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- Anmerkungen zum Text
Meine Lieben, das, das euch hier vorliegt, ist streng genommen keine Geschichte. Viel mehr ist es die Aufzeichnung einer meiner Träume. Wer meine Geschichte Patricia kennt, dem fallen vielleicht Parallelen auf. Tatsächlich ist der vorliegende Stoff wohl unbewusst eine Art Probelauf für Patricia gewesen, nur dass der Probelauf meiner Meinung nach wesentlich besser gelungen ist :P
Der Blonde
Irgendwie wusste Daniel, dass etwas nicht stimmte. Als hätte sich etwas verändert, aber außerhalb der menschlichen Wahrnehmungsgrenze. Und trotzdem betrat er den Eissalon, jenen, den er seinen liebsten nannte.
Irgendetwas stimmte nicht. Der Eissalon war doch schon seit Wochen fertig eingerichtet gewesen. Anscheinend irrte er sich, denn außer der Eistheke, vor der er stand, war der Raum leer und kahl. Niemand war da. Betonwände ohne Farbe. Eine Glühbirne am Draht, statt eines Lampenschirms. Aber das Eis war köstlich, das wusste er. Er kam immerhin schon seit April hier her, seit sie geöffnet hatten.
Oder?
»Stopp, bleiben Sie stehen!«, ertönte eine Männerstimme aus einem Hinterzimmer und prompt stürmte eine merkwürdige Gestalt in den Hauptraum des Salons.
Es war ein Mensch, gehüllt in dicke, bunte Schichten aus Speiseeis, nur der rechte Arm war frei und ragte wie ein dürrer Ast aus dem Eisberg. Der Mensch sah aus wie ein Geist aus Eis, und Daniel nahm an, dass es sich um einen Eissüchtigen handeln musste.
Der Eissüchtige gab tiefe Geräusche von sich. Als würde er schreien unter dieser dicken Eisschicht, die den Schall zu einem dumpfen Grummeln dämmte.
Nun kam der Mann, dem die Stimme von vorhin gehörte, aus dem Hinterzimmer gestürmt.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Manchmal ist er nicht zu halten.«
Der Mann war eigentlich ganz hübsch, dachte Daniel. Groß, blond, er kannte ihn, hatte ihn aber noch nie gesehen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er war entstellt.
Der blonde Mann führte den Eissüchtigen aus dem Raum. Eine Frau kam aus dem Hinterzimmer. Es war die Verkäuferin, wie Daniel wusste. Er kannte sie schon lange, seit er im April das erste Mal hier gewesen war. Sie wirkte aufgeregt. Sie stürmte hinter die Eistheke. Dort war plötzlich ein neues Möbelstück, eine Art Rollkasten, wie man sie normalerweise als Bestandteil von Schreibtischen kannte. Die Frau begann wie wild die Zettel, die wichtigen Unterlagen auf der Ablage am Kasten, zu durchwühlen.
»Ich finde meine E-Card nicht«, sagte sie. »Verdammt, wo ist meine E-Card?«
Irgendetwas stimme nicht.
»Das ist doch schon einmal passiert«, sagte Daniel. Die Frau starrte ihn verwirrt an. »Das ist alles schon einmal passiert. Lassen Sie mich mal.«
Er ging um die Eistheke, stieß die Frau unsanft zur Seite, ging in die Knie und öffnete die unterste Schublade.
»Das letzte Mal war sie hier«, sagte er und durchsuchte die randvolle Lade.
Aber sie war nicht da.
»Das letzte Mal war sie hier«, wiederholte er. »Sie muss hier sein.«
»Was soll das?«, fragte die Verkäuferin. »Da ist sie nicht. Sie ist verschwunden.«
»Dieses Mal ist es anders«, murmelte Daniel.
Eine Frau und ein Mann kamen in den Eissalon.
»Entschuldigen Sie«, sagte die Frau. Hübsch, jung, langes braunes Haar. »Wir sind die Handwerker. Wir kommen wegen der russischen Heizungsrohre, die kaputt sind.«
»Aber … aber das habt ihr doch schon erledigt«, stammelte Daniel.
»Bitte?«
»Ihr habt die Heizungsrohre schon repariert«, Daniel wurde langsam wahnsinnig. »Ihr habt die Heizungsrohre repariert. Und der Salon war schon fertig eingerichtet. Es gab Farben und Stühle und die Leute sind hier ein und ausgegangen. Das alles ist schon mal passiert.«
Daniel kassierte verwirrte Blicke. Er griff sich an den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
»Welches Monat haben wir?«, fragte er dann.
»Juni?«, sagte die junge Frau.
»April!«, schrie Daniel zurück. »Das alles ist im April passiert. Die Renovierung, die E-Card, die russischen Rohre. DAS IST ALLES SCHON PASSIERT.«
Plötzlich waren alle zur Salzsäule erstarrt, als hätte jemand die Zeit angehalten. Nur Daniel war davon nicht betroffen. Noch verwirrter als zuvor, sah er sich um. Was ging hier vor sich? Was stimmte hier nicht?
»Wie kannst du es bemerken?«, fragte dann die bekannte Männerstimme hinter Daniel.
Er drehte sich um, und während er das tat, wandelte sich der Raum. Die Form blieb gleich, aber es wurde dunkel, und plötzlich war es kein Eissalon mehr sondern ein Schlafzimmer und auf dem Bett im Eck saß der Blonde, breitbeinig und selbstgefällig.
»Nun sag schon, wie hast du es heraus gefunden?«
»Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmt«, sagte Daniel.
Der Blonde schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Er ging auf Daniel zu, der ihn ungläubig anstarrte.
»Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass es dir bewusst wird. Eine Ahnung, ja, dass lässt sich manchmal nicht vermeiden. Aber dass es dir tatsächlich bewusst wird – nicht schlecht.«
»Du hättest besser aufpassen sollen«, sagte Daniel. »Wäre die E-Card dort gewesen, wo sie das letzte Mal war, wäre es April gewesen, dann hätte ich es vielleicht nicht bemerkt. Schlampige Arbeit.«
Der Blonde rümpfte verärgert die Nase.
»Und du hast mich immer noch nicht frei gelassen, oder?«, fragte Daniel.
Der Blonde lächelte.
»Warum tust du das?«, schrie Daniel und dann glaubte er es auch schon zu wissen. »Du willst mich, oder?«, und er streichelte die Wange des Blonde.
Der schlug seine Hand weg. »Ich will nicht dich«, sagte er. »Aber ich brauche dich.«
»Ich helfe dir sicher nicht«, sagte Daniel und trat ein paar Schritte von dem Blonden weg. »Du kannst mich hier nicht gefangen halten.«
Wieder änderte sich der Raum. Er behielt weiter seine Form aber die Einrichtung änderte sich. Daniel stand im Wohnzimmer seiner Eltern, der Blonde saß auf der Couch. Daniel war nun wieder da, wo er hingehörte.
Oder?
»Bin ich… frei?«, fragte Daniel.
»Natürlich«, grinste der Blonde. Er war so wunderschön, doch sein Gesicht war abartig.
Irgendetwas stimmte nicht.
Daniel sah aus dem Fenster. Es war Winter, draußen war alles voll mit Schnee, Weihnachtsbeleuchtung erhellte die Nacht. Ein ruhiges, ein beruhigendes Bild, Daniels liebste Zeit im Jahr. Ja, er war eindeutig da, wo er hingehörte. Alles stimmte wieder. Alles war okay. Er war wach.
»Bin ich nicht«, sagte er und schüttelte sich. Daniel ging zum Blonden, packte ihn. »Du hältst mich immer noch gefangen, oder? Das da draußen soll mich nur beruhigen. Mich glauben lassen, alles sei okay. Du willst, dass ich aufhöre mich zu wehren, nicht wahr? Nicht wahr?«
Der Blonde grinste nur.
Daniel ließ von ihm ab. Er wollte dem Blonden weh tun, aber das konnte er nicht. Er war nicht sicher, ob er wach war oder schlief. Und wenn er wach war und dem Blonden etwas antat, würde das Konsequenzen bedeuten. Aber wenn nicht, dann war er immer noch sein Gefangener.
»Ganz ruhig«, sagte Daniel zu sich selbst.
»Warum tust du dir das an?«, fragte der Blonde. »Lass es doch einfach zu. Du kannst mir nicht entflüchten. Dieses Mal nicht. Ich brauche dich.«
»Du bist ein schlechtes Abbild meines Unterbewusstseins«, sagte Daniel. »Als ob ich jemals so ein Wort verwenden würde.«
Daniel versuchte den Blonden auszublenden. Er musste sich konzentrieren. Nichts um ihn herum war echt, und obwohl er das wusste, konnte er nicht entkommen. Also musste er kämpfen.
Er ging in sich, versuchte sich zu erinnern, wo er war, wo er wirklich war. Und er spürte einen Hauch frischer Luft auf seiner nackten Haut. Das Gefühl kam aus der echt Welt, das wusste er. Und dann sah er sie vor sich, diese echte Welt. Dort war die Balkontüre gekippt, von dort kam der zarte Lufthauch. Er lag auf der Couch und schlief, er konnte es deutlich vor sich sehen. Und das war es, was er brauchte, um sich zu befreien. Er hatte sich im echten Leben gefunden, jetzt musste er sich nur noch aufwecken.
Daniel sah den Blonden an. »Du hast verloren.« Er ging leicht in die Knie, spannte seinen Körper an, presste die Arme an seine Seite, spreizte die Finger so weit er konnte, krümmte sie zusammen, als würde er einen unsichtbaren Stressball drücken. Er musste die Verbindung zwischen diesem und seinem echten Körper finden, und das ging nur, wenn er die Schlafparalyse überwinden konnte. Es war nicht das erste Mal, dass er das tat. Er wusste, dass er das konnte.
Aber anstatt aufzuwachen, bogen sich seine Finger in alle möglichen und unmöglichen Richtungen. Anstatt aufzuwachen, ließen seine Muskeln es nicht zu, dass er sie anspannte und er verlor die Verbindung in die echte Welt, die frische Luft, das Gefühl zwischen sich und er Couch. Und er war immer noch gefangen. Stand hilflos im Wohnzimmer seiner Eltern, das nur ein Gebilde seines Unterbewusstsein, ein Gebilde des Blonden war.
»Ich lasse dich nicht gehen«, sagte der Blonde scharf. »Nicht, bevor ich habe, was ich will.«
Daniel hielt ein violettes Schwert in der Hand, und erst jetzt realisiert er, worum es ging. Der Blonde wollte nicht ihn. Der Blonde wollte Regina. Er wollte alles nochmal wiederholen, um es dieses Mal richtig zu machen.
Und die Erde unter Daniel bebte, und es riss ihn in die Höhe, unter seinen Füßen nur ein kleines Stück Boden auf dem er das Gleichgewicht halten musste. Er hatte Angst, zu fallen, obwohl er wusste, dass es nicht echt war.
»So lasset die Spiele beginnen«, verkündete der Blonde und Trompeten ertönten und Regina, die böse Königin, betrat das Spektakel in ihrem Burghof.
Regina. Damals hatte der Blonde alles falsch gemacht. Sie starb und in seiner Trauer sann er nach Macht, um es ungeschehen zu machen. Und jetzt verstand Daniel, warum der Blonde ihn brauchte. Er war damals dabei gewesen, als sie starb. Er war der Grund gewesen. Nur er konnte die Vergangenheit ändern, nur er sie zurück holen.
Der Blonde zwang Daniel ins Schlafzimmer. Dort wartete Regina im Bett. In ihrer ganzen Schönheit.
»Ich … ich verstehe nicht«, stammelte Daniel. »Du wolltest doch … sie.«
»Nein«, sagte der Blonde. »Ich will euch beide.«
Und sie stiegen ins Bett, waren zu dritt, zu viert, zu fünft, aber es stimmte nicht.
Irgendetwas stimmte nicht.
Der Blonde war abgelenkt, Daniels Chance war gekommen.
Er öffnete die Augen. Er lag dort, wo er liegen sollte. Auf der Couch. Er war sicher vor dem Blonden. War seinem Gefängnis entkommen.
Oder?
Die Uhr zeigte 14:47 Uhr. Das stimmte nicht. Er hatte um 11:00 Uhr einen Wecker gestellt. Er schloss die Augen, das konnte nicht stimmen. Er öffnete sie wieder. 14:47 Uhr. Der Blonde hatte ihn immer noch gefangen, doch er war fast frei. Ein letztes Mal musste er sich anstrengen.
Er hob die Hand, griff zu seinem Handy.
06:24 Uhr.