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Der Briefkastenwahnsinnige

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26.08.2002
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Der Briefkastenwahnsinnige

Wahnsinn in der Tüte

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Gestern wurde ich spätnachmittags in die geschlossene Abteilung einer Nervenheilanstalt eingeliefert: Verdacht auf akute Schizophrenie. Der Stationsarzt war sehr nett zu mir, indem er mir erklärte, dass das statistisch gesehen nichts Außergewöhnliches sei, das komme öfter vor.
„Statistisch gesehen wird jede Minute auf diesem Planeten ein Mensch schizophren“, sagte er. „Na ja, wen wundert’s, bei dem Fernsehprogramm? Glauben Sie mir, wenn wir jeden, der es nötig hätte, ärztlich versorgen wollten, müssten wir vorher mindestens eine Stadt wie Augsburg zu einem Sanatorium umbauen.“
Seltsam ist schon, wie schnell es ging bei mir. Da lebt man so vor sich hin, hat einen Job als Abteilungsleiter, ein Auto und eine Freundin, und auf einmal ist man schizophren. Es war ein Samstag, und wie jeden Samstag schlurfte ich gegen Mittag hinunter zum Briefkasten. Dort stellte ich fest, dass man mir meine Zeitung nicht geklaut hatte.

Noch dachte ich mir nicht viel dabei, schließlich kommt so etwas schon mal vor. Als aber Silvia, meine Liebste, mir tags darauf nach dem Essen in einem kleinen portugiesischen Restaurant eröffnete, sie brauche dieses Jahr zum Geburtstag kein neues Kleid von mir, weil sie ja bereits zweihundertvierundfünfzig habe und sie würde sich genauso über ein kleines Geschenk freuen, - „warum nicht mal was Selbstgebasteltes?“ - wurde mir ein wenig anders. Betrog sie mich? Womöglich mit Erwin Obermoser, ihrem hirnverkrüppelten Bürokumpel? Ich war unruhig, und noch unruhiger wurde ich, als der Kellner mein Trinkgeld nicht wollte - mit der Begründung, so wie ich aussähe, verdiene er gut und gerne doppelt so viel wie ich, und dass ich mein Geld besser behalten solle, er würde mich auch ohne Trinkgeld freundlich weiter bedienen.

Ich schleppte mich nach Hause wie ein angeschossenes Flusspferd und gab mir eine halbe Flasche Himbeergeist, obwohl ich tags darauf einen Termin beim Chef hatte. Am nächsten Morgen, wie immer, wenn ich verschlafen hatte und verkatert war, nahm ich ein Taxi, um zur Firma zu gelangen: Allerdings kostete es nur knapp die Hälfte des sonstigen Preises. Der Pförtner sagte nicht: „Guten Morgen“, sondern: „Um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus?“, obwohl ich in der Hierarchie deutlich über ihm stehe, und mein Chef gewährte mir eine Gehaltserhöhung, die mir, wie er sagte, eigentlich bereits seit zwei Jahren zustehe. Aus diesem Grund würde es nächsten Monat einen kleinen Zuschlag geben, der meine Verluste „ausgleichen solle“. Im Anschluss an das Gespräch taumelte ich mit verklebten Gedanken hinaus auf die Straße. Mir war, als hätte man mir einen halben Eimer Tapetenkleister in den Schädel gekippt.

Ich besorgte mir an einem Kiosk die BILD-Zeitung. Die Headline hieß: Was tatsächlich passiert ist und das Exemplar bestand aus vier Seiten, eine davon war links unten in der Ecke bedruckt, - das Wetter von gestern.
Zu Hause angekommen, half zunächst eine halbe Schachtel Valium, aber als ich den Fernseher einschaltete, war mein Schicksal besiegelt.
Tä-tää! - Werbung! Ein Waschmittelhersteller erklärte, dass sein Produkt zwar um einiges schlechter als die übrigen sei - und leider auch teurer, flehte aber die Zuschauer an, es dennoch wenigstens hin und wieder zu kaufen, schließlich habe es die hübscheste Verpackung.

Dann Nachrichten. Erst verlas der Sprecher eine Meldung, wonach die Fraktionen aller Parteien sich wegen Schlechtleistung gemeinsam auf eine Senkung der Diäten geeinigt hätten.
Danach gab es eine Übertragung aus dem deutschen Bundestag. Der Bundeskanzler war am Rednerpult. Sichtlich bewegt teilte er mit, dass er überhaupt keinen Überblick mehr habe über die wirtschaftliche Lage (und auch über sonst keine Lage) und nicht die geringste Ahnung, wie man das Zunehmen der Massenarbeitslosigkeit in diesem unseren Lande noch stoppen könne, nicht mal mehr mit 'ruhiger Hand'. Er setze nun alle Hoffnung darauf, dass die Opposition in die Regierungsverantwortung gehe und einen Versuch unternehme, zu 'retten, was zu retten ist’. Die Opposition lehnte ab mit dem Hinweis, dass sie auch keinen Plan habe und genauso ratlos sei wie die Regierung.
In der folgenden Debatte waren sich die Vertreter aller Parteien weitgehend einig, das Volk nicht weiter vertreten zu können. Es endete damit, dass der Bundestag sich mit großer Mehrheit der Stimmen - auflöste.
Ich saß mit stierem Blick vor dem Bildschirm und schluckte hektisch den Rest meines Valium-Lagers, als es an der Wohnungstür klingelte. Vielleicht hätte ich noch ein paar Tage durchgehalten, wenn draußen nicht mein Nachbar Zwiebelberger gestanden und mir fünfhundert Mark in die Hand gedrückt hätte - als Wiedergutmachung dafür, dass er mir seit fast zwei Jahren jeden Morgen die Zeitung geklaut hatte.

Ich selbst weiß es nicht hundertprozentig, aber nach Aussagen der Polizeibeamten, die mich in Handschellen zum Sanatorium brachten, muss ich im Anschluss auf Zwiebelberger losgegangen sein und versucht haben, ihn zu töten.
Der Stationsarzt, ein netter Kerl, erklärte mir, dass Schizophrenie im Gegensatz zu anderen Erkrankungen zumindest einen Vorteil habe. Theoretisch gesehen wenigstens, gebe es immer die winzige Wahrscheinlichkeit, dass nicht ich, sondern alle anderen um mich herum - geisteskrank geworden seien. Dann lächelte er und schloss die Tür.

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hello FF,

sehr amüsant, insbesondere hier habe ich losgelacht:

'„warum nicht mal was Selbstgebasteltes?“ - wurde mir ein wenig anders. Betrog sie mich?'

Allerdings muss es in Klammer wohl eher JEDE Lage heißen:
'...keinen Überblick mehr habe über die wirtschaftliche Lage (und auch über sonst keine Lage)...'

Viele Grüße vom gox

 

Hallo FlicFlac,

ich fand Deine GEschichte echt zum purzeln ;-) und auch ein bisschen gruselig: Man stelle sich vor, man hätte keine Alltagsprobleme mehr, man würde ja stockunglücklich, wenn man nichts zum Jammern hätte!

Liebe Grüße
ardandwen

 
Zuletzt bearbeitet:

Fernsehprogramm...Sanatorium...
Ich schwöre, das ist reiner Zufall, dass diese Worte in meiner vorhin platzierten Geschichte auch vorkommen! Gottseidank aber doch was völlig anderes...
Ansonsten schließe ich mich den Vorrednern an.
Kleinigkeiten: Im zweiten Absatz fehlt ein "s" (...gut und gerne so viel wie ich"). Da bin ich mir nicht sicher: kommt nach einem "dass" nicht ein Indikativ ("Der Bundeskanzler war am Rednerpult. Sichtlich bewegt teilte er mit, dass er überhaupt keinen Überblick mehr hat über die wirtschaftliche Lage")?

Gruß
nic

 

Tja, vermutlich würde es einen wirklich wahnsinnig machen, wenn all die schieflaufenden Kleinigkeiten des Alltags sich plötzlich korrigierten.
ich fand Deine GEschichte echt zum purzeln ;-) und auch ein bisschen gruselig: Man stelle sich vor, man hätte keine Alltagsprobleme mehr, man würde ja stockunglücklich, wenn man nichts zum Jammern hätte!

Tja, Existence und ardandwen, das sehe ich ebenfalls so. Wäre es anders, würden wir uns durch Zellteilung vermehren und hätten keine Autos erfunden.

Hm, Gox, du hast recht, ein genauer Leser, allerdings hoffe ich der Sinn erschließt sich so besser... danke für die Kritik!
Ebenfalls an Nictita, den einen Fehler habe ich verbessert, in der Indikativ-Sache bin ich unschlüssig, ich glaube aber, ich kann das so lassen.

Cu, Flic

 

Nun, das ist ein bescheuerter Titel. Was hat Wahnsinn mit Briefkästen zu tun, fragt sich der unkundige Leser.

Außerdem ist es bekannt, dass die Gesunden die Kranken sind, weil die Kranken gesund sind in dem Sinn, dass sie als einzige die Krankheit wahrnehmen.

Okay?

 

Das fragt sich der unkundige Leser in der Tat - bis er gelesen hat, dass der Protagonist zum Briefkasten geht und sieht, dass seine Zeitung nicht geklaut wurde.
(da musste ich echt schmunzeln, obwohl mich der Anfang ein wenig - ein ganz klein wenig - an meine Humorgeschichte "So sinnlos" erinnert)

Außerdem ist es bekannt, dass die Gesunden die Kranken sind, weil die Kranken gesund sind in dem Sinn, dass sie als einzige die Krankheit wahrnehmen.
Wieder so ein pseudophilosophisches Robotergeschwafel ;-) Nicht ernst gemeint, tinte
Aber dann könnte man genausogut behaupten, die, die die Wahrheit sagen, lügen, weil die Lügner die Wahrheit sagen in dem Sinn, dass sie als einzige die Lüge wahrnehmen.
(Das letzte Wort ist hier übrigens 100 Prozent wörtlich zu verstehen: Die Lügner nehmen ihre Lüge ja für wahr ;-) )

 

Die kranken Lügner sind insofern als wahrheitsliebend zu verstehen, indem sie die Lüge nur den Gesunden erzählen, die sich, ihrer Lügen bewusst, nur den Kranken gegenüber gesund verhalten, selbst wenn diese ihnen vorzulügen versuchen, dass sie die Krankheit verstehen, die in einem Verstehen der Wahrheit liegt.

 

Hallo FlicFlac,

auch diese Satire verdient es allemal wieder hervorgeholt und gelobt zu werden.
Gut gemacht! Nix zu meckern und die Umsetzung stellt ein klassisches Beispiel dafür da, wie man aus einem normalen Plot eine Satire machen kann: man kehrt sozusagen alles um und beschreibt das Gegenteil. Kishon arbeitet fast ausschließlich so und hatte damit stets Erfolg.

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Lakita,

danke! Ich habs aber auch schon erlebt, dass der Text nicht verstanden wurde... *fg

Robert

 

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