- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Zuletzt bearbeitet:
Der Boa - Momente des Glücks
-erstes Glück-
Er hat mich gefressen!
Es ist das Unfassbare dieses Gedankens, das sie lähmt, während Haut und Muskelstränge sie in die Haltung eines Embryos zwingen.
Gefressen! Er hat mich GEFRESSEN!
Im Sekundentakt pulsieren die Worte durch ihren Kopf. Sehnen und Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Doch der alles entscheidende Funke fehlt. Willenlos lässt sich ihr Körper biegen und beugen, bis er passgerecht zur Ruhe kommt; der Kampf ist zu Ende noch bevor er begonnen hat. Plötzlich brechen unbekannte Fluten über sie herein und umspülen heiß ihren Körper.
Ihre verdrehten Glieder protestieren. Ungenutzte Energien, in Muskeln und Nerven gepackt, entladen sich in Krämpfen. Das Herz rast und poltert. Das Gedärm pulsiert in Spasmen, als der Schmerz sie endlich wachrüttelt.
Doch die Starre weicht Verzweifelung und Angst wandelt sich in Wissen - alles zu spät.
Kein Winden hilft, kein drücken. Sie muss schreien. Sie muss raus, fort von diesem Schmerz, fort von diesem Grauen. Doch kaum, dass sich die Lippen öffnen, empfängt sie neue Pein. Ein Schwall: süßlich und bitter; ein Geschmack von Jauche. Es rinnt ihre Kehle hinab und zwängt den Irrsinn in zurück.
Ein Zittern erfasst ihren Körper. Ihre Lungen brennen und abermals reißt sie den Mund auf.
Dann die Gewissheit, dass dies das Ende ist.
Geistig gestammelte Worte. Ein Gebet. Ein Gebet so alt, so unverfälscht, so rein:
Hilf mir - an ein namenloses Wesen gerichtet - lass mich - das man verleugnet - nach Hause – weil es dafür keinen Platz gibt – ich verspreche gut zu sein – Moral nicht länger Tugend ist – nur einmal noch – Glaube nicht modern ist – die Sonne sehen – Kirche Tradition ist – Luft atmen – und Gott nicht – OH GOTT – gnadenvoll ist – lass mich nicht leiden – sondern einzig Rache kennt und die Menschheit verschlingt – OH GOTT BITTE!
-zweites Glück-
„Sie wollen hier aussteigen?“ Der Taxifahrer sah in den Rückspiegel und musterte den Fremden.
Der Mann, der in einem schlichten grauen Anzug gekleidet war, lächelte freundlich von der Rückbank herüber, dann nickte er.
Der Fahrer schüttelte den Kopf und blickte zur Straße hinaus. Eine aufgebrochene Buckelpiste, gleichermaßen verziert mit Schlaglöchern und Unkrautbüscheln. Links und rechts davon leere, halbverfallene Bürogebäude, Fabrikhallen und verrostete Stacheldrahtzäune. Und keine Menschenseele weit und breit.
„Mann, Sie müssen’s ja wissen.“
Abermals lächelte der Fahrgast, dann gab er dem Fahrer ein paar Scheine und stieg aus.
Kaum das die Tür zugefallen war, machte das Taxi eine Kehrwendung und brauste davon.
Einen kurzen Moment blickte der Mann dem Auto nach, dann wandte er sich ab und verschwand in den Gassen des Industrieviertels.
*
Der Constrictor lag in der Ecke eines kahlen, fensterlosen Raumes.
Finsternis hüllte ihn ein wie Decken ein Neugeborenes. Zeit spielte an diesem Ort keine Rolle.
Einerlei ob Tag, oder Nacht, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Die Welt um ihn herum war immer gleich, war immer schwarz. So wie es sein sollte.
Unruhig wälzte sich der Riese in einer stinkenden Lache, als sich seine Fettschichten aufwölbten. Stöhnend presste er eine Hand auf den Leib und begann das Gewebe rhythmisch zu massieren. Mit heißerer Stimme bemühte er einen alten Kinderreim.
„Wenn ich im Traum dich lächeln sehe,
wenn du erglühst so wunderbar.“
wenn du erglühst so wunderbar.“
Wie Speichel tropften die Worte aus seinem Mund. Doch der Schmerz blieb, während das Echo in der Finsternis davon flatterte. Er zerrte seine andere Hand hervor, die in der Lache festgeklebt war.
„Ahne ich mit süßem Grauen,
dürft ich deine Träume schauen.“
dürft ich deine Träume schauen.“
Wort für Wort drückten seine klebrigen Finger das Lied in seinen Bauch.
Ruhig, dachte er, ganz ruhig mein Kleines. Er wiederholte den Vers, bis der Druck nachließ und die Wölbung von Fett und Muskeln verschwand. Dann sank er erleichtert in seine Lache zurück, woraufhin sich Darm und Blase entleerten und den Inhalt auf den Boden vergossen. Die Pfütze wuchs, während seine Hände zurück in die Lache platschten.
Schnaufend wuchtete der Constrictor seinen geschwollenen Leib in eine bequemere Lage, als ein Scharren ertönte. Erneut wälzte er sich herum und blickte in die Finsternis. Die Dunkelheit war vollkommen, doch die Luft aus dem Nebenzimmer schien um eine Winzigkeit wärmer geworden zu sein. Seine Nasenflügel weiteten sich, als er prüfend die Luft einsog. Dann hatte er den Eindringling gefunden; die Störung war echt.
„Ein Saboga, hm? Seit wann stehst du da schon?“
Ein Mann betrat langsam den Raum und blieb in respektvoller Entfernung stehen.
„Noch nicht lange.“
„Wie hast du mich gefunden?“
„Das Graffiti. Ich habe es am Eingang gesehen.“
„Wenn du das Mal kennst, dann weißt du auch, dass es verboten ist das Quartier zu betreten.
„Es gibt nicht mehr viele von uns.“
„Kein Grund die Traditionen zu brechen.“
„Ich …, ich hätte gern gewusst“, der Eindringling verstummte.
„Was hättest du gern gewusst, häh! Willst du wissen, wie man scheißt? Willst du wissen, wie man pisst? Häh? Raus hier, kleiner Saboga!“
Der Mann zog sich zurück, doch als er in das Nebenzimmer kam, rief der Constrictor ihm nach.
„Wie alt bist du?“
Der Mann blieb stehen. Er überlegte, ob es ein Fehler gewesen war hierher zu kommen. Dann sagte er: „Im nächsten Monat werde ich 23.“
„So jung“, kam es geflüstert, dann herrschte wieder Stille. Geduldig wartete er, dann hörte er erneut den Constrictor. Es klang, als ob er mit sich selbst sprach.
„Der Akt ist abstoßend. Es ist widerlich. Der Körper scheint zu bersten. Alles Überflüssige muss raus. Man pisst und kackt sich leer. Widerlich, einfach widerlich. Stunde um Stunde dauert es. Der Schmerz, die überdehnten Muskeln, die zum Zerreißen gespannte Haut; es ist als ob man in flüssigem Schmerz badet. Man kriegt keine Luft mehr. Alles ist zu eng. Die Augen drückt es raus. Selbst die Seele scheint nicht mehr in den Körper zu passen. Und dann nichts mehr. Man liegt in seiner Scheiße und Pisse und wimmert. Man fühlt sich schuldig und schämt sich. Doch dann …“
Der Mann wartete, aber der Constrictor schwieg. Die Minuten verstrichen, in denen nur ein monotones Schnaufen zu hören war und hin und wieder ein Platschen.
Als er der Meinung war, dass der Monolog geendet hatte, verließ er das Zimmer. Er folgte einem dunklen Flur, der in einem schmalen Schacht endete. Im fahlen Zwielicht waren rissige Betonwände und eine Treppe zu erkennen, die sich in die Höhe schraubte. Als er jedoch seinen Fuß auf die erste Stufe setzte, hörte er ein fernes Wispern.
„Die Träume, diese wundervollen Träume. Man ist nie mehr allein.“
- drittes Glück –
In der Wohnung duftete es nach gebratenem Kalbfleisch und Pasta. Brennende Kerzen waren auf dem Esstisch verteilt. Daneben standen zwei leere Weingläser und eine Flasche Syrah. Aus den Boxen der Stereoanlage erklang ‚Der Barbier von Sevilla’ von Gioacchino Rossini.
Als er Mantel und Schuhe auszog, hörte er ihre Stimme aus der Küche.
Wie immer, wenn Kerstin kochte, trug sie statt einer Schürze eines seiner alten Hemden. ‚Alt’ bedeutete, älter als sechs Monate. Danach wanderten die Hemden automatisch in ihren Besitz, wo sie bald eine bunte Sammlung von Klecksen erhielten, die sich nicht mehr raus waschen ließen. Es war eine Marotte, die er lieben gelernt hatte, auch wenn es bedeutete, dass er öfter als gewohnt Anziehsachen einkaufen musste.
Er lehnte sich im Kücheneingang an die Wand und beobachte, wie sie im Takt der Musik den Kochlöffel schwang und mit der Hüfte wippte. Außer dem Hemd trug sie einen langen Faltenrock und ihre Lieblingssocken; rutschfeste Dinger, mit denen er selbst im tiefsten Winter geschwitzt hätte. Als sie seine Blicke fühlte, drehte sie sich um und zwinkerte ihm neckisch zu. Er trat zu ihr, legte seine Hände um ihre Taille und folgte ihrem Schwung, während sie ungestört zu Rossinis Klängen tanzte. Dann drückte er ihr einen Kuss in den Nacken, bei dem sie vor Vergnügen quiekte; sein Bart hatte sie gekitzelt.
„IEEH! Lass das“, kicherte sie und gab ihm schnell einen Kuss, als sie plötzlich die Nase rümpfte.
„Igitt, sag mal, arbeitest du seit heute in der Kanalisation?“ Sie schnüffelte noch einmal an ihm und kniff sich schnell die Nase zu.
„Bäh, also so bekommst du nix zum Essen. Los geh ins Bad und mach dich sauber. Die Sachen kannst du gleich in die Wäsche stopfen. Du hast fünf Minuten, dann ist das Essen fertig“, sagte sie, bevor sie sich wieder ihren Töpfen und Pfannen zuwandte.
Als er fertig geduscht hatte, stand das Essen bereits auf dem Tisch. Schnell zog er sich ein Paar ausgebeulter Jeans und ein T-Shirt an. Nicht unbedingt elegant, aber bequem und genau das Passende für den Feierabend.
Als Rossini verstummte, räumten sie die leeren Teller in die Küche. Er öffnete eine zweite Flasche Wein, während sie ein paar Räucherstäbchen aus einer Schublade kramte und anzündete. Beides brachten sie zur Couchecke, dann wechselte er die CD und legte Kinderszenen von Robert Schumann auf.
Als die Musik ertönte, kuschelten sie sich zusammen unter eine Decke. Rauch und Wein vernebelten die Sinne und ihre Worte verstummten. Die besten Gespräche sind die, wo keine Worte gewechselt werden, dachte er ohne Ironie. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich ganz auf die Vollkommenheit ihres Körpers.
Mit langsamen Bewegungen erforschte er die Beschaffenheit ihrer Haut und genoss die Wärme und Lebendigkeit, die er unter seinen Fingern spürte. Plötzlich hielt er gedankenverloren inne.
Minuten verstrichen, in denen er sich nicht rührte. Er schien in einer anderen Welt zu sein. Eine ferne unbegreifliche Welt, einer Welt ohne sie?
Sie legte ihre Hand auf seine Wange und sah ihn mit großen Augen an.
„Bereust du, dass wir zusammengezogen sind?“
Er blinzelte verwirrt, dann sah er sie fragend an.
„Was meinst du?“
„Ich …, wir leben jetzt seit einem Monat zusammen. Du hast deine alte Wohnung aufgegeben und ich …, ich hab noch keinen Job. Ich meine, alles hast du bezahlt. Den Umzug, die Möbel, Miete und Kaution“, sie stockte. „Ich würde es verstehen, wenn du Bedenken hast.“
Er blickte sie mit ersten Augen an.
„Weißt du, wenn du Freiraum brauchst, dann könnte ich mir einen Nebenjob suchen. Ich könnte bei der Tankstelle arbeiten, die suchen immer jemanden, dann hättest du zwei, drei Abende in der Woche für dich und wir hätten ein bisschen zusätzliches Geld im Monat.“
Schweigend hörte er ihr zu, doch als sie verstummte, redete er immer noch nicht. Er blickte sie nur mit diesen seltsamen Augen an. Augen, die etwas Hypnotisches hatten und die das Erste waren, in das sie sich verliebt hatte. Dann küsste er sie plötzlich. Es war ein langer und inniger Kuss.
Als sie sich lösten, hatte sie ihre Ängste beinahe vergessen. Schläfrig kuschelte sie sich an seine Schulter, dann nach einer Weile flüsterte er leise in ihr Ohr: „Mach dir keine Gedanken, wir haben genug Geld und meinen Freiraum habe ich auch.“
„Du hast aber etwas, nicht? Ich weiß, dass du über irgendetwas grübelst.“
Wieder sah er sie mit seinem hypnotischen Blick an, dann seufzte er leise.
„Ich hab nur Angst dich zu verlieren. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Der Gedanke, dass du plötzlich fort sein könntest …“. Er verstummte. Dann murmelte er: „Ich liebe dich.“
Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn.
„Ich liebe dich auch und ich werde nie fortgehen, hörst du. Wir werden zusammen alt und wenn es soweit ist, auch zusammen sterben.“
Sie drückte sich an ihn und Schumanns Musik verstummte. Es störte sie nicht. Gemeinsam lagen sie friedlich in der Stille und genügten sich selbst.
Später, nachdem sie eingeschlafen war, fing er leise an zu singen.
„Wenn ich im Traum dich lächeln sehe,
wenn du erglühst so wunderbar.
Ahne ich mit süßem Grauen,
dürft ich deine Träume schauen.“
wenn du erglühst so wunderbar.
Ahne ich mit süßem Grauen,
dürft ich deine Träume schauen.“
- Eden -
Die Mauern aus Fleisch sind kein Gefängnis mehr. Mit traumverwirrten Sinnen treibt sie in seinem warmen Leib, der sie auf vollendete Weise umarmt.
Friedlich lauscht sie dem Schlag seines Herzens und lässt sich vom Rhythmus seines Blutes in den Schlaf wiegen. Wie ein Kind im Bauch seiner Mutter träumt sie pränatale Träume im Bauch ihres Liebsten. Es sind Träume vom Vergessen, Träume vom Glück und von der Liebe. Nur manchmal, wenn sich etwas von ihrem Körper löst und in den Säften ihres Mannes vergeht, spürt sie eine ferne Pein. Ihr Fleisch beginnt zu kribbeln und eine seltsame Hitze erfasst ihren Geist. Dunkle Unruhe zerrt an ihrem Leib, bis seine massierenden Hände und sanften Worte das Unwohlsein vertreiben.
Ich sterbe nicht, denkt sie. Nein, ich sterbe nicht.
Ich werde verschwinden, ja, aber nicht sterben. Ich werde leben und in jeder Zelle meines Mannes ein Zuhause finden.
Ende