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Der Brief

Joh

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28.07.2003
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Der Brief

Der Brief

Sechsundvierzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, könnte man glauben. Wenn man sechsundvierzig Jahre mit einem Menschen zusammenlebt und gemeinsam Höhen und Tiefen bewältigt hat, könnte man glauben, man hat das Leben gemeistert und die schwierigen Zeiten hinter sich.

Als Klaus Böhringer von seinem Spaziergang am Mittag nach Hause kam, musste er entdecken, dass dies nicht so war. Auf sein Läuten öffnete niemand. Als er die Tür aufschloss, strömte ihm nicht der Geruch des Mittagessens entgegen. Seine Frau war nicht da, dafür lag auf dem Wohnzimmertisch ein abgeschabter Lederkoffer. Er blickte verwundert in den geöffneten Koffer. Hemden, Hosen, ein Paar Schuhe. Der Inhalt erschien ihm fremd und gleichzeitig sonderbar bekannt. Daneben ein Schreiben mit dem Briefkopf der Bundesbahndirektion. Er nahm das Papier in seine zitternde Hand, überflog es. Jemand teilte ihm mit, dass man im Rahmen der Auflösung des Bahnhofes Bad Salzingen einen Koffer gefunden habe mit seiner Anschrift. Man bedauere, den Koffer nicht rechtzeitig zugesandt zu haben ...

Bad Salzingen? Ein Bild erschien in seinem Kopf von einer kleinen Stadt mit Fachwerkhäusern, umgeben von bewaldeten Hügeln. Das war doch schon mindestens dreißig Jahre...

Ein aufgerissener Umschlag lag auf dem Tisch, der vergilbte Inhalt daneben.
„Geliebter Klaus!“
Plötzlich brach eine Flut von Bildern über ihn herein, ein alter Schmerz, der ihn durchfuhr. Inge! Es musste der Brief von Inge sein. Rasch drehte er das Blatt um, sah ihren Schriftzug. Darunter rot gemalte Herzen. Wie naiv. Wie naiv sie damals gewesen war und wie naiv er. Das Datum: geschrieben vor 24 Jahren.

Damals waren er und Heike bereits 22 Jahre verheiratet gewesen. Uwe, ihr Sohn, hatte gerade seine Ausbildung beendet. Karosseriebauer. Wie stolz war er damals gewesen, als Uwe nach der bestandenen Prüfung übernommen wurde. „Der ist jetzt in trockenen Tüchern“, hatte er gesagt. Und dann kam diese Sache mit seinem Rücken. Wochenlang hatte man ihn krank geschrieben. „Herr Böhringer, ich schicke Sie zur Kur“, hatte sein Hausarzt entschieden.
War er wirklich schon so alt? Zumindest hatte er sich so gefühlt. Der Sohn aus dem Haus und er mit den ersten Wehwehchen.

Heike hatte gesagt: „Ich muss endlich etwas aus mir machen!“
„Und ich?“, hatte er gedacht. Damals war eine der schlechten Zeiten gewesen. Er war unzufrieden mit sich selber, unzufrieden mit allem. Da war plötzlich diese Frage in ihm: „Soll das jetzt so weitergehen? Bis an sein Lebensende in diesem kleinen Häuschen mit dem leeren Zimmer von Klaus im Dachgeschoss und Heike an seiner Seite?“

Die Kur kam gerade zur rechten Zeit. Endlich hatte er den Abstand, um über alles nachzudenken. Über die Zukunft vor allem und das, was er noch von seinem Leben erwartete. Und dann war er Inge begegnet.
Sie hörte ihm zu. Sie verstand ihn. Warum konnte er sich jetzt nicht mehr an ihr Gesicht erinnern? Er sah einen Körper vor sich. Den warmen, weichen Körper einer 38 jährigen Frau, aber kein Gesicht. Dort war nur ein heller Fleck. In der zweiten Woche seiner Kur hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Er hatte sie geliebt mit all dem Verlangen, dass noch in ihm war. Mit all seiner Gier nach einem anderen Leben. Alles war plötzlich so einfach. Als er erschöpft und atemlos neben ihr lag, hatte er an Heike gedacht.

Ihren Brief, den sie ihm am Tag des Abschieds gegeben hatte, legte er ganz oben in seinen Koffer. „Wenn ich den Brief sehe, werde ich gleich an Inge denken“, hatte er sich überlegt. „Dann habe ich auch den Mut, mit Heike zu sprechen. Ich werde mich von ihr scheiden lassen, ganz bestimmt!“
„Meldest Du Dich auch wirklich?“ hatte Inge ängstlich auf dem Bahnsteig gefragt und sich an ihn gepresst. Er spürte durch den weichen Stoff ihre Schenkel, ihre Brüste und sein Verlangen nach ihr. „Ich habe doch Deine Adresse“, sagte er und dachte an den Brief. „Ganz oben liegt er, ganz oben auf meinen Sachen.“
Aber sein Koffer war nie angekommen. Er hatte ihr nie schreiben können. Er hatte sich nicht scheiden lassen.

Mit der Zeit hatten Heike und er wieder zueinander gefunden. Sie richtete im Keller eine kleine Töpferei ein und er wurde Mitglied im Schützenverein. Manchmal hatte er sogar geglaubt, sich wieder neu in sie verlieben zu können. Jetzt waren sie beide über siebzig und er fühlte sich wohl und aufgehoben in der Routine, die sich über Jahre hinweg in ihr Leben eingeschlichen hatte. Der Alltag mit seinen festen Abläufen war ihm wie eine Schutzmauer vor dem Tod, der dort draußen irgerndwo auf sie beide wartete. Wenn er an den Klaus vor 24 Jahren dachte, konnte er nur mit dem Kopf schütteln.

Sie hatte den Koffer geöffnet und den Brief entdeckt. Schließlich lag er ganz oben. Sie hatte begriffen, dass er sie betrogen hatte. Nur dieses eine Mal, aber dies würde sie ihm nicht glauben. Eine Welt war für sie zerbrochen, eine Welt, an die sie 46 Jahre lang geglaubt hatte. Heike war eine Frau, die sich spontan entschied. Die auf ihr Gefühl achtete. Das liebte er an ihr. Das hasste er manchmal an ihr, weil es die Ruhe des Alltags durchbrach. Sie war gegangen und er wusste, das es für ihn unmöglich war, sie wieder zurückzuholen.

Im kleinen Küchenschrank in der Ecke fand er die Wäscheleine. Es war eine starke, reissfeste Leine. Sie würde sein Gewicht aushalten. Er knüpfte eine Schlinge, band das obere Ende am Balken fest, der quer durch das Wohnzimmer ging. Er zog die Schlinge fester um seinen Hals, der Stuhl unter ihm kippelte ein wenig hin und her. Heike hatte sich schon immer darüber beklagt, dass der Fußboden uneben sei. Er dachte an sie. Ihr Gesicht konnte er ganz deutlich sehen, jede einzelne Furche in Gedanken genau nachzeichnen. Er spürte eine tiefe Wärme in sich aufsteigen. Seine Augen tränten. Dann ließ er sich vom Stuhl fallen.

Jemand drehte geräuschvoll einen Schlüssel herum. Heike kam in die Wohnung, verweint, traurig, ihre Stimme gebrochen: „Klaus, bist Du da? Wir müssen miteinander reden!“

 

Was für eine traurige Geschichte ... zu einer Detailkritk fehlt mir die Zeit (und Kopfschmerzen hab ich auch noch), aber ich wollte doch loswerden, dass mir die Geschichte sehr gefallen hat. Sehr ruhig, melancholisch und als wenn die Situation für den Protagonisten mit dem man mitleidet nicht schon schlimm genug wäre dann DAS tragische Ende ... solche Enden kann ich nicht besonders gut vertragen. :-(
Du hast mich ganz schön runtergezogen, dabei komme ich eh gerade aus nem traurigen Kinofilm. :D

Vielleicht erscheint es zunächst einen Hauch zu konstruiert, dass er sich sofort das Leben nimmt, andererseits ... aufgrund seines Alters und der langen gemeinsamen Zeit mit seiner Frau liegt nah, dass er für ein Leben ohne sie nicht mehr die Kraft hätte.

Jetzt muss ich mich dringend wieder irgenwie aufmuntern ...

Ginny

 

Oh, das tut mir Leid, Giny (Taschentuch reich..)

ich wusste ja nicht, dass Du die heutige Portion Traurigkeit schon hinter Dir hattest (noch ein Taschentuch reich...)

Liebe Grüße

Joh

 

Hallo Joh,

die Idee zu dieser Geschichte finde ich nicht schlecht. Sie ist auch flüssig geschrieben, mit dem unkomplizierten Satzbau kommt man schnell durch.

Zum eigentlichen Kern, nämlich den Seitensprung und das Auftauchen des Briefes, möchte ich mich nicht äußern, dafür aber zum Schluß der Geschichte: Die Handlung des Mannes, den man ja auf mindestens 65 Jahre schätzen darf, ist ziemlich voreilig. Dies paßt nicht recht zum Bild von älteren Leuten, die nach "vielen bewältigten Höhen und Tiefen" so überstürzt handeln. Eine weitere Schwachstelle ist die Bemerkung im Schlußsatz, daß seine Frau "in diesem Moment" durch die Tür kommt. Wenn dem so wäre, könnte sie ihn eventuell noch retten, denn der Todeskampf am Strick dauert bis zu einer Minute -- nagel mich an der Zeitangabe aber nicht fest. Überhaupt ist die Todesart für unsere heutige Zeit etwas ungewöhnlich.

Schöne Grüße,
Emil

 

Hallo ababwa,

ja, "in diesem Moment" war eine Verschlimmbesserung von mir - habe ich wieder gestrichen.
Den ersten Kritikpunkt sehe ich etwas anders. Bei älteren Männern ist das Erhängen als Selbstmordart nicht so unüblich. Beide sind übrigens über siebzig, hatte ich irgendwo geschrieben. Er ist davon überzeugt, dass er sie nicht zurückgewinnen kann und sie ihn endgültig verlassen hat. Nun ein Leben ohne sie zu führen und sich völlig umzustellen erscheint ihm sinnlos. Daher entschließt er sich in seiner ersten Panik, sich umzubringen. Das seine Frau sich in dieser Extremsituation anders verhalten könnte, war für ihn nicht vorstellbar - auch nach 46 Jahren kann man das Verhalten des anderen nicht vollkommen einschätzen. Für mich ist es in dieser Situation schon vorstellbar, dass er sich umbringt.
Trotzdem vielen Dank für Deine Kritik.

Liebe Grüße

Joh

 

hi joh,

auch von mir ein verdientes lob zu der idee und umsetzung der geschichte. einfach genial sich auf den koffer zu verlassen. man kommt nie auf die idee, dass der verschwinden könnte. ach - und wie herrlich, da ist er weg, und verwandelt sich in eine zeitbombe *hehe*.
die geschichte hat mir gefallen bis zu der stelle, an der er mutmasst, dass heike nicht glauben wird, dass es nur ein einziges mal war. ich finde es nicht relevant. für heike muss auch das einzige mal schlimm genug sein.
und der zweite punkt ist der selbstmord. das ist unlogisch und unschön. bis jetzt hatte ich als leser einen haidenspass an der geschichte, aber dieser selbstmord verändert enttäuschend den charakter der erzählung. besonders weil der einleitesatz ja von der starken bande spricht, dass man mit 46 jahren ehe schon einige höhen und tiefen gemeistert hatte. und ... ehrlich gesagt, menschen, die schon so alt geworden sind, sollten sich literarisch auch nicht mehr das leben nehmen.
bis dann

barde

geschrieben vor 24 Jahren.

Damals waren er und Heike bereits 22 Jahre verheiratet gewesen.


schreibe die zahlen bitte aus. besonders weil du es ja auch im ersten satz so gemacht hast.

 

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