Der Brief
Tag 1
Voller freudiger Erwartung lief er die Treppe hinunter in die Eingangshalle. Dort angekommen, kramte er aufgeregt in seinem Geldbeutel nach dem kleinen Schlüssel, den er immer dort aufbewahrte, seit der ihm einmal vom Schlüsselbund gefallen war. Er steckte ihn in das dazu passende Schloß, drehte ihn eine viertel Drehung nach links und öffnete den Briefkasten mit der Aufschrift: R. Dorn App.136. Von seinem Gesicht wich die Freude und enttäuscht sperrte er den Briefkasten wieder zu und verließ das Haus. Dabei wußte er doch ganz genau, daß die Post nie um diese frühe Stunde kam. Auf dem Weg zum Auto ging es ihm im Kopf herum. „ ... und sie sagte noch, sie würde den Brief noch diese Woche abschicken. Und das war vergangenen Donnerstag. Heute ist bereits Montag. Hätte sie ihn letzte Woche eingeworfen, dann müßte er doch längst da sein! Oder wird die Post einfach immer langsamer? Aber wenn sie ihn angenommen erst Sonntag eingeschmissen hat? Morgen, dann sollte er aber morgen sicher da sein ...“ Er zog seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche, sperrte sein Auto auf und fuhr, wie jeden Morgen, zur Arbeit. Während der ganzen Fahrt konnte er an nichts anderes denken, als den erwarteten Brief. Sie hatte nur das Nötigste gesagt, und eben, daß sie ihm einen Brief schreiben wolle. Im Laufe des Tages vergaß er den Brief, da es in der Arbeit zur Zeit wieder mal hoch her ging und keine Zeit für Grübeleien vorhanden war. Nur in der Mittagspause mußte er kurz lächeln, da ihm wieder einfiel, daß der Postbote ja noch gar nicht da gewesen sein konnte diesen Morgen. „ ... seit wann wird denn die Post vor sieben Uhr zugestellt, das wäre ja was ganz Neues, käme fast schon einem Wunder gleich. Was spinne ich hier eigentlich rum. Der Brief ist sicher schon im Kasten und wenn ich heimkomme wartet er sicher schon darauf, endlich befreit zu werden ...“ Er mußte über seine eigenen Gedanken schmunzeln. Und für den Rest des Arbeitstages konnte man auf seinem Gesicht die gleiche freudige Erwartung erkennen, mit der er heute Morgen aus seiner Wohnung die Treppe hinunter gelaufen war. Der Tag verging schnell. Und genauso schnell wich auch diesmal wieder die freudige Erwartung aus seinem Gesicht, als er abends, von der Arbeit zurück, abermals enttäuscht den Briefkasten wieder schloß und mit einem Packen Werbung und einem Brief der Hausverwaltung in der Hand die Treppe hoch zu seiner Wohnung ging. „ ... also morgen früh dann aber ... „ dachte er noch, war aber nicht einmal selbst davon überzeugt. In seiner Wohnung öffnete er den Brief der Hausverwaltung, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß ab Mittwoch, neun Uhr, wegen Anstricharbeiten keine Pkws mehr im Hof geparkt werden dürften. Für Schäden die durch das Nichtbefolgen dieser Anweisung erfolgten, werde keine Haftung seitens der Hausverwaltung übernommen. „ ... hmm, naja gut, dann erd ich wohl drüben beim Supermarkt parken müssen. Hauptsache ich vergesse das nicht...“ mit diesem Gedanken klebte er den Brief mit Tesafilm an seine Wohnungstür, damit er ihn nicht vergaß. „ ... wenigstens ist dieser Brief angekommen! Stellt sich nur die Frage wann die Hausverwaltung ihn abgeschickt hat? Womöglich ist er bei denen schon vorletzte Woche rausgegangen ...“
Tag 2
„ ... bestimmt waren die eh noch nicht da, aber naja, wer weiß das schon so genau, vielleicht haben sie ja ihre Zeiten geändert ...“ dachte er und öffnete den Briefkasten. Aber es fand sich nichts außer gähnender Leere. Er schloß den Briefkasten wieder ab, packte den kleinen silbernen Schlüssel zurück in seinen Geldbeutel, den er mit der gleichen automatisierten Bewegung wie immer in die rechte Gesäßtasche seiner Hose zurücksteckte. Bevor er das Haus verließ, zögerte er kurz, da es draußen in Strömen regnete. Er holte seine Autoschlüssel aus der Tasche, zog sich die Jacke über den Kopf und rannte los, mit der Hoffnung nicht allzu naß zu werden.
In der Arbeit war abermals wenig Zeit zum nachdenken und so fiel ihm der Brief erst in der letzten Stunde wieder ein „ ... so, und wenn ich heute heim komme und nachschaue, dann ist der dämliche Brief aber hoffentlich auch da. Oder hat sie ihn vielleicht doch nicht geschrieben? Hat sie es vielleicht nur gesagt, um mich am Telefon loszuwerden, mich abzuwimmeln? Oder zwar geschrieben aber noch nicht abgeschickt? Wahrscheinlich mache ich mir nur unnütze Gedanken und der Brief liegt schon im Briefkasten. Wahrscheinlich hatte eben nur die Post etwas Verspätung. Bestimmt ist es so ...“
Als er dann vor dem Briefkasten mit seinem Namen darauf stand, zögerte er kurz bevor er den Schlüssel ins Schloß gleiten ließ „ ... was wenn er nun doch nicht drin ist? ...“ er sah sich nochmals zögernd um, ließ den Schlüssel los und strich sich mit der Hand durchs Haar. Und wie er befürchtet hatte war es dann auch als er den Briefkasten endlich öffnete „ ... ach, Mist! Was soll das denn? Das gibt es doch nicht! Sie hat aber doch gesagt, daß sie mir einen Brief schreiben will und ihn dann auch abschickt! Hat sie es sich anders überlegt? Aber dann hätte sie mir doch wenigstens Bescheid geben können ...“ Der Abend war gelaufen. Sichtlich bedrückt ging er die Treppe nach oben. Die Gedanken an den Brief und warum er noch immer nicht da war, beschäftigten ihn bis spät in die Nacht. Und obwohl er extra noch auf dem Heimweg frische Salami gekauft hatte, merkte er nicht einmal, daß er seine zwei Scheiben Brot diesen abend nur mit Butter bestrichen, und nicht wie sonst noch mit je drei Scheiben Salami belegt, aß. Auch geschah es zum ersten Mal überhaupt, daß er über den Brief ganz vergaß sein Medikament zu nehmen, worauf er sonst immer akribisch achtete. Seine Gedanken ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Tag 3
So war er am nächsten Morgen sichtlich erschöpft und die Schlaflosigkeit stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er nahm den Brief von der Hausverwaltung mit um ihn ins Auto zu legen, damit er nach der Arbeit gleich am Supermarkt ein paar Straßen weiter parken würde. „ ... ich werde gar nicht erst nachsehen, die faulen Pisser waren sowieso noch nicht hier! Die liegen wahrscheinlich noch in den Betten! Zum Glück ist die Post ja jetzt privatisiert, so werden sie wenigstens nicht mehr von meinem Geld fürs Nichtstun bezahlt! Also man sollte die ja alle sofort entlassen, rausschmeißen und alles umstrukturieren ...“ dachte er sich, als er Mittwoch morgen durch die Eingangshalle direkt zur Haustür lief und versuchte, nicht zu auffällig zum Briefkasten hinüberzusehen.
Nach der Arbeit, auf dem Heimweg beschäftigte ihn der Brief abermals so sehr, daß er den Brief der Hausverwaltung völlig vergaß und er ihm erst in den Kopf kam als er bereits mit seinem Auto im Hof stand, jedoch nicht parken konnte, da die Maler ihr Gerüst bereits aufgebaut hatten „ ... Mist! Wozu hab ich den Brief eigentlich mitgenommen ..., aber wenigstens arbeitet im Gegensatz zur Post noch jemand ...“ Er wendete den Wagen und fuhr zu besagtem Supermarkt, ein paar Straßen weiter.
Schließlich im Haus, fand er im Briefkasten wieder nur Werbung und keinen Brief von ihr. Wütend und aufgebracht, vorallem aber enttäuscht knallte er den Briefkasten zu und warf all die Werbung, ohne sie überhaupt wenigstens mal, wie sonst, nach Angeboten durchzusehen in den nächsten Mülleimer.
Tag 4
Als er Donnerstag morgen erwachte und auf die Uhr sah, befand sich seine Stimmung sofort am Tiefpunkt „ ... oh verdammt! Mußte das nun sein? Verdammt! Und alles wegen diesem scheiß Brief, den sie wahrscheinlich sowieso nicht geschrieben hat und auch nicht schreiben wird! Scheiße! ...“ Er hatte verschlafen, da er vergessen hatte, am Vortag seinen Wecker anzuschalten, was er normalerweise immer gleich am Morgen nach dem Aufstehen tat. Es war bereits kurz vor neun. Er rief in der Arbeit an, um Bescheid zu geben, daß er heute später kommt.
In der Eingangshalle war er immer noch so aufgebracht, daß er im Vorbeigehen sogar mit der Faust gegen die Briefkästen schlug. So ging er schlecht gelaunt in Richtung Supermarktparkplatz. Gerade als er die große Straße an der Ampel überquert hatte, fuhr ihn beinahe ein Radfahrer um, der bereits bei Rot, noch über die Straße flitzte. Herr Dorn drehte sich um und wollte dem Radfahrer nachschreien, doch er hielt inne, da er im selben Moment sah, wie der Postbote gerade in seine Straße einbog „ ... na da sieh einer an, die arbeiten ja doch noch! Auf ein paar Minuten mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr drauf an ...“ Ohne weiter nachzudenken ging er los, bei Rot.