Der Blick ins Leere
Das Leben in einer Großstadt kann sehr aufregend sein und in den meisten Fällen ist es tatsächlich der Fall. Man geht aus dem Haus und landet in einer Welt, in der immer etwas passiert. Restaurants und Cafés, die sich auch noch in einer schönen Lage an einem Fluss oder See befinden, findet man nie leer. Viele Boote und relativ große Schiffe, die durch ihre helle Beleuchtung immer auffallen, fahren den Fluss entlang. Jeder Mensch scheint zu wissen, wohin er gehen soll, jeder scheint Spaß zu haben. Doch wie gesagt, es scheint nur so. In Wahrheit fühlt man sich nirgendwo, selbst in dem kleinsten Dorf der Welt, einsamer als auf einer dieser Straßen voller Leute. Wenn ich durch die Menschenmengen laufe, glaube ich fast unsichtbar zu sein. Vielleicht ist nur der Umstand, dass ich alleine bin, daran schuld, vielleicht denke ich einfach zu viel über meine Gefühle nach und bin deshalb so empfindlich. Doch ich bin lieber unsichtbar als mit einer Gruppe Freunde unterwegs, denn wäre letzteres der Fall, müsste ich in das Restaurant gehen, in das sie wollen, auch wenn mir selbst das Essen dort nicht schmeckt. Ich müsste mich anpassen. Und eine unsichtbare Person wie ich es heute Abend bin, ist wenigstens frei. Ich kann mich jederzeit in mein Auto setzen und fahren wohin ich will, ich muss niemanden um Erlaubnis bitten, denn ich habe niemanden. Das ist vielleicht der einzige Vorteil einer solchen Situation wie meine. Eine Studentin, alleine in der Stadt, von ihrem eigentlichen Zuhause weit entfernt. Klar, ich habe eine Wohnung in einem dieser großen Häuser mit unzählig vielen Fenstern, aber das kleine Zimmer mit einem ungemütlichen Bett darin und lauten und unfreundlichen Nachbarn in naher Umgebung, erkenne ich nicht als Zuhause im wahrsten Sinne dieses Wortes an.
Von Anfang an gefiel mir meine Wohnung nicht, doch ich fand in dieser Stadt keine Alternative, also hatte ich keine Wahl. Beim Unterschreiben des Mietvertrages war ich der Meinung, das Wissen, dass mein Zuhause mit meinen Eltern und Geschwistern noch irgendwo auf diesem Planeten existiert, reicht aus. Doch es war nicht genug. Ein mehrere hundert Kilometer weit entferntes Zuhause fühlte sich nicht mehr real an, es hatte mehr etwas von einer Illusion. Zwischen mir und meiner Familie lagen Welten und in meiner Welt, in dieser Großstadt, hörte ich von der anderen Welt nicht besonders viel.
Aber zurück zum Thema. Vorhin sprach ich doch über den einzigen Vorteil, den das Alleinsein mit sich bringt. Ich konnte jederzeit genau das tun, was ich wollte. Auch dann, wenn ich mein Zuhause am meisten vermisste, nutzte ich diese Möglichkeit. Die unsichtbare Person hatte jetzt ein Ziel: Sie setzte sich in ihr Auto und fuhr davon.
Ich wusste noch nicht, wohin ich fahren wollte, doch ich hoffte, dass es mir schnellstmöglich einfällt. Das Fahren fühlte sich schon mal besser an als das Laufen durch die Straßen, im Auto fühlte ich mich irgendwie sicher. Sicher vor der Außenwelt und der Einsamkeit, die dort auf mich wartet.
Ich stand gerade in einem Stau an einer der wichtigsten und größten Straßen der Stadt als mein Handy plötzlich klingelte. Ich schaltete das Radio aus und nahm den Anruf an. Es waren nicht meine Eltern, wie ich es erwartet hatte.
„Hallo?“
„Hey! Wie geht’s?“
Jetzt war mir klar, wer auf die Idee gekommen war mich anzurufen. Die unverwechselbar hohe Stimme gehörte einer guten Freundin von mir, die in einem Dorf in der Umgebung lebte und von der ich leider nicht besonders oft hörte.
„Mir geht’s so wie immer, hab nichts Spannendes zu erzählen.“, antwortete ich und fürchtete, dass ich zu traurig klang.
„Du scheinst aber gelangweilt zu sein!“, wunderte sich meine Freundin, „Ich dachte du lebst in einer Großstadt! Da ist es nie langweilig, du kannst immer das tun was du willst! Shoppen, Partys…“
„Ich weiß. Nur stehe ich gerade im Stau, deshalb…“
„Ach so? Wo fährst du hin?“
Ich war ehrlich und antwortete, dass ich noch keinen Plan hatte. Meine einzige Hoffnung war, dass mir spontan etwas Gutes einfällt.
„Wie wäre es, wenn du mich besuchst? Im Gegensatz zu dir lebe ich in einer Gegend, wo nie etwas passiert. Leere Straßen, ein paar Häuser, Stille…“
„Ich hab`s schon verstanden.“, lachte ich, „Wie war nochmal deine Adresse?“
Mein schönes neues Auto war tatsächlich das viele Geld wert, das ich dafür bezahlt hatte. Es hatte nur einen einzigen Schwachpunkt: Den Navi. Nachdem ich die Adresse meiner Freundin eingegeben hatte, musste ich eine Ewigkeit auf die ersten Anweisungen warten. Wenigstens führte mich der Navi weg von dem Stau, doch das war wahrscheinlich das einzig Positive. Ich fuhr durch enge leere, mir unbekannte Straßen, von denen ich nicht erwartet hatte, dass sie im Zentrum einer Großstadt existieren können. Ich wusste nicht, ob ich etwas in den Einstellungen verändert hatte oder ob Navis es generell bevorzugten solch komplizierten Wege zu wählen, um klug zu erscheinen.
Die unbekannten geheimnisvollen Straßen führten mich auf eine genauso unbekannte und geheimnisvolle, aber zum Glück etwas breitere, Autobahn. Und erst als ich von der Autobahn auf eine normale Landstraße mit zu vielen Straßenschäden kam, fing ich an den vom Navi ausgewählten Weg seltsam zu finden. Ich hatte meine Freundin schon ein paarmal besucht, also hatte ich den Weg zu ihr ungefähr in Erinnerung. Nur ungefähr- deshalb brauchte ich den Navi. Aber meine Erinnerungen und mein Verstand sagten mir plötzlich, dass der Weg, den ich jetzt fuhr nicht der Richtige sein konnte.
Ich überprüfte meine Angaben im Navi- alles stimmte. Vielleicht gab es verschiedene Wege, die zum Haus meiner Freundin führten und dieser war doch einer von ihnen? Vielleicht. Mal sehen was weiter passiert. Mit dieser Einstellung vertraute ich dem Navi und fuhr einfach weiter durch eine mir völlig unbekannte Gegend. In einer halben Stunde bekam ich einen Anruf.
„Wo bleibst du denn?“, fragte meine Freundin besorgt.
„Ich bin auf dem Weg zu dir, wo soll ich sonst sein?“
„Aber ich warte auf dich schon seit einer Stunde und so weit entfernt ist mein Dorf auch nicht.“
„Ich glaube, ich habe mich verfahren.“, sagte ich und legte auf. Warum legte ich so plötzlich mein Handy weg? Es gab anscheinend dringendere Probleme, als die, die ich mit meiner Freundin besprechen wollte.
„Biegen Sie nach links ab.“, sagte mein Navi und tat so als wäre das ein guter Rat. Als ich nach links schaute, war ich plötzlich ganz anderer Meinung.
„Du bist ein Auto und kein U-Boot!“, sagte ich. Da, wohin mich der Navi führte, befand sich ein großer Fluss. Und leider konnten Autos weder schwimmen noch fliegen. Fahren oder stehen bleiben- diese beiden Optionen hatte ich. Ich blieb am Straßenrand stehen und stieg aus dem Auto aus. Ich konnte mich so lange umsehen wie ich wollte- die Gegend kannte ich nicht.
Um an das Ufer des Flusses zu gelangen musste ich eine Weile durch das Feld laufen, so hörte ich die an der Straße fahrenden Autos kaum, als ich angekommen war. Die Strömung war schnell, der Fluss breit, unter meinen Füßen befanden sich Sand und Steine, die an das Wasser grenzten, in dem sich die Spitzen der wenigen etwas weiter entfernten Bäume spiegelten.
„Komme heute nicht mehr. Habe mich verfahren, bin müde. Tut mir leid.“ So lautete die Nachricht, die ich an meine Freundin sendete. Sie wird alles sicherlich so gut verstehen, wie ich. Das bedeutet: Akzeptieren, aber noch sehr weit vom Verstehen im wahrsten Sinne dieses Wortes entfernt sein.
Ich schrieb, dass ich müde war und glaubte auch selbst daran. Doch das alles war nur Einbildung. Ich glaubte nur, ich sollte müde sein, deshalb fühlte ich mich zuerst auch so. Aber das verging schnell. Ich verbrachte den Abend damit am Ufer des Flusses zu spazieren, wo niemand war, außer mir. Keine Menschen, die mir das Gefühl gaben, einsam zu sein.
Was machte ich nur? Ich fand einen alten verlassenen Parkplatz wo ich mein Auto abstellte. An diesem Tag kam ich nicht zurück in meine kleine Wohnung, ich schlief auf der Rückbank des Autos ein. Vielleicht war es dort sogar gemütlicher als in meinem Bett mit der harten Matratze?
Am nächsten Morgen versteckte der Nebel den Fluss vor meinen Augen. So kam es dazu, dass ich glaubte einfach ins Leere zu schauen und statt am Ufer zu spazieren an einer Grenze stand. An einer Grenze zwischen zwei Welten. Meiner Gegenwart und meiner Zukunft. Von der Letzteren wusste ich sehr wenig, da der Nebel sie vor mir verborgen hielt. Doch sehr bald schaffe ich es, sehr bald bin ich in dieser geheimnisvollen Welt, die jetzt noch vor mir liegt. Und was passiert mit dem Hier und Jetzt? Was passiert mit meiner ungemütlichen kleinen Wohnung, der Einsamkeit in der Großstadt, dem Ufer dieses Flusses? Wenn ich später zurückblicke, werden sie alle vom Nebel versteckt sein, ich werde sie nicht mehr sehen können, denn all das wird irgendwann in Vergessenheit geraten.