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Der blutige Köder
Julia fühlte sich unwohl. Es war schon später Nachmittag und sie war auf dem Weg nach Hause. Ihre Einzimmerwohnung in Britz, der südlichste Teil von Berlin, war leicht zu erreichen, doch wenn einmal der Bus ausfiel, mußte sie ein Stück am Teltowkanal langlaufen.
Der Teltowkanal war das schäbigste Gewässer von Berlin. Niemand sprach gerne über diesen Zweckkanal, der täglich den Dreck aus der Stadt spülte. Julia lief am dicht bewachsenen Ufer entlang. Hierher verschlug es nur mutige Spaziergänger, die nicht Angst hatten im Morast des Wassers einzusinken. Der Kanal war ein schmutziges, ungepflegtes Gewässer, dessen Farbe so schwarz wie Teer war. Ähnlich klebrig und schmierig war seine Konsistenz. Wie ein dicker Eiterstrahl quoll er durch die Industrieanlagen Berlins. Als Kind hatte sie gelegentlich hier gespielt, doch dann wurde der Kanal immer schmutziger und man warnte sie vor dem Gewässer.
Schlußendlich hingen nur noch die Rabauken der Schule am Kanal herum. Hier konnte man ungestört Bier trinken und sich den Rücken tatowieren lassen. Müll und das Blut aus den Wunden der Tatowierten endete im Kanal und hinterließ eine schimmernde Spur in dem dunklen Wasser. Abenteuerlich fand sie das damals. Doch die Zeiten dieser Partys waren vorbei.
Julia lief ein Stück weiter. Jetzt wo sie Werbekommunikation studierte hatte sie nur noch wenig Zeit zum spazierengehen. Die Uni verlangte ihr einiges ab. Sie trat ans Wasser heran und warf einen Blick über das trübe Gewässer. Der Kanal stand in der Hitz des August wie eine muffiger See. Es gab keine Strömung. Fast schon gespenstisch ruhig ruhte das Wasser in der Hitze. Gelegentlich surrten Fliegen über die trübe Brühe und hier und da sprang ein Wasserläufer durch das Gebüsch. Das Ufer war ungepflegt und wirkte verwaschen, pelzig, und modrig. Julia schauderte bei dem Anblick.
Der Gedanke in die Brühe zu fallen war schrecklich. Sie sah, wie sich ihre Silhouette im Kanal spiegelte und freute sich über ihre schlanke sexy Figur. Die langen dunklen Haare fielen ihr locker über die Schulter und ihre knappen Shorts betonten ihre Figur sexy. Julia war zufrieden mit ihrem Aussehen. Plötzlich hörte sie ein Scharren! Sie drehte sich um und sah einen seltsamen Körper ins Wasser gleiten.
Er glänzte vom Wasser und war offentsichtlich dicht mit Pelz bewachsen. Julia war überrascht. Was konnte das sein? Ein Otter? Eine kleine Schlange? Solche Viecher hingen hier herum und es wurde sogar mal ein Biber gesehen. Naja, immerhin fühlte sich die Natur hier wohl, dachte Julia und lächelte in sich hinein. Vorsichtig trat sie zurück und begann sich wieder auf den Weg zu machen. Doch plötzlich schreckte etwas neben ihr auf. Julia blickte auf den Boden und sah ein paar Ratten flüchten!
Ihh, dachte Julia und wollte nur noch schnell weg. Doch dann sah sie genauer hin. Die Ratten hatten es sich in einem Mantel aus Leder bequem gemacht. Jemand hatte hier anscheinend seine Klamotten verloren. Julia verfolgte ihre Spuren und ihr Blick viel auf ein Loch am Ufer. Was war das denn? Es sah aus wie eine kleine Höhle, direkt am Wasser gebaut.
Als ob es sich dort jemand gemütlich gemacht hatte. Julia überlegt kurz, doch es war schon spät und sie widerstand dem Drang einen Blick hinein zu werfen. Was mochte wohl in der Höhle sein? Es gab immer wieder Geschichten von Anglern und sogar Studenten die hier am Kanal tagelang angelten, zelteten und quasi campten. Doch die Polizei verbot diese Tätigkeiten.
Vielleicht hatte man sich anders beholfen und eine kleine Höhle gebaut? Julia sah, daß man perfekt eine Angel aus dem Loch halten konnte. Unvermutet mußte sie schmunzeln. Auf was für Ideen die Leute manchmal kamen. Eine Anglerhöhle...
Julia macht einen weiteren Schritt in Richtung Heim, doch plötzlich hörte sie ein Stöhnen. Julia schloß die Augen. Auch das noch. War ja klar. Sie blieb stehen und rührte sich nicht. Vielleicht hatte sie sich nur getäuscht. Vielleicht war das gar kein Stöhnen. Vielleicht gab es gar niemanden in der Höhle. Julia rührte sich nicht.
„He....“, klang es leise aus der Höhle. Julia schluckte. Scheiße.
Da drin konnte alles sein. Irgendein freundlicher Angler von nebenan war es bestimmt nicht.
Julia ahnte was sich dort befand. Ein Obdachloser, der sich die Höhle zu seinem kleinem Eigenheim umgebaut hatte. Schon allein bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Verflucht nochmal, mußte das denn sein? Wahrscheinlich hatte er sich eine Entzündung geholt und brauchte nun Hilfe. Wer weiß, wie lange er schon in dem Loch hauste. Julia dachte nach. Natürlich. Sie mußte helfen.
Sie mußte nachschauen, was oder wer da war. Aber sollte sie etwa in das kleine Loch reinkriechen? Sie sah sich um. Niemand war zu sehen. Sie war allein am Kanal. Sie könnte natürlich zur Polizei laufen oder einen Arzt rufen, aber was, wenn es dann schon zu spät war? Julia nahm all ihren Mut zusamen und beugte sich zur Höhle.
Das Loch war etwa 40 cm groß. Groß genug um durch zu kriechen. In der Höhle war es stockdunkel. Julia konnte nichts erkennen.
„Hallo?“, rief sie.
Keine Antwort. „Hallo. Sie... Ich habe sie gehört.“
Wieder keine Antwort. Julia verzweifelte. War er schon Tot?
„Scheiße!“
Julia nahm all ihren Mut zusammen und kroch in das Loch. Es war seltsam stickig in der Höhle und der Boden war mit schmierigen Schleim bedeckt. Julia bereute sofort ihren Entschluß. Es stank nach Verwesung und altem Papier. Wie ein Nest, dachte Julia.
„Hallo?“, versuchte sie es wieder.
„Hilf mir!“, klang es aus den Tiefen des Lochs. Julia erschrak.
„Was ist mit ihnen? Brauchen sie Hilfe?“
„Komm her!“, krächzte die Stimme aus der Dunkelheit. Julia schluckte wieder. Die Stimme klang undefinierbar. Sie konnte nicht sagen, ob es ein alter oder junger Mann war. Ein Husten erklang und Julia machte sich sofort Sorgen. Was hatte der Typ? Vielleicht Typhus oder TBC? Gott, sie mußte hier raus!
„Bitte nicht.“, krächzte die Stimme, als ob sie Gedanken lesen könne. „Ich brauche Hilfe.“
„Was ist mit ihnen?“
„Ich glaube, mein Bein ist gebrochen!“ Die Stimme klang schon klarer. Dennoch war es völlig dunkel. Julia konnte nichts sehen. Vorsichtig tastete sie sich weiter vor.
„Wie kommen sie hier rein?“, fragte Julia.
“Das Loch war größer. Es ist zusammengestürzt. Verfluchte Anglerhöhlen!“
Julia atmete auf. Nur ein Angler, der sich verletzt hatte.
„Warten sie hier. Ich hole Hilfe.“ Julia versuchte sich zu drehen. Unglaublich, wie er in dieses Loch gelangt war. Er mußte ganz tief hineingekrochen sein.
„Bitte nicht. Mein Bein schmerzt! Schauen sie nach, ob es gebrochen ist.“
Julia drehte sich um. „Ich kann nichts sehen. Es ist das beste, wenn ich Hilfe hole. Sie müssen ins Krankenhaus.“
Die Stimme antwortete nicht. Es war furchtbar still. Julia krallte sich in dem matschigen Boden fest. Wenn sie nicht aufpaßte, rutschte sie von selbst immer tiefer in die Höhle.
„Bitte sieh nach. Es schmerzt sehr.“, bettelte die Stimme. Julia wurde unsicher.
„Ich kann nichts sehen. Es ist viel zu dunkel.“
„Taste bitte nach dem Bein. Ich sage dir, wo du anfassen mußt!“ Julia hielt inne. Sie konnte ihn nicht allein lassen.
Vorsichtig kroch sie weiter in die dunkle Höhle. Sie muße sich fast auf den Bauch legen, um weiter voran zu kommen. Es wurde immer stickiger und muffiger. Irgendwelche Stöcker, die verdammt hart waren, versperrten ihr den weg. Sie drückte sie beiseite und hörte wie sie krachend zusammenpurzelten. Sie machten dabei das Geräusch von trockenen Knochen. Julia stöhnte und verfluchte sich selber. „Wo ist ihr Bein?“, fragte sie in die Höhle.
„Komm näher“, krächzte die Stimmme. Seltsamerweise war der Schmerz in ihr verschwunden. Julia wundert sich kurz und dachte nach. Das konnt auch böse enden. Doch das Stöhnen der Stimme riß sie aus ihren Gedanken und ließ sie wieder zu sich kommen.
„Bitte nur noch einen Meter.“
Julia kroch weiter und bekam plötzlich etwas zu fassen. Das konnte ein Bein sein! Leider sah sie überhaupt nichts. Der Eingang war gut drei Meter entfernt und keinerlei Licht schimmerte hinein.
„Bitte fühle dran. Drück vorsichtig auf den Knochen.“
Julia ergriff das Bein und drückte auf den Knochen.
Der Mann stöhnte.
Julia zuckte zusammen. „Es ist gebrochen. Ich hole Hilfe.“
Sie versuchte sich zu drehen, doch plötzlich wurde sie festgehalten. Etwas zog an ihren Haaren! Der Griff war stark und brutal.
„Bleib bitte hier!“ Julia bekam Panik. Er riß ihr fast die Haare aus!
„Sie brauchen Hilfe. Ich muß Hilfe holen!“
Julia riß sich los und kroch zum Eingang. Hektisch rutschte sie über den schmierigen Boden. Etwas schoß hinter ihr her! Wie eine Schlange fühlte sie etwas an ihrem Bein. Es versuchte, sie zu greifen, doch Julia trat danach.
Sie mußte raus hier! Wie ein Wahnsinnige kroch sie aus dem Loch. Sie schaffte es in letzter Sekunde und erblickte schnell das Tageslicht. Sie sah sich um. Ihre Klamotten war schmutzig und dreckig. Alles war zerzaust und zerwühlt. Sie sah furchtbar aus. Vorsichtig sah sie ins Loch der Höhle, doch dort war niemand. Der Typ war ihr nicht gefolgt. Gott, was war das?
Plötzlich sah sie auf den Boden und sah ein paar Knochen. Schmierige, dreckige weiße Knochen. Ein paar Hautfetzen hingen noch daran und Julia schauderte bei dem Anblick. Sie hatte sie mit rausgezogen bei ihrer Flucht. Sie schreckte auf und sah aus den Augenwinkeln etwas im Wasser. Diesmal war sie schneller.
Sie drehte sich um und sah einen großen Körper durch das Wasser gleiten.
Er war schmierig, pelzig, nass und fast otternhaft. Etwa von der Größe eines Menschen, jedoch in der Bewegung einer Schlange ähnlicher.
Der Kopf war überseht mit rosa Pusteln und Julia nahm nur noch ein Blinzeln der Augen wahr. Menschenaugen, die ihr seltsam listig zublinzelten und dann unter Wasser verschwanden. Erst jetzt merkte sie, daß sie etwas in der Hand hielt. Sie blickte herab und sah, daß sie ein abgerissenes Bein umklammerte. Der blutige Köder, dachte sie.