Mitglied
- Beitritt
- 04.01.2003
- Beiträge
- 1
Der blinde Wächter
Der blinde Wächter ... sah. Er sah die Fluten steigen, sah die Feuer lodern, sah die Heere wachsen. Verzweifelt schloss er die Lider über den pupillenlosen Augen, versteckte sie vor den Gräueln der Welt. Doch die Bilder stöberten ihn auf, zerrissen seine selbstgewählte Dunkelheit, erhellten sie im Schein des Weltenbrand.
Die Visionen dauerten an. Manchmal glaubte er ein Ende des Schmerzen zu erahnen, eine Nische Dunkelheit, in der sein gepeinigter Geist Ruhe fände vor dem unerträglichen Licht. Strebte er jedoch nach diesen Oasen des Friedens, riss ihn ein neues Bild fort, noch schrecklicher als die vorigen. Kein Anblick blieb ihm erspart: Männer weinten um Ihre Frauen, Frauen um ihre Kinder, die Kinder um ihre Eltern. Trauer und Zorn überströmten das Land. Was hatten sie getan, dass sie das erleiden mussten?
Der Wächter wusste es. Panisch tastete er nach dem Stab neben seinem Lager. Als seine Finger den Griff umschlossen, verebbten die Visionen. Sanfte Dunkelheit umfing ihn. Mühsam erhob er sich und lauschte.
Viel Zeit war vergangen seit seiner letzten Wanderung. Geräusche einer neuen Ära drangen an sein Ohr. Wo einst das Krächzen der Geier der einzige Laut war, klangen nun Menschenstimmen, holperten Karrenräder über Eisenschienen, fraß Hammerklang sich ins Innere des Berges.
Einen Moment gab er sich der Illusion hin, dieser Lärm hätte ihn geweckt. Leicht amüsiert schüttelte er den Kopf. Sein Lager war dem Zahn der Zeit entzogen. Mochte auch eines Tages der Berg nicht mehr existieren, sein Weg würde doch immer hier beginnen. Was konnten da die Hacken und Spaten von ein paar Sterblichen ausrichten?
Müde schlurfte er zur Tür. Wie viele Male hatte er diesen Weg eingeschlagen? Wie oft die Klinke heruntergedrückt, wie häufig das Staunen der Sterblichen erlebt, wenn aus dem Nichts eine Tür erschien. Er achtete nicht mehr darauf. Witternd wie ein Tier prüfte er die Luft: Ein kalter Westwind, zu feucht für einen Sonnentag. Gut, wenigstens das blieb ihm dieses Mal erspart. Seufzend zeichnete er die heiligen Runen in den Boden, die erregten Arbeiter ignorierend. Als die letzte Rune den Boden zierte, stieß sein Stab herab.
Die magische Explosion vertrieb alle Erinnerungen über den Wächter aus dem Kopf der Minenarbeiter. Doch während die Menschen sich noch verwirrt anschauten, schritt der Alte schon weiter. Die Zwischenwelt hatte sich nicht verändert. Noch immer existierte sie neben der Welt der Menschen, und immer noch durchströmte sie Magie als Lebenselixier.
Lange währte seine Reise, viele Abenteuer erlebte er. Das Licht stets meidend, bezwang er die lichtlosen Höhen, entkam dem Finsterwald, durchquerte die dunklen Höhlen. Manchmal fragte er sich, ob all die Mühsal lohne. Wie viel einfacher wäre es doch, die glücklichen Länder der West-Stämme zu durchreisen. Aber gab es hier Gefahren, denen er entgehen konnte, lauerte dort ein Feind, dem man nicht entkam: Die ewig herrschende Sonne. Mochte seine Blindheit ihm auch Ihr Licht ersparen, ihre Wärme traf ihn wie glühender Stahl - genau wie jener, der ihm seine Menschlichkeit geraubt hatte, vor langer Zeit.
Sie hatten ihn nicht gezwungen. Völlig freiwillig war sein Entschluss, als er an jenem verfluchtem Tage die Klosterhalle betrat. Er war nur ein weiterer Held gewesen, der die Rettung der Welt als seine Aufgabe sah. Denn die Zeit war wieder einmal gekommen, dem Bösen Einhalt zu gebieten. Der Plan der Mönche hatte sich vernünftig angehört: Statt ständig neue Heere gegen das Tor zu führen, sollte ein Mann die Macht bekommen die Armeen des Bösen zurückzudrängen. Bis zum Ende der Zeit sollte das Übel die Grenzen zur Zwischenwelt nicht überschreiten.
Sie hatten auch die Blindheit nicht verschwiegen, ihre Notwendigkeit, um dem Wahnsinn zu entgehen, den jeden Mensch beim Anblick des Schreckens ereilte. Er hatte freudig zugestimmt. Noch hatte er nicht erfahren, was es hieß, alle Freuden des Daseins aufzugeben - für immer.
Oh ja, es war ein grandioser Erfolg gewesen. Die dunklen Armeen flohen vor der Macht seines Stabes. Er ganz allein hielt die Brücke von Durinthat, wo früher Legionen von Menschen sich aufrieben im verzweifelten Kampf. Stille herrschte, als er das Tal verließ. Der Feind war zurückgedrängt, das Böse besiegt. Und doch war es nur die Ruhe vor dem erneuten Sturm, das rasche Atemholen einer Bestie, kurz vor dem erneuten Angriff. Der Feind war nicht besiegt, nur geschlagen. Er würde es wieder versuchen, wieder und wieder, bis ans Ende der Welt.
Doch die Menschen wussten davon nichts. Als er zurückkehrte herrschte Jubel. Barden besangen seine Taten, schrieben Epen, trugen seinen Ruhm in die Welt. Wallfahrer aus allen Teilen der Zwischenwelt drängten ihn zu sehen. Gelehrte wollten seine Weisheit erfahren, Helden seine Kraft. Es war ein gutes Leben - bis man ihn vergaß.
Das Rad der Zeit drehte sich weiter, doch er blieb auf der Nabe sitzen. Legenden bildeten sich, zerfielen. Märchen entstanden, gingen verloren. Sogar eine Religion verehrte ihn zeitweise, als Hahn mit Ochsenkörper. So wanderte er noch eine zeitlang durch die Welt, bis er beschloss sich schlafen zu legen. Die Mönche hatten ihm einen Schlafplatz eingerichtet, bevor ihre Bruderschaft zerfiel, mitten in ihrem heiligen Berg. Unangetastet vom Wandel des Universums würde dort seine Ruhe geschützt sein, bis das Übel sich erneut regte. Dort legte er sich und rastete.
Aber das Böse kennt keine Zeit und keinen Schlaf. Immer wieder drängte es an die Grenzen der Welt, und der Wächter musste erwachen. Jedes Mal trieb er es zurück, und jedes Mal kehrte er zurück zum Schlafen. So verrann die Ewigkeit. Bis heute.
Der Pass lag vor ihm. Er spürte den eisigen Hauch, der aus den Tiefen der Weltschlucht hervorkam. Selten hatte er ein so ungutes Gefühl gehabt, die Brücke zu betreten. Irgendetwas stimmte nicht. Die Visionen waren so klar gewesen, wie nie zuvor. Statt Schemen hatte er Menschen gesehen, statt Schatten Bilder. Der Feind musste ungeheure Kräfte gesammelt haben. Aber er war der Wächter! Lief er davon, würden all die Bilder in seinem Kopf Realität. Entschlossen fasste er seinen Stab und schritt die letzten Meter bis zur Grenze.
Grässliches Dröhnen klang an sein Ohr, Stöhnen von gemarterten Seelen, unmenschliche Schreie. Metall klirrte, Räder ächzten, kehlige Schlachtgesänge erklangen, donnernde Befehle hallten. All das mischte sich zu einem Choral des Hasses und der Zerstörung, untermalt von beißenden Verwesungsgeruch. Seine Blindheit verbarg ihm die Sänger.
Doch mit einem Mal zerreißt der Schleier vor seinen Augen, grausames Leuchten durchdringt die leeren Höhlen, erfüllt sein Innerstes mit grellen Licht. Der Feind sendet Bilder, der Wächter empfängt. Erstmals erkennt er die ganze Macht seines Gegners: Alptraumwesen soweit der Blick reicht, bis an den Horizont und noch weiter. Bilder überfluten den Wächter, lenken den Blick auf immer neue Scheußlichkeiten: Sphinxen und Giganten, Dämonen und Greifen, Orks und Oger, Untiere mit riesigen Zähnen und Krallen, Zombies, Skelette, Vampire, alle Ängste der Menschheit. Angst und Verzweiflung bringen diese Bilder dem Wächter und immer grässlicheres Licht. Der Schutzmantel ist verbrannt, der Wächter wehrlos.
Gepeinigt stürzt er zu Boden, wälzt sich im schrecklichsten Schmerz, verliert seinen Stab. Der Blick folgt dem Stab, dessen Sturz in den Abgrund, immer weiter hinab in de dunkelsten Tiefen. Der Wächter spürt, er braucht nur dem Stab zu folgen, die Dunkelheit umarmen in ewiger Nacht, und alle Sorgen wären vergangen. Ewige Ruhe fände er dort, seine einzige Sehnsucht. Schon bei dem Gedanken daran verblasst der Schmerz, langsam entgleitet sein Geist in die Tiefe.
Aber Erinnerungen treiben aus seinen Innersten hervor, wie Luftblasen in Wasser. Noch einmal sieht er, aus eigenen Augen, nicht gelenkt von den Mächten des Chaos. Farben erkennt er, den Elfen-Baum, seinen besten Freund und seine Familie. Das Böse erkennt das, reagiert: Es wendet den Blick direkt auf die Sonne. Stechender Schmerz durchbohrt ihn, doch er flieht nicht, stellt sich dem Licht und ... öffnet die Augen!
Keine Barriere stand mehr zwischen ihm und der Welt. Er sah nun die Heere, die ihn eben noch ängstigten, doch war ihr Schrecken gebrochen. Er lachte. Mit gewaltiger Stimme vertrieb er sie alle, zurück in die Hölle, aus der sie entstammten. Der blinde Wächter starb, seine Pflicht war erfüllt.
Es gab nur noch den Sehenden.