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Der Brief
Wie jeden Morgen hastete ich die Treppen herunter, schwang mich auf´s Fahrrad und trat in die Pedalen. Der Wind wehte durch mein offenes Haar und ich atmete die frische Morgenluft tief ein. Das Zwitschern der Vögel war das Einzige, was die angenehme Stille des Morgens ausfüllte. Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und genoss das hier und jetzt. Mein Arm fing an zu zucken - ein Zeichen, dass er ausgestreckt werden wollte. Ich gab dem Impuls nach und streckte ihn weit, weit aus.
Ein Gefühl der Freiheit legte sich wohlig über meinen Verstand und in mein Herz.
Ich fuhr einen kleinen Berg herunter und wurde immer schneller. Wie jeden Morgen wäre ich am liebsten weiter gefahren, hätte die Kurve so geschnitten, dass genug Zeit blieb, um zu reagieren, falls ein Auto kommt. Ich drehte meinen Kopf nach rechts, um dem Geräusch des Fahrtwindes zu entkommen. Ich lauschte.
Stille/Nichts.
Ob ich es wagen sollte, ?
Ich wägte kurz ab.
Was totaler Schwachsinn war, wenn man bedenkt man, dass es sich hier um Sekunden handelte, beziehungsweise um drei Pedalenschläge mehr, die ich treten müusste, um mein vorheriges Fahrtempo zu erreichen. Hinzu kommt, das meine Bremsen nicht mehr die Besten sind. Ich hatte schon ewig vor, sie nachziehen zu lassen. Genauso wollte ich mir seit Wochen einen Fahrradhelm zulegen.
Aber wie so oft, beleibt das Gedachte nur das Gedachte.
Ich verließ mich auf mein Gehör, schnitt die Kurve und trat voll in die Pedalen. Nach ein paar Metern richtete ich meinen Oberkörper auf und freute mich, über meinen Erfolg, nicht abbremsen zu müssen. Okay, die nächste Hürde, die Hauptstraße. Drei Richtungen sind einzukalkulieren, links, rechts und die abbiegenden Autos aus der Straße, aus der ich gerade kamomme. Wenn ich Glück habe, komme ich, ohne abzusetzen über die kleine Verkehrsinsel, die die Straße in zwei Teile trennt. Ich sah nach links, rechts, links, rechts über meine Schulter den Rücken, links, rechts. Check! Und wieder fuhr ich mit Vollgas über die Straße. Jippiiii, was für ein Glück!. Ich fuhr einen kleinen Bogen an der Hauptstraße entlang, durch eine kleine n mini Grünanlage. Park. Ich beugte meinen Oberkörper nach links, um zu sehen, ob Gegenverkehr kam., Nichts., Ookay, weiter treten. Der An meine Ohren drang Autolärm nahm zu und die Luft veränderte sich durch die vielen Abgase. Schnell weiterfahren. Jetzt fuhr ich auf einem Fußweg mit Gegenverkehr und ein paar großen Laternen am im Weg. Vorsicht und Geschick sind hier gefragt. Die berühmte Situation, wenn man jemanden auf sich zu kommen sieht und sich fragt, z. Zu welcher Seite weiche ich aus. Links – rechts – links. Am schönsten ist es, wenn man sich gegenseitig anlacht, weil der Gegenüber das Gleiche denkt. Amüsant ist es, wenn man einen vernichtenden Blick zugeworfen bekommt, oder noch besser, ein entrüstetes Kopfschütteln. Sso nach dem Motto, siehst du nicht, dass dieser Fußweg mir gehört., Wie kannst du´s nur wagen? . Ich grinse trotzdem., Das macht mir mehr Spaß. Okay, das heikle Stück habe ich geschafft. Als Nächstes geht´s voll Karacho leicht abwärts, unter einer kleinen Unterführung entlang. Hier gebe ich richtig Gas, denn am Ende heißt es treten, treten, treten, um aus der Senke wieder rauszukommenwenn es wieder nach oben geht. Wenn ich mit meinen Kindern hier lang fahre, schreienjulen wir immer vor Freudeauf. Das macht riesen Spaß.
Ich machte mich innerlich bereit, die letzte Hürde auf meinem Weg zur Arbeit zu nehmen.
Schaltete vom fünften in den dritten Gang, als ich plötzlich meine Schwester sah. Ich freute, mich sie zu sehen. Wir haben seit drei Jahren keinen Kontakt. Es sei denn wir begegnen uns zufällig auf einem Stadtfest. Dann grüßen wir uns und das war´s. Ich denke oft an sie, was sie wohl gerade so macht und ob es ihr gut geht.
Wir blieben stehen und begrüßten uns mit einer flüchtigen Umarmung. Mir fiel auf, dass ich ganz schön nach Luft japste. Sofort fanden wir uns in einem zügigen Gespräch wieder, als ob keiner von uns die Stille ertragen könnte. Ich fragte nach ihr und ihren Kindern und ob alles okay bei ihnen sei.
Sie bejahte und stellte mir nicht die gleiche Frage. Das Einzige was sie wissen wollte, war, wo ich jetzt hinfahre und wo ich genau arbeite. Ich beantwortete ihre Fragen und erzählte ihr, dass ich heute Morgen an sie gedacht habe und das ich mich heute bei ihr melden wollte. Sie sagte, ach so, warum denn?
Ich wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für mein Anliegen war. Sie musste zur Arbeit. Ich musste zur Arbeit. Ich hätte ihr so gern gesagt, dass ich mir mehr Kontakt wünschte, dass ich meine Neffen gern wieder sehen wollte, dass ich wieder ein Teil ihres Lebens sein wollte und dass sie wieder ein Teil meines Lebens sein sollte.
Zeitgleich sahen wir zu der Uhr am Gebäude neben uns und es war klar, das Gespräch ist beendet.
Wir verabschiedeten uns und ich rief ihr hinterher, dass ich mich später bei ihr melden würde.
Den Brief, den ich nach unserem letzten Treffen, welches schon länger zurückliegt, geschrieben hatte, hielt ich in meiner Tasche verborgen.
Er war noch nicht vollendet!
Ich schaltete in den ersten Gang und kämpfte mich die letzten Meter der Brücke hoch. Ich sah nach rechts und bestaunte das Schloss, dann sah ich nach links und bewunderte die Berge und den Brocken. Ich liebe diese Stadt. Jeden Tag erfreue ich mich an ihrer bunten Vielfalt. Eine meiner besten Entscheidungen war es, hierher zurückzukehren. Ich fuhr die Brücke runter und sah auf die vielen Gleise der Harzer Schmalspurbahn. Der Geruch von Kohle stieg mir in die Nase. Schnell weg! Die letzten Meter zu meiner Arbeitsstelle waren unspektakulär. Ich schloss mein Fahrrad an und kramte meinen Schlüssel aus der Tasche. Mit positiven Gedanken und in stiller Freude, meiner Schwester begegnet zu sein, schloss ich die erste Tür der Praxis auf,als mir plötzlich schwindlig wurde. Ich umschloss meine Tasche mit festem Griff, bevor ich das Gleichgewicht verlor. In diesem Moment wusste ich, dass es vorbei war, dass dies mein letzter Atemzug war. Ich fiel auf den Boden und alles um mich herum wurde schwarz. Meine letzten Gedanken waren bei meiner Familie, meinen Kinder, meinem Mann und meiner Schwester.
>>Liebe Anni,
Es war mir wie immer eine Freude, dich zu sehen, auch wenn es nur ein paar Minuten waren, so genieße ich dein Naturell und freu mich, wenn wir uns begegnen.
Nun ist es schon drei Jahre her, dass wir regelmäßigen Kontakt hatten.
Immer wieder verspürte ich den Impuls, dich an zu rufen oder mal bei dir vorbei zu kommen. Tat es aber nicht, aus Rücksicht. Du meintest, du bist noch nicht so weit und dass du dich meldest, wenn die Zeit für dich gekommen ist. Drei Jahre sind eine sehr lange Zeit, zumindest aus der Sicht des Wartenden und so sehe ich, wie schnell die Zeit vergeht, wie kostbar sie ist. Ich verspüre immer mehr den Drang, wieder Kontakt zu dir aufzubauen.
Ja, ich wünsche mir mehr Begegnungen mit dir. Begegnungen, die länger als zwei Minuten andauern und die anderen Gesprächsstoff beinhalten. Ich weiß nicht, was passiert ist oder wie sehr ich dich verletzt habe, dass du den Kontakt zu mir und meiner Familie abgebrochen hast. Ich weiß auch nicht, ob das jetzt noch wichtig ist.
Anni, ich weiß, dass wir sehr verschieden sind und das ist auch gut so. Ist es nicht die Vielfalt unseres Denkens, die uns erst ausmacht?
Streit und Meinungsverschiedenheiten gehören dazu, genau so wie Versöhnung, Liebe und Vergebung. Ich will später nicht bereuen oder sagen ... ach hätte ich man ... .
Egal wie du dich am Ende entscheidest, du sollst wissen, dass ich dankbar bin für dich, dass ich dich respektiere und lieb habe.
Ich drücke dich.
Beeke