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Der Biss des Tigers
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Der Biss des Tigers
Als ich ihn sechzig Jahre später einmal nach der Geschichte fragte, faltete sich
ein warmes Lächeln in das Gesicht des Inders. Am meisten, sagte er, habe ihn ge-
wundert, wie sehr ein Elefant hinter den Ohren stinkt.
Er war dürr und seine dunklen Augen sahen eigentlich immer ängstlich aus, wenn
man ihn im Dorf traf, aber jetzt hatte der Junge eine so große Panik, dass seine
Füße kaum auf dem Boden blieben: Vor ihm war irgendwo das riesige Tier, hinter
ihm lachten ihn die anderen aus und schoben ihn viel zu schnell vorwärts, und die
feuchte Hitze machte die Luft so dick, dass er nicht atmen konnte und der Schweiß
an seinem ganzen Körper klebte. Der Pfad war eher eine Pfütze als ein Weg. Dor-
nen und kleine Äste schnitten sich durch seine kurzen Beine, es juckte und schmerz-
te, aber er konnte nicht sehen ob er blutete, denn an seinen Waden klebte zu viel
Schlamm. Seit Nagaur waren sie ein oder zwei Stunden gegangen, und sein Hass
auf die anderen war während des Weges unerträglich geworden.
Das Tuch um seine Hüften hatte sich mit seinem Schweiß vollgesogen und rutschte,
sonst trug er nichts. Er wusste nicht, wie er seinen Eltern nachher alles erklären
sollte, sein Vater war so streng, dass er unmöglich die Wahrheit sagen konnte.
„He, Paiuk, Du verlierst Reis!“
„He, ich kann deinen Hintern sehen!“
„He Paiuk, Du hast ja nichts zwischen den Beinen, bist Du ein Mädchen?“
Wütend krallte er die Hände in das rutschende Tuch, er wollte sie ins Gesicht
schlagen, alle fünf, oder wenigstens anschreien, aber wusste nicht, was er schrei-
en sollte. Eigentlich liebte er den indischen Dschungel über alles, auch in den
feuchten Sommermonaten, sogar jetzt, im unerträglich heißen August, aber heute
ekelte es ihn, dass sie mit ihm durch den Wald gingen, plötzlich war es nicht
mehr sein Dschungel.
„Und vergiss nicht, in Poku ist letztes Jahr einer dabei gestorben“ höhnte Kmbali.
„Ja, der war genau so ein Riese wie Du“ , fügte Ako hinzu.
Die fünf Jungen machten immer Witze über seine kleine Größe. Ako kam neben
ihn.
„Sooo groß war der!“ wiederholte er und hielt seine Hand nur zwei Ellen über den
Boden. Paiuk konnte nichts erwidern, seine Stimme würde flattern, und so schluck-
te er nur, und Tränen mischten sich zum Schweiß in seine Augen. Wenn er fest
nach vorne blickte, würde keiner merken, dass er heulte, aber Ako spürte, dass
seine Worte wirkten:
„Weißt Du, nur weil Du dir einen Zahmen ausgesucht hast, ist es nicht leichter.
Die aus Bingash haben es letztes Jahr auch mit diesem Elefanten probiert –
wenn Du erst vor ihm stehst, wird er ganz genau wissen, was Du vorhast, und
dann hast Du keine Chance mehr“.
Paiuk musste daran denken, dass Elefanten ein gutes Gedächtnis haben; heute
würde dieses Tier zu seinem Feind werden und es für immer bleiben.
Sie waren da. Der Dschungel löste sich auf und ging in einen Platz über, der un-
gefähr einen Steinwurf breit war. Hier begannen die Reisfelder, und dahinter konn-
te man die südlichen Gipfel der Ghat-Berge erahnen. Normalerweise konnte man
sie klarer sehen, aber heute waren sie nur eine blasse Zeichnung am Horizont.
Ein Haus stand links von ihnen, es gehörte zu dem Ort Pakuk, die Tür war ge-
schlossen. Neben dem Haus war ein Elefant angebunden, der sich jetzt langsam
zu ihnen drehte und die Ohren abstellte. Nach Pakuk hatten ihn seine Eltern öfter
mitgenommen, denn sie arbeiteten dort auf dem Markt, aber auf diesem Platz war
er noch nie gewesen; nur eineinziges mal hatte er sich nachts hierher geschlichen,
als die anderen ihn gezwungen hatten, sich den Elefanten auszusuchen.
Die anderen blieben hinter ihm stehen und flüsterten. Er schritt aus dem feuchten
Schatten des Dschungels mitten in die Hitze über dem Platz. Heute gab es über-
haupt keinen Wind, die Luft klebte reglos am Boden, und die Sonne brannte auf
seine schwitzende Haut. Der Elefant drehte sich zu ihm und sah ihn an, die beiden
mächtigen Stoßzähne zeigten genau auf den Jungen. Die dunklen Augen des
Tieres standen so schräg zur Seite ab, dass er kaum den Eindruck hatte, er würde
in ein Gesicht blicken. Der Elefant machte einen Schritt auf ihn zu und starrte
weiter.
„Hallo“ sagte Paiuk, und sein Herz fiel nach unten, als er hörte, wie leise seine ei-
gene Stimme war; er war so aufgeregt, dass er nur noch hauchen konnte. Die an-
deren lachten über seinen Versuch, mit dem Tier zu reden, und sie gaben sich Mühe,
so laut zu lachen, dass er es hören konnte. Seine Stimme erinnerte ihn daran, wie
klein er war, seine Füße blieben vor Angst kaum auf dem Boden, aber konnte nicht
wegrennen, seine aufgeregten Knie würden beim ersten Schritt umknicken. Der
Elefant vor ihm stand wie ein Gebäude auf festen Pfeilern, blickte auf den Knaben
und rührte sich nicht.
Plötzlich schoss ein Schmerz durch seinen Rücken, er drehte sich um und sah, dass
die anderen Steine auf ihn schmissen; ein kleiner Stein traf ihn wuchtig am Hals
und er fiel mit dem Gesicht in den Staub, sein Adamsapfel schmerzte und er röchelte.
Die anderen jubelten, als ein faustgroßer Kiesel vor seinen Augen in den Lehmboden
schlug. Verzweifelt raffte er sich auf und begann zu rennen, der vierte Stein traf
ihn genau in der Kniekehle, er knickte ein, stützte sich mit den Händen ab und lief
weiter, genau auf den Elefanten zu, der ihn weiter anstarrte und nun den Mund öff-
nete – und offen ließ.
Er bekam Angst, denn er hatte noch nie gesehen, dass ein Elefant so etwas macht,
er hatte überhaupt noch nie so nah an so einem Tier gestanden. Vor ihm stand eine
graue Mauer aus dicker Elefantenhaut, die sich bedrohlich mit jedem Atemzug
hob und senkte. Jetzt war er nur noch fünf Meter vom Tier entfernt, aber er ging
weiter, noch vier Meter, drei Meter, zwei Meter, noch ein Meter. Paiuk konnte ihn
fast berühren, als die riesige graue Wand sich plötzlich bewegte: Der Elefant machte
einen halben Schritt nach vorne, und sein riesiger Mund war immer noch bedrohlich
offen. Nach dem Schritt ließ das Tier ein Vorderbein in der Luft, genau vor Paiuks
Augen, aber es bewegte sich nicht. Er sah nach oben; das Tier war so stark wie
fünfhundert erwachsene Männer und groß wie ein Berg, das, was die anderen von
ihm verlangten, war absolut unmöglich. Er reckte zaghaft seine Hand Richtung Kopf,
aber bevor er sich ganz gestreckt hatte, lachten die anderen im Gebüsch über seinen
Versuch– er war viel zu klein, er hätte doppelt so groß sein müssen, um den Kopf zu
berühren. Der Elefant bewegte sich plötzlich, setzte den Fuß auf und schlug mit seinen
Stoßzähnen nach ihm, Paiuk zuckte zurück, fast hätte ihn das Tier in zwei Stücke
gerissen. Die anderen johlten noch immer, und Tränen quollen in seine Augen, er
hatte sich noch nie so allein gefühlt: Das Tier konnte ihn jederzeit töten und seine
einzigen Freunde lachten ihn aus.
Plötzlich hörte er Stimmen von Erwachsenen, es waren mehrere, und sie klangen laut
und verärgert. Er sah alles nur noch verschwommen und hatte ein bitteres Gefühl in
seinem Mund. Er ging um das Tier herum, um nicht gesehen zu werden; für das, was
er tat, konnte man ihn ins Gefängnis stecken. Der Elefant machte einen Schritt nach
hinten, Paiuk wich aus und Haare von der Schwanzspitze streiften seine Stirn. Auf der
anderen Seite des Tieres stand eine kleine Trittleiter. Er sprang ohne nachzudenken
hinauf, doch immer noch war der Rücken des Tieres viel zu hoch für ihn. Das Tier zuckte,
schnaufte und machte einen Schritt zur Seite und hätte ihn mitsamt der Leiter fast umge-
worfen – der Elefant war so nah, dass er mit seiner Brust den faltigen Bauch berührte
und er mit seinen Zehen an den Rand der Plattform auf der Leiter zurückgehen musste,
um nicht zu fallen. Die Stimmen wurden lauter. Das Tier zuckte wieder und warf ihn
fast hinunter und er versuchte verzweifelt, sich an den Falten in der Haut festzuhalten,
und plötzlich zuckte der Bauch wieder. Er hörte die anderen johlen und wusste, warum
das Tier zuckte: Sie warfen wieder Steine.
In diesem Moment sah er, dass der Rücken des Tieres voll mit Narben war, die es offen-
bar von seinem Führer bekommen hatte, schwarz verkrustete Furchen zogen sich über
den Rücken. Das Tier zuckte wieder und machte einen Schritt in seine Richtung, er verlor
das Gleichgewicht und kippte nach hinten; mit aller Kraft stieß er sich von der Leiter ab
und krallte sich an den Narben im Rücken des Tieres fest. Das Tier schrie, seine rechte
Hand bohrte sich in das Fleisch, offenbar hatte er in eine frische Narbe gegriffen, mit aller
Kraft zog er sich nach oben und riss die Wunde weiter auf, das Tier schrie lauter und drehte
sich. Mit der linken Hand packte er die borstigen Haare auf dem Rückgrat des Elefanten,
und das Tier bäumte sich auf und brüllte. Nie hatte Paiuk so ein schreckliches Brüllen
gehört, er fand den Gedanken grauenvoll, dass seine Hand in dem Fleisch des Tieres
steckte und dass das Tier wegen ihm so schrie. Seine Hände rutschten ab, gleich würde
er fallen und unter den riesigen Füßen zu Brei getrampelt werden, als sich der Koloss
wieder aufbäumte; das Tier schleuderte ihn durch die Luft und er klammerte sich mit sei-
ner Rechten so fest in das Fleisch, dass die Hand schmerzte.
Als der Elefant wieder auf seine Vorderfüße fiel, prallte Paiuk mit seinem Magen so
heftig auf den Rücken des Tieres, dass er nicht mehr atmen konnte. Er zog sich eine
gute Armlänge nach vorne und erreichte den Hals. Ihm war übel und seine Kraft war weg,
er konnte sich nicht mehr halten, aber wenn er jetzt loslassen würde, wäre er tot. In den
Ohren toste sein eigener Puls, trotzdem hörte er, dass die Stimmen der Erwachsenen
näher gekommen waren.
„Scheißkerl!“, schrie jemand,
„man wird Dich hängen!“
Der Mann stand beim Kopf des Tieres, das jetzt noch lauter brüllte und sich wieder auf-
bäumte. Als der Rücken senkrecht war, blieb Paiuk mit seinem rechten Fuß in einer
Wunde hängen, sonst wäre er gefallen. Das Tier setzte wieder auf, und wieder presste
der Ruck die Luft aus seinen Lungen, so dass ihm schwarz wurde. Der Führer schrie
etwas zu seinem Tier, Paiuk sah durch seine verklebten Augen das wütende, rote Män-
nergesicht, und dahinter erkannte Paiuk seinen eigenen Vater, mitten auf dem Platz.
Der Führer fasste das Tier am Rüssel, aber der Elefant schlug mit seinen Stoßzähnen
um sich und warf den Mann zu Boden, Paiuk verlor den Halt und rutschte vom Hals.
Sein Tuch hatte sich gelöst und ein Ende baumelte hinter das rechte Ohr des Elefanten,
das Tier machte einen Schritt rückwärts und wedelte mit dem riesigen Ohr, um das Tuch
abzuschütteln. Als der flache Fleischlappen gegen Paiuks nackte Schulter klatschte,
ließ er den Hals los und ergriff mit beiden Händen das dicke Leder, krallte sich daran
fest und rutschte nach unten, er hing jetzt nur noch an dem riesigen Ohr. Er biss seine
kleinen Zähne mit aller Kraft in das daumendicke Fleisch, der Elefant raste vor Schmerz
und richtete sich in die Höhe, Paiuk stürzte mit dem Kopf zuerst nach unten, ein wahn-
sinniger Ruck ging durch seine Zähne, sein Nacken knackte und sein Kopf riss beinahe
ab. Dann schlug er auf den Boden, Schmerzen rammten sich in seine Schulter, nur
unscharf sah er über sich den Elefanten, daneben den Tierführer, der krumm auf dem
Boden lag, und seinen Vater, der über den Platz zum Führer rannte. In seinem Mund
schmeckte er warmes Blut und kalte Borsten. Das Tier über ihm donnerte wieder auf
den Boden, einer der riesigen Vorderfüße zerschmetterte fast seine Hüfte, er flüchtete
auf Händen und Füßen. Sein Tuch rutschte von seinen Hüften ab, denn ein Ende
klemmte unter dem Elefantenfuß, und er rannte wankend weg, das eklige, bittere Leder
behielt er immer noch im Mund.
Er war zu Tode erschöpft. Er rannte splitternackt über den Platz, der Führer des Ele-
fanten humpelte ihm nach, sein Vater schrie etwas; er hatte Wunden und Kratzer am
ganzen Körper, Staub klebte an seiner verschwitzten Haut und er konnte nur schwan-
kend auf die anderen zulaufen.
Als er sie erreichte, spuckte er das Stück Tierhaut in seine Hand. Er hatte den Biss des
Tigers geschafft, er hatte ein Stück aus dem Ohr eines Elefanten herausgebissen – jetzt
war er einer von ihnen.