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Der Brief
Warum? Warum war sie so gemein, was hatte ich ihr nur getan? Tränen, viele, viele Tränen. Ich wollte doch nur mein eigenes Leben! Und noch eine Träne, ein Schluchzer, so tief, dass es jedem das Herz gebrochen hätte, wenn einer da gewesen wäre. Doch was nützte es, es war niemand da, niemand konnte mich hören, niemand konnte mich sehen, niemand konnte mich fühlen, denn ich war unsichtbar geworden. Es waren soviele, meine Augen hielten sie nicht mehr. Sie tropften nieder, immer tiefer, bis sie das Papier, das vor mir lag, fast aufgelöst hatten. Verschwommen erkannte ich die erste Zeile. „Liebe Samira“, doch wer war das überhaupt? Ich war doch unsichtbar, es war doch niemand da! Nur ich, nur eine kleine, unbedeutende Person, die von allen verlassen war. „Ich halte es nicht mehr mit dir aus! Und wenn ich ehrlich sein soll, niemand kann dich ertragen! Warum sollte ich es also können?“ Wie schmerzten diese in Hast und Wut geschriebenen Wörter meinem Herzen. Und wieder lief eine kleine, salzige Wasserperle über meine Wange. „Du hast doch immer nur an dich gedacht! Kein Wunder, dass Kiro sich mit einer anderen trifft!“ Wieso? Warum war sie so rücksichtslos, so schrecklich direkt? Es gab keinen Grund dafür, sie ist doch meine beste Freundin...oder ist sie es nicht mehr? „Als du angefangen hast dich für deine Vergangenheit zu interessieren, hast du alles nur noch schlimmer gemacht. Du bist in deinem Selbstmitleid doch förmlich untergegangen!“ Ein Schluchzer... „Es war doch gerade alles geklärt mit deiner Drogengeschichte und das Heim wollte dich doch auch wieder aufnehmen, bis du deinen Schulabschluss hast. Und dann bist du einfach so in mein Zimmer geplatzt und hast dich bei mir ausgeheult. Ich habe erst gedacht, dass du es bei diesem einen Mal belässt, aber nein, du musstest mich total fertig machen mit deinen dummen Ideen. Was denkst du eigentlich, was ich für eine Angst hatte, als du da oben auf dem Dach gestanden hast und runterspringen wolltest?!“ Es tat mir so weh. Vielleicht hätte ich damals wirklich springen sollen... Überhaupt! War das nicht der Ausweg aller Probleme? Einfach davonfliegen, nein, schweben und einen Schutzengel habe ich sowieso nicht, der mich retten würde. Vorsichtig stand ich auf. „Als ich das gesehen hab, dachte ich an all die schönen Zeiten mit dir und hoffte, dass du noch zur Besinnung kommen würdest.“ Ich nahm den Brief in die Hand. „Aber es musste dich ein Polizeipsychologe weglocken. Und du bist nach diesem Vorfall nicht einmal zu Frau M. gegangen, obwohl du es solltest! Alle haben doch gesagt, dass es das Beste ist, darüber zu reden. Und ich dumme Kuh hab dich da auch noch in Schutz genommen...“ Ich ging über den billigen Teppich zur Tür. „Aber dann hast du ja unbedingt mit Kiro abhauen müssen, was für eine dumme Idee!!! Kein Wunder, dass du schwanger geworden bist! Und weißt du, ich gebe Frau M. recht: Du bist doch selber Schuld!“ Ich öffnete die Tür und ging hinaus. „Weißt du, dass es mir echt gut tut, dir alles mal ins Gesicht zu sagen? Warum bist du auch an deiner Vergangenheit interessiert? Was bringt es dir zu wissen, wer deine Eltern waren und warum musstest du uns alle so vollheulen, dass du uns so furchtbar Leid getan hast?“ Leise schloss ich die Tür und sah mich um. Der Flur war wie ausgestorben. „Soll ich dir sagen warum? Weil du dachtest, nur weil du eine uneheliche VON bist, bist du was besseres, nicht wahr? Du wurdest immer unerträglicher, vorallem, weil du das Kind nicht abtreiben lassen konntest. Du bist uns allen hinterhergerannt, wie eine Klette hast du dich benommen.“ Mein Kopf pochte, als ich mich von Türrahmen zu Türrahmen schlich. Mein Herz hämmerte und mein beschissener, dicker Bauch behinderte mich beim Laufen. „Kiro wollte dir doch helfen, er wollte das Kind mit dir! Du hast es versaut, verstehst du, du!! Einfach wieder mit dem Kiffen angefangen, was denkst du dir eigentlich! Du hast das Leben von deinem eigenen Kind kaputt gemacht!“ Endlich sah ich das Treppenhaus. Ich riss die Tür auf und stürzte die Treppen hoch. „Du hast uns beklaut, weil du Geld brauchtest um die Drogen zu bezahlen. Ich war so enttäuscht von dir, dabei wollte ich doch Patentante werden. Samira, wir haben alle unsere Probleme und du bist auch nicht die Einzige auf der Welt, also benimm dich auch so!“ Schon nach der ersten Etage war ich völlig aus der Puste. Trotzdem hetzte ich weiter die Stufen hoch. „Und gib nicht immer Kiro die Schuld, denn du warst schon vor deiner Schwangerschaft so selbstmitleidig! Ich habe endgültig die Nase voll! Ich tue nichts mehr- hörst du?? NICHTS MEHR- für dich!“ Erschöpft war ich schließlich oben angekommen. Die Tür, die auf das Dach des Gebäudes führte, war nicht verschlossen, wie damals. „Ich bin nun endgültig fertig mit dir und ruf mich nicht mehr an, es nervt!!“ Ich griff in meine Tasche. Das Rot des echten Schweizer Taschenmessers glänzte im Mondschein. Was für eine schöne Nacht! „Von jetzt an kannst du tun und lassen was du willst, ich habe nichts mehr mit dir zu tun.“ Vorsichtig öffnete ich es. Die Schneide blitzte auf. Ich prüfte die Schärfe des Messers, indem ich meine Fingerkuppe anritzte. Das dickflüssige, rote Blut drang sofort aus meinem Finger. „Ich wollte dir das nur nochmal sagen, bevor du wieder wer weiß was dir antust und es vielleicht nicht überlebst...“ Wie leicht war die Schneide in meinen Finger eingedrungen. Ich fragte mich, ob das genauso gut beim Bauch funktionieren würde. „So, jetzt bin ich wirklich fertig.“ Ich hielt das Messer so in der Hand, dass es genau auf meinen Bauchnabel zeigte. Und dann stach ich einfach zu. „Tanja, die dachte, in dir eine wirklich gute Freundin gefunden zu haben.“ Es tat weh und beinahe hätte ich geschrien, aber ich unterdrückte es und stach erneut in meinen verfluchte Bauch und dann nochmal und nochmal... Mein T-Shirt wurde auf einmal so rot und ich hörte Schritte auf der Treppe. Mir wurde schwindelig und schlecht und ich fiel hin. Doch was machte es schon? Und ich stach weiter zu. Die Tür zum Dach öffnete sich und ich schloss die Augen, als ich fühlte, wie Blut in mir hochstieg... Ganz entfernt hörte ich Schreie, Schritte... und was war dieses helle, warme Licht direkt vor mir? Mein Körper schwebte, genau wie ich es mir vorgestellt hatte....