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Der Brief
Der Brief
Ich starrte auf den Brief, dessen Worte vor mir verschwammen und sich zu unscharfen Gebilden zusammenfügten. Die Tränen kullerten mir über die Wangen. Meine Hände begannen zu zittern. Immer wieder überflog ich diesen einen Satz, geschrieben in der mir so vertrauten Handschrift. Wie konnten sechs Worte so ausdrucksstark sein? Sechs Worte, die alleine bedeutungslos wären. Aber fügte man sie richtig zusammen, bedeuteten sie so viel. Wut, Schmerz und der Wunsch „sie“ vor allem Leid der Welt zu beschützen. All das steckte darin. Wieder las ich mir die Worte durch. Die Worte, die vor dreißig Jahren aneinandergereiht wurden. Von diesen zwei Menschen, die mir heute so unendlich viel bedeuten, die damals keine Ahnung hatten, dass ich jemals geboren werden würde, dass ich jemals diesen Brief in meinen Händen halten würde. Sie dachten nur an „sie“, denn „sie“ war es, die verletzt worden war. Nicht einmal „sie“ konnte damals wissen, dass ich eines Tages hier auf dem Boden sitzen würde und dass ich, ihr Fleisch und Blut, über dieses schmerzvolle Kapitel ihres Lebens erfahren würde. Und das durch diese Briefe. Briefe, die jahrelang versteckt waren und erst jetzt, durch meine Neugier ans Tageslicht kamen. Erneut kamen mir die Tränen.
Ich wusste doch, dass es einen solchen Abschnitt in ihrem Leben gab, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Innerlich spürte ich Wut in mir aufkommen. Niemand durfte so mit meiner Mutter umgehen. Niemand würde so mit meiner Mutter umgehen, so dachte ich bis zu diesem Tag. Aber es gab jemanden. Jemand kaltherziges. Jemanden, der meine Mutter nicht liebte. Wie war das möglich? Wie konnte man diese Frau nicht lieben. Diese Frau, die mir das Leben geschenkt hatte, die auch nach so vielen Jahren noch ihre Träume verwirklichte. War sie denn glücklich? Oder belastete sie die Erinnerung an diesen Jemand immer noch? Ich wünschte mir, für sie dagewesen zu sein, aber das konnte ich nicht. Ich war noch nicht geboren. Geboren, um diesen Menschen, den ich so sehr liebte zu beschützen. Zu beschützen vor allem Leid der Welt. Oder überreagierte ich? War das alles wohl gar nicht so schmerzvoll und dramatisch wie ich es empfand? Konnten diese Briefe mir überhaupt vermitteln, was damals passiert war? Eigentlich war es doch gar nicht so schlimm. Von solchen Geschichten handelte doch jeder dritte Liebesroman. Aber das war kein Roman. Diese Briefe waren real. Genauso wie ihr Inhalt. Ich konnte die Briefe nicht einfach wieder ins Regal stellen wie ein Buch, denn das waren sie nicht. Diese Briefe schilderten den Schmerz, der meiner Mutter zugefügt worden war. Meiner Mutter, die so stark und doch so verletzlich wirkte. Konnte man so eine Erfahrung jemals verarbeiten? Wie konnte man nach so etwas wieder lernen zu vertrauen. In Filmen war das immer so leicht, nach ein paar Tagen Liebeskummer lernte man die Liebe seines Lebens kennen und alle waren glücklich. Würde ich so etwas in einem Film sehen, wäre ich unberührt geblieben, aber das hier war kein Film. Es war das Leben meiner Mutter. Und mit dem hatte man nicht zu spielen. Niemand! Ich musste an die letzten Jahre zurückdenken. Wie oft hatte ich meine Mutter verletzt, ohne es zu merken. So viele Male hatten wir uns gestritten, so viele Male hatte ich schlimme Dinge gesagt. Wieder musste ich weinen.
Ich würde versuchen eine bessere Tochter zu sein. Ich wollte sie nie wieder verletzen, nie wieder Schmerz in ihren Augen sehen müssen. Denn sie hatte bereits genug davon in ihrem Leben gehabt. Aber hätte sie das nicht auch ohne Grund verdient? Musste ich erst so etwas erfahren, um eine bessere Tochter zu werden? Mir liefen die Tränen über den Mund. Warum kamen mir diese Gedanken erst nach 17 Jahren. 17 Jahre, in denen ich egoistisch und zickig war. 17 Jahre, in denen ich nicht über meine Worte nachgedacht hatte. Dabei konnten Worte so ausdrucksstark, ja so verletzend sein, obwohl sie doch alleine völlig bedeutungslos waren. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ich weinte und weinte und spürte, wie der Schmerz in meinem Herzen immer unerträglicher wurde. Der Gedanke daran, meine Mutter leiden zu sehen, war der schmerzhafteste, den ich je empfand. Sechs Worte, die so Vieles in mir auslösten. Sechs Worte, die so Vieles über das Leben meiner Mutter verrieten. Sechs Worte, die so viele Fragen aufwarfen. Fragen, vor deren Antworten ich mich fürchtete, denn sie würden noch mehr Schmerz bedeuten. Sechs Worte, geschrieben von den Eltern meiner Mutter, die womöglich den selben Schmerz beim Schreiben verspürten, wie ich nun beim Lesen. Ich würde sie so gerne fragen, aber ich hatte Angst, den Schmerz in ihren Augen sehen zu müssen. Ich wollte weder sie, noch meine Mutter daran erinnern, was passiert war. „Sie hat es doch schwer genug!“. Sechs Worte, die die Kraft haben, mich nachts stundenlang wach zu halten.