Der Brief des Anderen
Er packt seine Sachen ein um nach dem gemeinsamen Wochenende nach Hause zu fahren. Das übliche Prozedere, jeden Sonntag aufs Neue. Damit muss man leben, wenn man sich in einer Fernbeziehung befindet, die beruflich vorerst nicht zu ändern ist. Sie sieht ihm dabei zu, wehmütig und beschämt, weil sie so viel mehr weiß, als er. Die letzten Minuten von dem Film, den sie gemeinsam gesehen haben, fühlen sich wie ein Messer an, das langsam mit einer stumpfen Klinge tiefe Schnitte in ihr Herz treibt. Der Chanson, die Nacht in Paris, alles das, was nur noch romantische Gefühle in ihm weckt. Das alte Pärchen zum Filmende, das er so bewundert und ihr dabei ins Ohr haucht, dass er mit ihr genauso alt werden will. Doch sie weiß, dass es nicht so sein wird. Sie versucht seit Tagen und Wochen die richtigen Worte zu finden um ihm zu sagen, dass es so nicht weiter geht. Doch sie kann es nicht, findet keinen Anfang und keine Formulierung, die ihren Empfindungen gerecht würde.
Die Gefühle für ihn sind stark und sie hasst sich selber bei dem Gedanken ihm das antun zu müssen, obwohl sie permanent zweifelt ist, ob sie das wirklich muss. Ob die Entscheidung die richtige ist. Doch im Grunde ist sie sich sicher, dass früher oder später kein Weg dran vorbei führt, aber später wäre ihr so viel lieber, ihr größter Fehler. Die Schwäche es nicht zu gestehen, dass es diesen anderen Mann gibt. Aus Angst ihn zu verletzen, denn sie weiß, dass er sie so viel mehr liebt, als sie ihn, obwohl sie ihn sehr liebt. Ja sie liebt ihn, so sehr, dass es ihr wehtut, wenn sie daran denkt, was sie ihm antut, antun wird. Sie will ihn nicht verletzen, doch zu schweigen wäre nicht fair. Die Angst vor seinem enttäuschten Blick, den Tränen, den stummen Vorwürfen und der Einsamkeit bohrt sich in ihr Herz. Sie weiß, dass die Einsamkeit nicht nur für ihn kommen wird, sondern auch für sie. Dass sie jeden Freitag, wenn er nicht wie früher auftaucht, diesen dumpfen Schmerz in der Brust spüren wird, als ob sie die Verlassene wäre und nicht er.
Sie bringt ihn zur Tür und sieht, wie er alle Taschen packt, nachdem er sich mit vielen Küssen von ihr verabschiedet. Er sieht den Schmerz in ihren Augen und scheint sich zu freuen, dass sie seit längerer Zeit wieder den Tränen nahe ist, wenn er fährt. Doch er interpretiert dieses Zeichen falsch. Es ist nicht das Vermissen, was zwar immer noch da, aber meistens fast verklungen ist, sondern ihr Schmerz, dass sie sein Leben so gnadenlos aus den Angeln reißen wird. Es tut ihr selber so weh, dass sie es einfach nur verdrängen möchte und ihm wieder die Liebe geben, wie sie es am Anfang konnte. Doch sie kann es nicht mehr, ist nicht mehr dazu fähig.
Sie hatte sich oft ein Leben mit ihm vorgestellt, dem Mann der ihr Leben um so vieles reicher gemacht hatte und ihr die Vorstellung auf ein gemeinsames Leben und Familie nahe brachte. Sie weiß, dass es auch ihr eigener Wunsch war und sie sich am liebsten völlig diesem Traum hingegeben hätte, bis sie daraus herausgerissen wurde. Von dem anderen Mann.
Sie weiß, dass sie ihn so schmerzlich vermissen wird. Zweieinhalb Jahre gemeinsame Beziehung, ohne viel Streit, mit einer Menge Spaß und Romantik. Mit zu vielen schönen Erinnerungen. Er hat ihr alles gegeben, was er konnte, doch es war nicht genug, obwohl es schon zu viel war. So oft ist ihr seine Übertriebenheit auf die Nerven gegangen, wenn er von seinen Gefühlen gesprochen hat, weil sie ihm nicht glauben konnte, dass sie wirklich für ihn die perfekteste Frau auf der Welt ist. Obwohl es doch so leicht zu glauben gewesen wäre, da er dasselbe für sie bedeutete. Trotz all der vielen Fehler die er hatte, die ihr nie entgangen sind und die sie ihm nur zu gerne mitteilte, um von ihren eigenen abzulenken. Unter anderem ihn so selbstaufopferisch zu lieben, wie er es verdient hätte.
Er verabschiedet sich mit einem „Ich liebe dich“ und sie antwortet mit einem Kuss und „Fahr vorsichtig“. Er freut sich darüber, weil sie das lange nicht mehr gesagt hat. Das es eine Vermeidung des „Ich dich auch“ ist, fällt ihm gar nicht auf. Obwohl es noch nicht einmal gelogen wäre. Sie liebt ihn so, dass sie nicht mit ihm leben kann, wegen diesem anderen Mann.
Sie schließt die Tür hinter ihm und bricht in Tränen aus. Tränen aus Mitleid mit ihm, Tränen aus eigenem Schmerz und Tränen darüber, was sie zerstört, das Glück was schon zerbrochen ist und nicht wieder gekittet werden kann. Zumindest nicht bevor sie nicht eine ganze Zeit lang ihr Leben gelebt und Entscheidungen so frei getroffen hat, dass sie sich wieder so fest binden kann. Sie weiß, dass ein Großteil der Schuld, dass die Beziehung zerbrochen ist an ihr liegt und daran, dass sie ihn so früh kennen gelernt hat und die Beziehung direkt so intensiv war. Doch sie weiß nicht, ob man überhaupt von Schuld sprechen kann. Denn Schuld trifft im Grunde keinen, auch wenn sie sich selbst so schuldig fühlt. Schuld ihm Schmerzen zuzufügen. Obwohl die Schuld oder eher der Auslöser dafür bei dem anderen Mann liegt.
Es ist der Mann, den sie liebt. Der andere Mann, den sie liebt. Der Mann, der sich so plötzlich in ihr Leben eingebracht hat, dass es wie ein Schock war. Ein Kübel Eiswasser über den Kopf und auch genauso schmerzhaft. Er hat sich so plötzlich wieder in ihr Leben zurückgemeldet, wie er zuvor verschwunden ist. Denn diese Liebe ist noch älter, als die, die sie zu ihrem Partner verbindet. Ihre erste Liebe, die so schmerzhaft aus ihrem Leben verschwand und zurückkehrte mit einer Heftigkeit, die sie nie für möglich erachtet hätte und sie musste sich eingestehen, dass sie es nie verwunden hatte, diese Liebe zu verlieren.
Und dann kam sie so stürmisch wieder, mit diesem Brief bis zu dem sie gedacht hatte, dass sie nie wieder wegen dem Mann solche Schmerzen erleiden muss, wie er ihr einmal zugefügt hatte. Doch sie hatte sich getäuscht, aus purer Liebe hatte er ihr Herz zum zweiten Mal gebrochen. Nur durch einen Brief, den letzten den er ihr schrieb. Ein Liebesgeständnis in dem er ihr alles das sagte, was ihr Freund ihr zuvor gesagt hatte und doch nie so endgültig und zugleich ewig formulieren konnte. Ein Liebesgeständnis, bei dem sie sich immer ersehnt hatte, dass es ihr bewiesen würde. Dieses Liebesgeständnis hatte bewiesen, dass es wahr ist. Das Liebesgeständnis, was sie so ersehnt hatte und zugleich doch niemals wieder erhalten will. Das Liebesgeständnis, das jede Liebe ewig und zunichte macht. Eine einzelne Zeile, die ihr Leben auf den Kopf stellte. „Ich werde dich immer lieben, du bist mein Leben.“ Ein Brief postmortem aus seinem Nachlass.