Der Blinde Passagier
Mit einem Koffer in der einen und einem heißen Kaffee in der anderen Hand, stand ich an diesem kühlen Frühlingsmorgen am Frankfurter Hauptbahnhof und wartete ungeduldig auf meinen Zug. Ich freute mich recht wenig darauf meine Familie in Kassel zu besuchen. Im Büro wäre noch so viel zu tun gewesen und für Freizeit hatte ich als junge Geschäftsführerin eigentlich überhaupt keine Zeit mehr. In Gedanken zählte ich die Stunden, die ich nach diesem Wochenende aufzuholen hatte und rief zum dritten Mal an diesem Morgen meine Sekretärin an, um sicher zu gehen, dass ohne mich nicht alles zur Grunde ging. "Ach, Sara! Wir kriegen das schon hin ohne dich! Jetzt schalt' mal ab und genieß' die Zeit mit deiner Familie!" beruhigte sie mein Gewissen und ich legte seufzend auf. Nach einer weiteren Viertelstunde fuhr der Zug ein und blieb quietschend vor mir zum stehen. Genervt schlängelte ich mich durch die Abteile und ließ mich schließlich auf einem leeren 4-er Platz nieder. Nur wenige Haltestellen später fiel mir ein junger Mann auf, etwa in meinem Alter, der sich auf der Suche nach einem Sitzplatz durch das Abteil tastete. Bei mir angekommen, bemerkte ich, dass seine Augen geschlossen waren. Er war blind. „Sie können sich mir gegenüber setzen. Der Platz ist noch frei." bot ich ihm an und er lächelte dankbar in meine Richtung. Eine Weile schwiegen wir und ich fing an ihn zu beobachteten. Ich fragte mich, ob er schon immer blind war oder es erst im Laufe seines Lebens geworden war und verspürte Mitleid mit diesem jungen Mann. Es musste schrecklich sein, nichts sehen zu können, dachte ich. „Würden Sie mir einen Gefallen tun?“ unterbrach der Blinde die Stille. Ich erschrak aus meinen Gedanken und nickte ihm zu, bis mir bewusst wurde, dass er dies überhaupt nicht sehen konnte. „Äh, ja klar. Was kann ich für Sie tun?" antwortete ich schließlich. „Erzählen Sie mir, was Sie sehen." Einen Moment war ich skeptisch. Was wollte der Blinde von mir hören? Ich blickte ihn an und er lächelte abwartend in meine Richtung. Also gut, dachte ich. Ich sah aus dem Fenster und versuchte schnell einzufangen, was ich sah, bevor der Zug weiterfuhr. Ich erzählte ihm, dass die Sonne schien und die Blätter grün blühten, von den gelben und blauen Häusern und dass die Vögel in Schwärmen am Himmel flogen. Gerade wollte ich weiter sprechen, als mich der Blinde durch sein lautes Lachen unterbrach. „Du kannst sehen und trotzdem bist du blind. Es geht nicht um die Farben der Häuser oder das Grün der Blätter. Es geht um das Magische, Übernatürliche. Du siehst nicht richtig hin." Verärgert schaute ich durch die Fenster. Ich machte mich für diesen Mann zum Affen und musste mir dann auch noch von ihm anhören, ich könnte nicht sehen. Was gab es denn zu sehen, außer dem Offensichtlichen? Ich fing an, mir Gedanken über die Worte des Mannes zu machen. Konnte er recht haben? Habe ich als Kind nicht auch viel mehr sehen können, als ich es jetzt tat? Noch einmal blickte ich aus dem großen Fenster des Zuges, doch dieses Mal versuchte ich nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen zu sehen. „Die Sonne reflektiert auf der Wasseroberfläche des Sees und lässt die Flächen rechts und links aussehen, als gehörten sie zu zwei unterschiedlichen Welten und dort vorne, da steht ein Baum. Er wächst anders als die anderen, so als wäre er etwas Besonderes. Als verbärge er einen Schatz und am blauen Himmel ist nur eine einzige Wolke zu sehen, die aussieht wie ein Engel, der auf uns herunter sieht und aufpasst, dass wir alle den richtigen Weg finden." Als ich meinen Bericht beendete, war ich erstaunt über mich selbst. All diese Dinge hatte ich vorher nicht wahrgenommen, doch plötzlich erfüllten sie mein Herz, als hätten sie nur darauf gewartet, von mir entdeckt zu werden. "Du hast es geschafft." unterbrach der Blinde meine Gedanken und lächelte. "Du hast ihn wieder gefunden." "Was habe ich wieder gefunden?“ fragte ich. „Den Blick. Den, den wir beim Erwachsenwerden so schnell verlieren!“ Wieder lächelte er mich an und dieses Mal hatte ich das Gefühl, er schaue direkt in mich hinein. Noch lange nachdem der Blinde ausgestiegen war, dachte ich über seine Worte nach. ‚Ein Blinder lehrte mich heute, zu sehen‘ dachte ich und lächelte in mich hinein. Diese Bahnfahrt werde ich nie vergessen!