Der blaue Regenschirm
„Ihr Tee, mein Herr. Sicherlich wollen Sie ihn heiß genießen“, die großen Augen des Mädchens blitzten auf, während sich ihr winziger Mund zu einem Grinsen verzog und sie den ebenso winzigen Kopf schieflegte, „Ihre Finger werden ansonsten niemals ihre ursprüngliche Farbe zurückerhalten, das kann ich Ihnen versprechen!“
Er hatte in diesem Café Zuflucht und Schutz vor der nahezu tödlichen Kälte gesucht, so versuchte er das dröhnende Menschengemurmel neben den Schritten der Kellner, dem Scheppern der Gläser und dem stummen Piano, auszublenden. Wie spitze Nadeln stachen sie gewaltsam auf sein ohnehin schon überfordertes Trommelfell ein. Diese Menschen waren anstrengend, achtlos! Denn Worte, wie sie sie verdrehten, zerschnitten und sinnlos aneinanderreihten, ein einfaches Mittel zum Zweck, konnte für einen poetisch gestimmten Menschen wie ihn nur eine Plage sein. Warum sonst hätte er fortwährend ein überspanntes Gemüt, sobald er die Schwelle nach draußen widerwillig übertrat?
Nun, dass der Winter in all seiner Grausamkeit vor der Türe, wenn nicht sogar im Türrahmen, stand, spielte zweifelsohne auch eine entscheidende Rolle.
Zwiespalt war noch nie sein Freund gewesen, denn eigentlich schrieb er gerne, Vers über Vers, über jene eisigen Kristalle, die auf die Straßen und Ziegel dieser verkommenen Stadt hinabschwebten. Eine wundersame Leichtigkeit der Natur, zugleich ein Ungetüm, verantwortlich für frierende Glieder, klappernde Zähne und unaufhörlichen Ofengebrauch. Darüber hinaus konnten es die kleinen Gören aus den ansehnlichen Familien nicht lassen, die weiße Masse über die Menschenströme hinweg, nicht selten auf seine vor Kälte gerötete Nase, zu katapultieren, sodass ihm die teure Brille unter einem Klirren vor die ertaubten und durchnässten Füße fiel. Das grölende Gelächter aus ihren noch zarten und jungen Kehlen versuchte er meist mit wortlosem Murren aus den Gedanken zu drängen.
Er hasste Kinder.
Umso weniger war er in der Lage zu begreifen, warum er diesen aufdringlichen Winzling auf dem gegenüberliegenden Stuhl seines Tisches zugunsten seiner geliebten Ruhe und seines Freigeistes nicht schon lange verscheucht hatte. Über seine Skripte hinweg blickte sie ihn aufmerksam an, ohne jegliche Trübe in den kindlichen Zügen, jedoch von Ruß und zahlreichen Schürfwunden übersät – wo trieben sich diese Biester nur immer herum? Er hatte gedacht, dreierlei finstere Mienen würden genügen, um die kurzen Mädchenbeinchen, eher baumelnde Ästchen in geflickte Wollstrumpfhosen gehüllt, in Bewegung zu setzen. Bei seinem vierten Versuch strahlte sie nur noch mehr, schwang ihre rötlich schimmernden Haare, die sein dichterisches Ich an den besonnenen Herbst zurückerinnerte, mit einer Kopfbewegung nach hinten.
„Ich dachte immer Poeten wären reich, weil sie uns mit so schönen Worten erfreuen. So jemand kann doch nur mit Geld um sich werfen.“, sagte die Rothaarige, öffnete bis zum Rande ihre blauen Augen, die er sofort mit jenem, an ihrem mahagonifarbenen Stuhl lehnenden Gegenstand in Verbindung brachte.
Ein blauer Regenschirm. Gleichsam wie die abgetragene Kleidung des Kindes geflickt und durchlöchert.
„Aber ich weiß genau, dass sie neben unserer Wohnung hausen. Ihr Dach, es ist undicht, nicht wahr? Genau wie unseres, wobei Sie vermutlich schlimmer dran sind, mein Herr. Sie sollten sich schleunigst darum kümmern. Ansonsten enden Sie wie der Rest meiner Familie. Krank und an das Bett gefesselt.“
Bei ihrem lauten Kichern, das von für ihn völlig unverständlicher Unbeschwertheit erzählte, fraß sich sein Blick umso fester an ihren blauen Besitz, der bei ihren unkontrollierten Bewegungen drohte auf die bereits feuchten Dielen des Cafés zu fallen, damit sich der Laut des Aufpralls zu seinem Bedauern zu dem anstrengendem Menschengefasels gesellen konnte. Glücklicherweise besann sich das Mädchen rechtzeitig.
Sie? Seine Nachbarin? Und dazu noch eine ganze Familie? Unmöglich. Eine solch fuchsige Gestalt mit einem solch seltsamen Regenschirm über dem Kopf, der vermutlich noch nicht einmal etwas taugte, wäre selbst ihm dann und wann aufgefallen.
Immerhin hasste er Kinder. Und sie waren überall. Warum wollten sie ihn nicht in Ruhe lassen?
Es gab nur ihn, es gab die Reime, Silbe für Silbe, Vers für Vers, Strophe für Strophe, Werk für Werk. Sonst nichts.
„Mein Herr? Sie haben Ihren Tee ja immer noch nicht angerührt.“, plapperte die Rothaarige munter weiter und tippte spürbar mit ihrer Schuhspitze wieder und wieder gegen das zu kurze Tischbein, „Bald ist es zu spät und dann müssen Sie sich eine neue Tasse bestellen. Aber als mein Nachbar müssen Sie sicherlich auch aufpassen, dass Ihnen das Geld für die nächste Miete nicht ausgeht. Sie kennen Ihn ja, unseren strengen Vermieter. Oh, vielleicht sollten Sie ihm ein paar Ihrer Werke zur Schau stellen, oder sie gleich als eine Form der Bezahlung betrachten. Dürfte ich sie mir vielleicht einmal anschauen? Ich bin mir sicher, da lässt sich etwas machen!“
Ihr darauffolgendes Lachen und ihre zielstrebige Handbewegung zu seinen Skripten wurden durch einen ohrenbetäubenden Laut im Keim erstickt, wo sofort sämtliche Münder gefroren. Jene darauffolgende Stille zusammen mit jedem Augenpaar wusste nun, dass er, der ärmliche, zurückgezogen Poet mit voller Wucht auf die Tischplatte geschlagen hatte. Den Grund wusste wie immer niemand. Niemand, außer vielleicht das aufdringliche Mädchen mit dem blauen Regenschirm.
Er hasste Kinder.
Natürlich hatte sich die Rothaarige eifrig wieder zurückgezogen, jedoch keinerlei ängstliche Miene aufgesetzt. Während er sich geräuschvoll von seinem Stuhl erhoben hatte, um sämtliche Papiere, seine mühevoll fabrizierten und doch von der Menschheit verstoßenen Arbeiten, in der Tasche zu verstauen, erfasste er aus dem Augenwinkel eine Form der Trauer in ihren schmutzigen Zügen der Armut, die sich wie ein verzerrtes Spiegelbild in seine kreisenden Gedankengängen drängten.
Genau das wollte er nicht sehen.
Das Murren aus seiner Kehle schien momentan als das lauteste Geräusch in der öffentlichen Räumlichkeit. Es galt neben den achtlos fallenden Münzen als seine Bezahlung des unangerührten Tees auch als sein Abschied, obwohl er wusste, dass seine Behausung nun im Feuchten lag.
„Ihr Dach. Vergessen Sie es nicht zu reparieren.“, hallten die letzten Worte des Mädchens bei seiner widerwilligen Heimkehr, wo erneut die grölenden Kinder ihm mit dem Schnee die Brille von er bereits geröteten Nase schlugen.
So vergingen die Tage des eisigen Winters, am Rande des Menschenstroms, verloren in den geliebten Worten seiner Poesie.
Doch es geschah am Abend des lang befürchteten Schneesturms, dass jener Gegenstand, der aus unersichtlichen Gründen niemals in Vergessenheit geraten war, nun vor seiner Haustüre lag.
Der blaue Regenschirm. Er war geöffnet.
Erst einen Augenblick später bemerkte der arme Poet auch die offenstehende Haustüre seiner für ihn gesichtslosen Nachbarn, die weniger einen Einblick in die Behausung, als eine abgrundtiefe Dunkelheit präsentierte. Und unter dem ihm entgegenkommenden Schweigen von Gesichtslosen und einer roten Mähne fragte er sich:
Hasste er Kinder?