenden Sehnsuchtsweiber hatten ihn zunächst irren lassen, hört das Kreischen der Kinder, das Lachen der Mädchen, den schweren Husten der Alten, hört Vögel in den Bäumen und den Wind, der Schilder klappern macht, all dies, als sei es da. Es ist da. Er glaubt die Anstrengung der Wüste zu spüren, ihren Schein zu wahren. Ist es der ihre? Ist er die Wüste oder ihr Schatten?
Die Geräusche des Brunnens verstummen. Im gleichen Moment steht er neben dem Brunnen, steht auf dem Marktplatz, ringsherum die Häuser. Die Scheinwüste hat sich verwandelt, er hat sich verwandelt, das Dorf, das ohne Menschen, der Brunnen, der ohne Wasser, er spürt nichts, alles ist da, doch er spürt nicht, dass alles da ist, es ist nichts da, dass er für-wahr-nehmen könnte, er weiß nur, dass alles verloren ist.
Am späten Abend, als sich die Dunkelheit über das Dorf gebreitet hatte, als der Bürgermeister schon lange nicht mehr auf der Bank am Brunnen saß, sondern daheim am Kamin in seiner Stube ruhig und sanft eingeschlafen war, da schwieg mehr und mehr ein Alles und ein Jedes, auch die Tiere, und kaum ein Gefährt rumpelte noch durch die wenigen krummen Gassen mit ihrer schorfen steinernen Haut, und ein Tag war vergangen, ein neuer würde sich erheben, ja - doch die Nacht, diese Nacht verhieß nunmehr Stille.
Jedoch, das Spiel des Brunnens ruhte nicht, und so vernahm ein jeder Wanderer der Nacht - ich - dessen Plätschern und jenes mühende Geräusch, so der Brunnen das Wasser zu einer sprudelnden Krone zu formen trachtete und es doch nur zu erbrechen vermochte.