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Der Brief
Herr Sebastian drückte die Sendentaste, erhob sich von seinem Stuhl, und wartete nicht auf die elektronische Eingangsbestätigung seines Dokuments. Die Post-Quanten-Kryptographie hatte eine sichere Informationsübertragung wieder möglich gemacht, und sollte ein Fehler passiert sein, so wird man es ihm rechtzeitig mitteilen.
Es war zehn Uhr dreißig, die Sonne schien, und Herr Sebastian ging wie gewöhnlich spazieren. Herr Sebastian liebte die ausgedehnten Spaziergänge mit seinem Terrier, und beide verband eine gewisse Neugierde auf die Welt. Sie suchten immer neue Wegkombinationen, entdeckten hie und da unbekannte Straßen und Häuser, sahen und rochen die Gärten, und kümmerten sich wenig um das Wetter. Beide begrüßten Bekannte sowie Fremde freundlich, diese Eigenschaft war bei Herrn Sebastian anerzogen, der Hund konnte nicht anders. Der Tag versprach ruhig vorüberzugehen. Herr Sebastian war zufrieden. Er hatte gut die Hälfte seines Lebens hinter sich, fühlte sich jung, und da das durchschnittliche Lebensalter dank des stetigen Fortschritts in der Medizin und des gesteigerten, vielleicht sogar religiösen Gesundheitsbewußtseins, bei dreiundneunzig Jahren lag, machte er sich über den Tod selten Gedanken. Er hatte vor einigen Jahren seinen Wunsch nach einer traditionellen Erdbestattung im Sarg bei einem Notar hinterlegt. Eine Feuerbestattung empfand er unpassend.
Herr Sebastian hatte weder Frau und noch Kinder, es hatte sich nicht ergeben. Dabei war Herr Sebastian ansehnlich, man konnte ihn durchaus als attraktiv bezeichnen. Er fühlte sich zu Frauen hingezogen und bewunderte manchmal seine Freunde um ihre Familien, die vom Staat erwünscht waren und gefördert wurden. Die Folgen der niedrigen Geburtenraten vergangener Jahrzehnte waren immer noch nicht vollständig überwunden, trotz der allgemeinen Konzentration auf die Familie als Grundbausteine der Gesellschaft. Der Staat erkannte jede generationenübergreifende Lebens- und Beziehungsgemeinschaft, bestehend aus drei oder mehr Personen als Familie an. Eine Ehe oder Blutsverwandtschaft zwischen zwei der drei Personen konnte, musste aber nicht, bestehen. So kamen viele in den Genuss der Familienförderung. Sollte der Familienverband früher als drei Jahre nach dessen staatlicher Anerkennung aufgelöst werden, dann konnten bereits erhaltene Leistungen zurückverlangt werden.
Herr Sebastian hätte in seiner Jugend einige Frauen gerne näher kennengelernt, dennoch nahm er keinen Kontakt mit ihnen auf. Das war vor der Zeit der totalen Geschlechtergleichstellung, und Herr Sebastian war damals von den subtilen Regeln des korrekten Umgangs zwischen Mann und Frau verwirrt. Es war schwer den richtigen Ton zu finden, und eine Anklage wegen sexueller Belästigung war nichts Ungewöhnliches in jenen Jahren. Dabei war Herr Sebastian kein Mann von öffentlichem Interesse oder vermögend. Ein Schulkollege hatte so einen Prozess durchlaufen, und es dauerte fast neun Monate bis zu seinem Freispruch.
Auf seinen Spaziergängen ließ Herr Sebastian sein Handy, also seinen Ausweis, seine Gesundheitskarte, sein Bezahlungsmedium, und seinen Lebensretter - die Notruffunktion mit automatischer Geolokalisation - zu Hause. Er brauchte es nicht, da er während seiner Spaziergänge weder jemanden erreichen noch von jemandem erreicht werden wollte. Und einkaufen ging er lieber ohne den Hund. Auch schätzte er die Gefahr mehrere Tage verletzt und unentdeckt in Gehweite seines Hauses zu liegen, als gering ein. Die Menschen gingen weiterhin zu Fuß oder fuhren mit dem Fahrrad. Das Elektroauto als umweltfreundliches und sauberes Transportmittel für den Individualverkehr hatte sich nicht durchgesetzt. Es traten immer häufiger Fragen auf, deren Antworten schwieriger zu finden und komplexer als bisher angenommen waren, vor allem jene woher der Strom, mit dem die Autos geladen wurden, kam. Er wurde viel über Energieerzeugung und Energieeinführung im Land diskutiert, obwohl der Gesamtstromverbrauch unter die angestrebten Zielvorgabe von 450 Terawattstunden gesunken war und zu 35 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen wurde. Herr Sebastian empfand die Windräderplantage unästhetisch und Sonnenkollektoren unwirtschaftlich, da der Anteil der Sonnenstunden pro Jahr in seiner Heimat bei nicht einmal 20 Prozent lag.
Nach eineinhalb Stunden waren Herr Sebastian und sein Hund wieder zu Hause. Herr Sebastian legte die Leine an seinen gewohnten Platz, räumte die Spülmaschine aus, und warf einen Blick auf den Bildschirm des Computers – das Dokument war angekommen, vermutlich würde ein neuer Auftrag in Kürze folgen. Der Hund hatte sich inzwischen in seinem Stoffhundebett gemütlich zusammengerollt und schaute ihn selig mit seinen braunen Hundeaugen an. Nach einem kurzen Seufzer schlief er ein. Der Hund passte zu Herrn Sebastian, er hatte ihn vor ein paar Jahren aus dem Tierheim zu sich nach Hause geholt. Es war eine wohl überlegte, aber letztlich doch spontane Entscheidung. Er hatte dem Mitarbeiter des Tierheims erklärt, dass der Hund nicht besonders klug oder schusssicher sein musste, aber freundlich und anhänglich sein sollte. Er sollte nicht zu groß sein, keine chronischen Krankheiten oder Leiden haben und jünger als fünf Jahre sein. Einen Welpen wollte Herr Sebastian nicht, und er fand was er suchte.
Herr Sebastian kochte sich eine Tasse Kaffee, knabberte eine Nussmischung mit edelherben Schokoladenstückchen und begann die Post zu öffnen. Nun hielt er einen Brief vom Amt für Wohnraummanagement in der Hand, der mit einer Briefmarke frankiert war. Auf dieser Marke war ein Paar in Berchtesgadener Tracht zu sehen, im Hintergrund die Europaflagge. Jemand hatte mit schwarzer Tinte „persönlich“ auf den Briefumschlag geschrieben. Die Schrift war leicht lesbar und trotzdem elegant, die Schrift einer Frau, wie Herr Sebastian vermutete. Der Brief war kurz und auf Papier, das das Gütesiegel für nachthaltige, klimaneutrale und faire Produktionsbedingungen zierte, gedruckt. Das Papier hatte eine angenehme Schwere, und die Oberfläche war weder rauh noch zu glänzend und erweckte den Eindruck unaufdringlicher und ernstzunehmender Präsenz. Dies war ungewöhnlich, denn normalerweise kommunizierte der Staat mit seinen Bürgern elektronisch, aus ökonomischen, sowie ökologischen Gründen, und wegen der allgemeinen Transparenz. Das letzte Schreiben dieser Art hatte Herr Sebastian vor etwa acht Monaten herhalten, es war die Aufforderung sich an der überraschend notwendig gewordenen Neuwahl des Parlamentes zu beteiligen. Zwei Minister und die Beauftragte für europäische Werte und Familie waren beim Betreten eines illegalen Wettbüros fotografiert worden. Die Erklärung der Beauftragten sie sei zu Forschungszwecken dort gewesen, wurde von der Presse ins Lächerliche gezogen, über die Beweggründe der Minister wurde nichts bekannt. Diese Sache war lästig. Gelegentlich schickten religiösen Verbände und Kirchen Einladungen zu ihren Veranstaltungen und beigelegte Spendenaufrufe, die auf solchem Papier gedruckt waren aus. Offiziell vom Staat sanktionierte Kirchen mit dem Recht Steuern einzutreiben, gab es schon lange nicht mehr. Religionsverfassung und Kirchenrecht waren konfus, und man hatte beschlossen, Kirche und Staat strikt voneinander zu trennen. In der Bevölkerung hatte sich kein Widerstand geregt, und Religion war Privatsache. Herrn Sebastian hatte das Thema nicht interessiert, er war Agnostiker. Er besuchte die örtliche katholische Kirche zu Ostern und Pfingsten, aber nicht zu Weihnachten, das ganze Brimborium um die Heilige Familie war ihm zu viel, und die Kommunion hatte er als Zehnjähriger zum letzten Mal empfangen. Aber er war ein westlicher Kulturchrist und spendete großzügig für die Erhaltung bedeutender kirchlicher Bauwerke, Ärzte ohne Grenzen, und das Tierheim.
Der Inhalt des Briefes war sachlich und machte Herrn Sebastian darauf aufmerksam, dass er als männliche Einzelperson ohne Migrationshintergrund und Behinderung in einem Haus mit einer Grundfläche von hundertfünfzig Quadratmetern und eintausend dreihundert Quadratmetern Garten lebte. Sein Haus liege zentral, mit guter Anbindung an den öffentlichen Verkehr und nahe einer staatlichen Gesamtschule, eines Verbrauchermarktes, sowie einer Gemeinschaftspraxis für Allgemeinärzte. Dem Amt sei bekannt, dass Herr Sebastian unverheiratet sei und keine Kinder habe. Weiter entnahm Herr Sebastian dem Brief, dass das Amt eine lange Warteliste von Wohnraumsuchenden mit Dringlichkeitsstufe B+ oder höher abzuarbeiten hatte. Daher machte man ihm folgendes, einmaliges und zeitlich begrenztes Angebot. Sollte sich Herr Sebastian dazu entschließen sein Haus mit Grundstück dem Amt zu übertragen, dann kann er lebenslang und kostenfrei im „Haus der Sonne“, einer komfortablen Wohnresidenz für anspruchsvolle Alleinstehende am Rand der Stadt, wohnen. Selbstverständlich sind die vom Haus angebotenen kulturellen, sportlichen, sowie künstlerisch-kreativen Freizeitangebote mitinbegriffen. Ein kleiner Beitrag für eventuell anfallende Materialkosten und Sportgeräteleihgebühren ist jedoch zu entrichten. Zusätzlich hat Herr Sebastian, ab Pflegestufe B, einen Anspruch auf eine private Pflegerin, die der Landessprache mächtig ist, und, auf Wunsch, auch blond. Haustiere sind ausdrücklich erlaubt und werden, wenn der Besitzer dazu nicht mehr in der Lage ist, liebevoll von einem mobilen Tierpflegeteam betreut. Sollte sich Herr Sebastian mit dem Amt in Verbindung setzen wollen, so könne er Frau Klein unter der Rufnummer 03500 80805, Montag bis Donnerstag, von acht bis dreizehn Uhr erreichen.
Herr Sebastian wunderte sich kurz, zerriß den Brief und warf ihn in den Müll. Er blickte auf den Computerbildschirm. Ein neuer Auftrag war eingegangen, und er fing an zu arbeiten. Herr Sebastian war zufrieden.