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Der blinde Anthropologe
I.
Die Sonne brennt heiß an diesem Nachmittag über Berlin. Wolfgang sitzt in kurzen Adidassporthosen und einem Feinrippunterhemd auf seinem Sofa. 70er Plattenbauchique, inmitten von Berlin Marzahn.
Die Luft ist dick um ihn herum, der Schweiß auf Wolfgangs Haut scheint zu dampfen und der Liquor in seinem Kopf kocht wohl schon seit Stunden.
Doch nicht nur die Hitze in dieser unsäglich trostlosen Wohnung ist der Grund, warum sie für Wolfgang schon seit geraumer Zeit eine Art Vorhof zur Hölle darstellt: Die beiden Söhne, seit geraumer Zeit schon ausgezogen, kommen bloß noch zu Weihnachten und vielleicht zu Geburtstagen vorbei. Für Wolfgang jedoch nicht das große Problem, bringt es ihn doch immer wieder nur zur Weißglut, die Scham in ihren Augen zu sehen, wenn sich die feinen Herren die Ehre geben, ihre Alten zu besuchen.
Dann ist da auch Heike, Wolfgangs Ehefrau. Verheiratet seit 1978, hat sich die Ehe in den letzten Jahren (oder vielleicht doch Jahrzehnten) dahingehend entwickelt, dass beide sich von Ehegatten hin zu zwei Verlorenen verwandelt haben, die irgendwie zu zweit, aber eben doch nicht gemeinsam versuchen, sich durch das Leben zu schleppen.
Für Wolfgang offensichtlich, dass Heike an dieser Misere einen Großteil der Verantwortung trägt. So erlebt sie in letzter Zeit eine Art zweiten Frühling, dritten Sommer, oder wohl doch eher , wie er selbst es gerne ausdrückt, ein letztes Abendmahl.
Oft geht sie mit Freundinnen Cocktails trinken, lacht wie eine pubertierende Teenagerin, wenn eine ihrer Freundinnen mal wieder ein furchtbar albernes Video auf ihr Handy schickt und zeigt keinerlei Interesse an Wolfgang, der doch immer für sie da gewesen ist.
Und ganz zu schweigen von ihrer Kleidung: So trägt sie Klamotten, die Wolfgang ganz und gar nicht angemessen für ihre 57 Jahre hält. Violett, Pink, Knallrot, recht knapp und ziemlich eng. Heike scheint offensichtlich nicht zu bemerken, dass ihr neuer Kleidungsstil nicht über ihre nun schon 3 Rettungsringe hinwegtäuscht, welche sich um ihren Bauch spannen. Und überhaupt, was soll diese neue Frisur mit den blonden Strähnchen, mit der sie eher wie eine polnische Putzfrau aussieht, die auf der Suche nach einem reichen Deutschen ist?
Oftmals, wenn sie wieder mal für einen ihrer Mädelstage ausgeht, so wie heute auch, gehen beide im Streit auseinander. Das stört Wolfgang jedoch nicht so sehr. Warum sollte er ihr nicht sagen, wie unangebracht er ihr ganzes Gehabe findet? Und außerdem gibt es ihm jedes Mal in gewisser Weiße Genugtuung und ein Gefühl des Triumphs, sie mit dem Wissen ziehen lassen, dass sie sich mal wieder böse Worte um den Kopf geschlagen haben. Soll sie doch mit diesem Gefühl ihre Treffen genießen.
Er selbst sieht sich nach wie vor als recht adrett an, oder altersangemessen, wie man so schön sagt. Gut, sein Unterhemd ist nach gut zwei oder doch drei Tagen tragen schon etwas fleckig, auch sein Körper sieht nicht mehr ganz nach dem Astralkörper aus, der ihn früher ausgezeichnet hat. Doch nach wie vor sieht man ihm seiner Meinung nach die stolze Statur eines Hauptmannes der NVA an, welcher er bis zur Wende gewesen ist. Diese verdammte Wende, welche sich irgendwelche zwielichtigen Politiker in Hinterzimmern hinter verschlossenen Türen ausgedacht haben, hat seine ganze Karriere zerstört. So hat er doch kurz vor seiner Beförderung zum Major gestanden, hat in den höchsten Kreisen diniert und muss sich jetzt als Arbeitsloser mit einer Tüte Flips der Marke „ja!“, einer Dose Bier „Ratskrone“ (Premiumpils) und „Mitten im Leben“ auf RTL vergnügen. Manchmal fühlt sich Wolfgang, als ob sich die ganze Welt gegen ihn verschworen hat.
II.
Um 3 muss Wolfgang los, er hat mal wieder eine Meldeaufforderung vom Jobcenter Marzahn-Hellersdorf bekommen. Welch perfider Euphemismus für einen trostlosen Ort wie diesen. Jobcenter, das klingt nach Service,Fortschritt, Aufbruch, frisch und modern. In Wahrheit jedoch ist es elende Warterei, Demütigung durch unangemessene „Angebote“ (Erntehelfer, Lagerist, interessantes Praktikum mit Übernahmechance bei einer Spedition) und eine Ansammlung verlorener Seelen, die nur durch ihr elendes Schicksal vereint sind. Friss oder Stirb!
Doch trotz allem möchte Wolfgang dort schick erscheinen. Er zieht sich eine braune Cordhose an und findet im Schlafzimmer noch ein letztes, halbwegs tragbares Kurzarmhemd. Es sieht zwar schon etwas getragen aus und riecht nicht unbedingt frisch gewaschen, doch alles in allem gefällt er sich, wie er sich so vor dem Spiegel sieht. Aus einem Küchenschrank kramt er noch eine Pennytüte, denn er möchte auf dem Rückweg noch bei der Trinkhalle um die Ecke vorbeischauen, und das letzte Hemd hat bekanntermaßen keine Taschen für Dosenbier.
Die 15 Minuten zum Jobcenter bringt Wolfgang, wie sonst auch immer, zu Fuß hinter sich. Er hat es noch nie wirklich in Betracht gezogen, sich mit den ganzen Obdachlosen, halbstarken Ausländern und dem sonstigem gesellschaftlichen Bodensatz gemeinsam in ein Fahrzeug zu setzen. Ein Auto besitzt er schon länger nicht mehr.
Nach einer schier endlos langen Zeit des Wartens inmitten von Personen, denen es gleichgültig erscheint, ob sie hier auf den Zahnarzt, Henker oder Sachbearbeiterin Nr. 13 warten, wird Wolfgang endlich in ein kleines Abteil inmitten eines Großraumbüros gerufen.
Zu seinem Entsetzen sitzt dort bereits Frau Dreher, welche auf Wolfgang mit ihren geschätzten 80 Kilo und ihrem verzogenen Mund wie eine aufgerichtete, vollgefressene Speikobra wirkt, die nur darauf wartet, Gift und Galle zu spucken. Nur zu gut kann sich Wolfgang vorstellen, dass abends niemand zu hause auf sie wartet, niemand da ist, um mit ihr zu reden. Warum sonst sollte sie so garstig und herabwürdigend sein?
„Herr Seibert, ich habe mir nochmal Ihren Lebenslauf angeschaut, an dem wir jetzt schon seit einiger Zeit arbeiten. Ich muss Ihnen leider sagen, dass er immer noch lückenhaft ist. Warum sollte sich denn ein Arbeitgeber für Sie interessieren, wenn Sie noch nicht einmal alle Schulen namentlich angeben, die Sie besucht haben. Und die Angabe 'Studium' für sich alleine ist auch zu wenig, da sollte schon eine Fachrichtung dabei stehen. Wenn Sie etwas an Ihrer Lage ändern wollen, müssen Sie schon irgendwann mal in die Gänge kommen.“ Zwar ist Wolfgangs Körper anwesend, doch seine Gedanken sind weit weg während des gesamten Gesprächs. Warum sollte er diesem unzufriedenen Drachen zuhören, ist es doch immer dieselbe Leier mit ihr. Ein aufgesetztes Lächeln hat bisher auch immer gereicht.
Erntehelfer, Lagerist &CoKG, so wie immer. Irgend eine höhere Macht muss doch etwas gegen ihn haben.
III.
Nach der ca. halbstündigen Sitzung – wie es so schön genannt wird - mit Frau Dreher kann er sich nun endlich auf dem Weg zur lokalen Trinkhalle machen. Nicht, dass Wolfgang ein Trinkproblem hätte, wie Heike schon das ein oder andere Mal angedeutet hat. Für ihn sind die ein, zwei (oder drei) Bier am Tag einfach nur eine gute Möglichkeit, dem ganz normalen Wahnsinn zu entkommen, in welchem er sich tagtäglich befindet.
Horst, der Trinkhallenbetreiber und er kennen sich nach all den Jahren natürlich schon beim Namen. Seine fünf Bier und den Klopfer Korn stellt er schon auf den Tresen, ohne dass Wolfgang schon ganz an der Trinkhalle angekommen ist. Schön, wenn Routine nach all den Jahren auch einmal hilfreich sein kann. Mit Eike – ein weiterer Stammgast an der Trinkhalle – ärgert er sich noch schnell über die Flut an Asylanten, welche diesen Sommer über das Land hereinbricht und kein Ende kennt. Dann bricht er , schon etwas besser gelaunt, wieder auf, entschließt sich jedoch, gegen seine Gewohnheit, einen kleinen Umweg zu machen. Er kommt an einem kleinen Café vorbei, welches sich schon seid gefühlt 100 Jahren an der selben Stelle befindet und welches er und Heike in besseren Tagen frequentiert haben.
Wolfgang betrachtet die Gäste, welche auf der Veranda an kleinen Tischen sitzen. Jüngere und ältere Menschen, welche alle vereint darin sind, vorzutäuschen, das Leben zu genießen, obwohl sie doch genau wissen, dass das alles hier zum Himmel stinkt. So sitzen sie hier in ihrer Selbstgefälligkeit, die Studenten, die Arbeitskollegen, die Liebespaare...und dann rutscht ihm sein Herz in die Hose. Heike, tief im Gespräch mit einem anderen Kerl versunken, welcher ihre Hände dabei hält, sie sogar noch etwas streichelt.
Hass flackert in seinen Augen, Wut flammt in seinem Herzen auf und noch viele andere Dinge, die er schon lange nicht mehr verspürt hat. Am Liebsten würde er sofort auf den Tisch springen, Heike anschreien, diesem Kerl auf die Nase schlagen und dem Kaffeekranz hier zeigen, was er von dieser ganzen Farce hält.
Doch schnell übermannt ihn Frust und die Gewissheit, dass sich hier im Moment sowieso nichts ändern lässt. Das kann auch bis heute Abend warten, denkt Wolfgang sich. Er dreht sich um, um doch noch einmal an der Trinkhalle vorbeizugehen und denkt sich dabei, dass er nun endlich Gewissheit hat. Hier hat sich einfach jeder gegen ihn verschworen. Dafür hat er sich den zweiten Korn doch wohl wirklich verdient.