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Der betrogene Ehemann und der Galgenvogel
Ein Western über eine Hinrichtung, ein Ehedrama und die unergründlichen Wege des Schicksals, die beide verbinden.
Wir schreiben den 26. Mai 1878, als sich in dem kleinen Ort Silverado Creek in Arkansas folgende Ereignisse zu trugen. Alles begann, als sich einige Sonnenstrahlen durch das dichte Meer dunkler Regenwolken bohrten. Auf ihrem Weg gen Erde trafen sie auf ein kleines, milchiges Fenster, durch welches sie einen engen, muffigen Raum für einige Sekundenbruchteile erhellten. In der Mitte dieser Stube thronte ein einfaches Holzkreuz auf einem kleinen Tisch. Kniend davor betete Louis van Meyden, der evangelische Pastor des Ortes. Es war rund eine halbe Stunde vor zwei Uhr nachmittags, als er mit dem Vaterunser endete, um nun sein eigentliches Anliegen vorzutragen:
„Gott, gib mir die Kraft, dieser verlorenen Seele auf ihrem letzten Wege beizustehen. Und gib mir die Kraft, seine Seele vor der ewigen Verdammnis zu retten, wenn dies noch möglich ist. Amen.“
Louis erhob sich und verließ die Hauskapelle. Auf dem Flur, der sich direkt an diese anschloss, wartete schon seit geraumer Zeit sein ältester Sohn Rembrandt auf ihn. Nach langem Zögern, Zaudern und Zureden seiner beiden Brüder hatte er sich schließlich entschlossen, seinem Vater die Bitte vorzutragen, die ihnen dreien auf der Seele brannte. Rembrandt hatte Angst, dass sein Vater ihn für diese Frage bestrafen würde. Doch er nahm all seinen Mut zusammen. Die Aussicht, vor seinen zwei Geschwistern als mutiger, großer Bruder dazustehen, besorgte den Rest.
„Vater“, begann er höflich, aber auch etwas unsicher, „Dürften meine Brüder und ich dich begleiten?“
„Nein!“, antwortete Louis scharf.
„Aber Vater, alle anderen Kinder dürfen auch zusehen“, bohrte Rembrandt nochmals nach.
„Ich sagte doch nein und dabei bleibt es auch. Ich werde es nicht dulden, dass sich meine Söhne an dem Tod eines anderen Menschen ergötzen, und sei er auch ein noch so schlimmer Verbrecher. Und damit basta!“
„Jawohl, Vater“, erwiderte Rembrandt kleinlaut. Er war froh, zumindest ohne Ohrfeige davongekommen zu sein.
Leicht verärgert ob der Bitte seines Sohnes ging Louis weiter den engen Flur entlang. Nein, es war einfach unwürdig. Niemand sollte sich so am Tode eines Menschen ergötzen, wie es die Bewohner von Silverado Creek in rund einer halben Stunde tun würden. Die öffentlichen Hinrichtungen hatten schon lange nichts mehr mit Abschreckung zu tun. Sie waren vielmehr zu Jahrmarktsveranstaltungen verkommen.
Mit grimmigem Gesicht öffnete er die Haustür. Sofort brach das infernalische Unwetter über ihn herein, das nun schon seit den Morgenstunden wütete. Es goss, als wolle der Himmel ganz Arkansas hinwegschwemmen. Da die dunklen, riesigen Regenwolken einen undurchdringlichen Schleier bildeten, war es bereits so düster wie am frühen Abend. Der unbefestigte Hof hatte sich in eine Schlammgrube verwandelt. Bei jedem Schritt sank Louis knöcheltief in den matschigen Untergrund ein. Vorsichtshalber schob er seine Bibel in den Ärmel seines Talars, damit sie nicht völlig durchgeweicht wurde.
Dann rannte er in einen klapprigen Holzverschlag, der als Stall für die zwei Pferde und sechs Ziegen der Familie diente. Da das Pfarrhaus einige hundert Meter außerhalb von Silverado Creek lag, hatte er beschlossen mit dem Pferd zur Hinrichtung zu reiten. Schnell schloss er die Tür hinter sich. Louis war froh, dem sintflutartigen Regen wenigstens für einige Minuten entkommen zu sein. Aber das, was nun an seine Ohren drang, ließ ihn kreidebleich werden.
„Jaaa, jaaa, so ist’s richtig, immer schön feste, ohhh Gott, fester Dan, fester“, stöhnte seine Frau Ellis, während sie sich nackt mit dem irischen Knecht Dan O’Brien im Stroh wälzte. Die beiden trieben es. Sie trieben es so wild, dass sogar ein strammer Zuchthengst neidisch geworden wäre.
Wobei es nicht so war, dass Ellis ihren Mann nicht liebte oder von ihm nicht genügend bearbeitet wurde. Sie war einfach nymphoman. Es gab Tage, da konnte sie ihren gesteigerten Trieb bändigen. Doch heute schien das nicht der Fall zu sein. Denn als Ellis heute Nachmittag den Verschlag betrat, war Dan gerade dabei seine durchnässte Kleidung zu wechseln. Dabei sah sie, wie kräftig ihr Knecht war gebaut, und konnte dem Verlangen einfach nicht widerstehen.
In Louis stieg eine unermessliche Wut auf. Er wusste um die Nymphomanie seiner Frau. Sie machte ihn fast wahnsinnig. Louis hatte schon alles Mögliche versucht. Zunächst hatte er darüber hinweggesehen und gebetet, dann hatte er sie geschlagen, dann hatte er mit ihr geredet, dann hatte er eine Austreibung versucht, aber nichts half. Diese Situation stürzte ihn in eine tiefe Gewissenskrise, die ihn förmlich zerriss. Einerseits konnte und wollte Louis den ständigen Ehebruch seiner Frau nicht mehr hinnehmen. Andererseits war er aber nicht bereit die Konsequenzen daraus zu ziehen und sich scheiden zu lassen. Obwohl dies einem Protestanten gestattet war, stellte die Ehe für Louis dennoch eine Festung da, die man nicht einreißen durfte. Es kam hinzu, dass Ellis keine schlechte Frau war. Sie kümmerte sich rührend um die Kinder, kochte gut, war sehr tüchtig und fleißig.
„Gott, was habe ich dir getan, dass du mich so strafst?“, rief er in seiner tiefen Verzweiflung.
Die Raserei packte ihn. All die aufgestaute und unterdrückte Wut der letzten Jahre entlud sich plötzlich in einer gewaltigen Eruption. Louis packte den splitternackten Dan. Er riss ihn von seiner Frau herunter und versetzte ihm einen Tritt zwischen die Beine, wobei er genau das steife Glied des Iren traf. Dan schrie laut auf. Er fasste sich instinktiv an die schmerzende Stelle. Aber Louis schlug wieder zu. Diesmal mit der Faust ins Gesicht des Iren, der wie ein Ball durch den Verschlag flog. Seine beiden oberen Schneidezähne brachen und er blutete stark aus der Nase.
„Verschwinde hier, du verfluchteter Kartoffelfresser“, brüllte Louis mit hochrotem Kopf, während seine Schläfen und Halsschlagadern beängstigend stark hervorquollen, „Verschwinde hier, bevor ich dich totschlage, du verdammter Kartoffelfresser. Ich nehme mich deiner an, versorge dich, gebe dir etwas zu essen, und wie dankst du es mir? Du fickst meine Frau! Hau bloß ab!“
Eine fast übermächtige Angst überwältigte ihn, als er den Geistlichen so ausrasten sah. Er erhob sich, so schnell er konnte, und rannte wie ein Blitz splitternackt aus dem Verschlag. Seine Sachen ließ er liegen. Dan war sich sicher, dass der Pastor ihn jede Sekunde erschlagen würde, sollte er nicht sofort verschwinden. So rannte der nackte Ire vom Hof, während um ihn herum der Regen immer heftiger wurde. Als er den Hof verlassen hatte, bog Dan nach rechts ab, sodass er in die offene Prärie rannte, da Silverado Creek links vom Haus des Pastors lag. Kein Mensch aus Silverado Creek sollte den rothaarigen Iren je wieder sehen.
Unterdessen wandte sich der rasende Pastor seiner Frau zu. Sein Blick war wirr und tierisch, so unermesslich war seine Wut.
„Und jetzt zu dir, Hure“, brüllte er Ellis an.
Ellis zitterte am ganzen Leib, als Louis sich ihr näherte.
Unterdessen stand Henry James Peeburg, von vier bewaffneten Deputies umgeben, vor seiner Zelle im Sheriffbüro, während der Sheriff, David Houston, ihm die Hände auf dem Rücken fachmännisch mit einem Seil fixierte. Der muskulöse, breitschultrige, für damalige Verhältnisse hünenhafte Gefangene mit dem länglichen Gesicht, das eine spitze Hakennase zierte, ragte rund anderthalb Köpfe über die vier Deputies hinaus.
Es war nicht so, dass sich Henry Peeburg ob seines bevorstehenden Todes fürchtete. Auch die Hölle bereitete ihm keine Sorgen, denn er besaß das beste Mittel, das es auf der Welt gegen die Angst vorm Fegefeuer gab. Er glaubte nicht daran, er war Atheist. Er sah sein Ende mit einer gewissen Nüchternheit. Als Henry das Leben eines Outlaws, eines Gesetzlosen begonnen hatte, wusste er, worauf er sich einließ. Es war beileibe nicht so, dass ihn das Schicksal zu diesem Weg zwang. Henry hatte eine viel versprechende Stellung in einer Bank in Tupeco inne, doch es war ihm zu langweilig, er sehnte sich nach Abenteuern, nach Ruhm, nach Pulverdampf und diesen ganzen Dingen, die viele naiver Jungen Anfang zwanzig suchen. Doch schon bald merkte er, dass das Leben eines Outlaws nichts Ehrenhaftes an sich hatte. Die meisten, die er erschoss, standen mit dem Rücken zu ihm. Jedoch gefiel ihm diese Art zu leben sogar noch besser als das, was er sich vorgestellt hatte. Henry konnte die Abgründe seiner Seele ohne Rücksicht auskosten. Doch dass dies ihn letztlich auf die eine oder andere Weise das Leben kosten würde, war ihm klar. Nun sollte es also durch den Galgen sein.
Aber es gab gewisse Komplikationen:
„Wo in aller Herrgotts Namen bleibt bloß der Pastor?“, fragte der Bürgermeister des Ortes, Bertold Kaufmann, nervös, der ein fetter, hässlicher Kerl war.
„Weiß nich“, erwiderte der Sheriff kopfschüttelnd, „Vielleicht hat er ja seine Frau mit dem irischen Knecht erwischt“, fügte er im Scherz hinzu.
„Unterlassen Sie diese taktlosen Bemerkungen, Houston“, fauchte ihn der Bürgermeister an, „Wenn wir diesen Halunken nicht bald hängen, werden sich die ganzen Schaulustigen noch eine Lungenentzündung holen und verärgert nach Hause gehen.“
„Wie auch immer, ich werde ihn nicht aufknüpfen, ehe er nicht noch einmal die Gelegenheit hatte mit einem Geistlichen zu beten“, behaarte der sturköpfige Sheriff, „Wir sind ja schließlich keine Wilden.“
„Was soll denn das?“, erwiderte der Bürgermeister verärgert, „Der kommt doch eh in die Hölle, ob er nun noch einmal beten kann oder nicht.“
„Solange ich hier Sheriff bin, wird niemand aufgehängt, bevor er nicht noch einmal mit einem Geistlichen für seine Seele beten und um Vergebung für seine Sünden bitten konnte“, sagte der Sheriff, der den fetten Bürgermeister nicht ausstehen konnte, was auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Verdammt nochmal! Houston, diese Hinrichtung ist das größte Ereignis in diesem Ort seit sieben Monaten. Die Leuten freuen sich schon darauf, seitdem das Urteil feststeht. Was glauben Sie, werden die tun, wenn sie nicht kriegen, weshalb sie alle nun schon eine halbe Stunde da draußen im schlimmsten Regen stehen, seit ich denken kann?“
„Hören Sie mir doch mit diesen Vorwänden auf“, ereiferte sich der Sheriff, „Sie wollen die Hinrichtung doch bloß für Ihre Wiederwahl als Bürgermeister nutzen, um etwas anderes geht es Ihnen doch gar nicht.“
„Ja, ich gebe es zu. Sie haben Recht. Aber denken Sie daran, Houston, die Sheriff-Wahlen sind auch nicht mehr all zu lange hin.“
„Hhhhrrr“, knurrte der Sheriff, da er wusste, dass der Bürgermeister ihn hatte.
„Endlich sehen Sie es ein“, antwortete der Bürgermeister triumphierend, „Dann knüpfen wir ihn jetzt auf.“
„So schnell geht das nun auch wieder nicht“, erwiderte der Sheriff und wendete sich an einen seiner Deputies, der für alle sichtbar ein Bowie-Messer in seinem linken Stiefel „versteckt“ hatte, „Johnny, geh rüber in den Saloon! Ich glaube, dort ist irgend so ein Wanderprediger abgestiegen, und hol ihn her!“
„Jawohl, Sheriff“, erwiderte Johnny und rannte los.
„Und du grins’ nicht so blöde“, herrschte der Sheriff den Gefangenen an.
„Nun bleiben Sie mal ganz ruhig, Sheriff“, erwiderte Peeburg mit einem breiten Grinsen, „Gönnen Sie mir doch den kleinen Spaß an dieser Posse. In wenigen Minuten werde ich doch eh nichts mehr zu lachen haben.“
„Ach, leck mich doch“, winkte der Sheriff ab.
Nach einigen Minuten kam Johnny völlig durchnässt wieder und schleppte einen kleinen, glatzköpfigen Mann mit sich, der eine rote Trinkernase hatte und eine völlig verdreckte Kutte trug.
„Oh Gott, stinkt der Kerl“, meinte der Bürgermeister, während er sich die Nase zuhielt, „Ich weiß bloß nicht, was schlimmer stinkt, seine Fahne oder er selber.“
„Sie sollen den Namen des Herren nicht unnütz gebrauchen“, lallte der Prediger, „Und was nehmen Sie sich eigentlich heraus, einem armen Mann Gottes einfach so von seiner Mission abzuhalten. Ich war gerade dabei, einige der Huren zu bekehren.“
„Bekehren, das ich nicht lache“, meinte Johnny, „Ich musste ihn aus Lilly rausziehen und um sich geschlagen hat der Kerl dabei, Sheriff.“
„Gar nicht wahr“, entgegnete der Prediger.
„Ist ja gut, wir glauben Ihnen ja, Vater“, erwiderte der Sheriff genervt, „Aber könnten Sie nun bitte mit diesem Gefangenen beten, wir wollen ihn gleich aufhängen.“
„Ich bin ein Wiedertäufer, Sie müssen mich nicht Vater nennen“, bemerkte der Prediger verärgert ob der Unkorrektheit.
„Ist ja gut, Vater“, meinte der Sheriff, „Aber beten Sie jetzt mit dem Mann, damit wir ihn endlich aufknüpfen können.“
„Sheriff, können Sie mich nicht einfach so aufhängen“, wandte Peeburg ein, „Der Kerl stinkt so erbärmlich.“
„Nein, du wirst erst mit ihm beten, Peeburg!“, beharrte der Sheriff.
„Aber nur ein Vaterunser, bitte. Ich meine dieser Gestank ist wirklich unmenschlich“, bat der Gefangene.
„Von mir aus, dann beten sie mit ihm ein Vaterunser, Vater“, befahl der Sheriff.
Daraufhin trat der Prediger dicht an Peeburg heran, der seinen Kopf abwendete, und sprach ein Vaterunser, wobei der kleine Mann so richtig in Fahrt kam und noch gleich das Glaubensbekenntnis hinterher sprechen wollte. Doch da zog ihn der Sheriff in einem Akt der Gnade von Peeburg weg, worauf der Prediger wild fluchte.
Anschließend nahmen die vier Deputies um Peeburg herum Aufstellung, während der Sheriff sich an den Beginn dieser „Prozession“ setzte. Der Bürgermeister und der Prediger folgten ihnen. Der Sheriff steckte noch ein Stück Papier in seine Jackentasche. Dann traten die acht Mann nach draußen.
Sofort brach das infernalische Unwetter auch über sie herein. Die unbefestigte Sandstraße hatte sich ebenfalls in eine Schlammgrube verwandelt, in die man beim Gehen und Stehen knöcheltief einsank. In der Ferne donnerte es. Es schien, als habe der Himmel anlässlich der bevorstehenden Hinrichtung sein Trauergewand angelegt. Nachdem sich die acht einige Meter durch die sich auflösende Straße gekämpft hatten, erschien vor ihnen eine graue Menschenmasse. Es waren die Einwohner von Silverado Creek. Fast alle waren erschienen, insgesamt rund 500 Personen. Denn eine Hinrichtung war ein gesellschaftliches Ereignis im sonst so verschlafenen und von der Welt vergessenen Nest. Als der Delinquent mit seiner Eskorte erschien, öffnete sich in der grauen Masse ein Spalier, durch welches man bereits den neu gebauten Galgen sehen konnte.
Henry Peeburg und seine Eskorte hatten mittlerweile den Galgen erreicht und sich auf die Plattform begeben. Nur der Bürgermeister und der Prediger nahmen neben dem Galgen Aufstellung. Nachdem der Verurteilte vor die Falltür geschoben wurde, machte sich der Sheriff daran, nochmals das Urteil zu verlesen, das er aus seiner Jackentasche wühlte:
„Das ehrenwerte Gericht der Stadt Silverado Creek hat Henry James Peeburg, geboren am 9. September 1857 in Tupeco, des Mordes, der Brandstiftung mit Todesfolge, des Pferdediebstahls, der Falschspielerei, der Polygamie und diverser anderer Vergehen für schuldig befunden. Das Urteil lautet auf Tod durch Strang und ist unverzüglich zu vollstrecken.
Silverado Creek, den 24. Mai 1846
Gezeichnet der ehrenwerte Richter Richard Millbrook.“
Nun trat einer der Deputies vor und stülpte Henry Peeburg eine schwarze Kapuze über den Kopf. Anschließend wurde ihm die Schlinge um den Hals gelegt und ein wenig fester zusammengezogen. Anschließend packte ihn einer der Deputies am Arm und zog ihn einen Schritt zurück, sodass er nun genau auf der Falltür stand. Der Sheriff trat an den Hebel, mit dem die Falltür geöffnet wurde.
Ellis war eine kleine, dünne Frau mit brünettem Haar und deutlich zu schnell gealtertem Gesicht. Die Knie der nackten Frau zitterten, als sich der rasende Louis langsam auf sie zu bewegte. Vermutlich habe ich die Schläge sogar verdient, dachte sie. Sie wusste, wie sehr sie Louis damit verletzte, dass sie für jeden die Beine breit machte, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie hasste sich sogar selber dafür ein bisschen.
Deshalb versuchte sie sich auch nicht zu wehren, als Louis sie an den langen Haaren packte und hochriss. Dann verpasste er ihr mit äußerster Wucht je zwei Ohrfeigen auf jede Wange, die so heftig waren, dass auf jeder von Ellis’ Wangen ein dunkelroter Abdruck seiner Hand zu sehen war.
„Du verfluchte Hure!“, brüllte er sie an.
Sie wendete nur den Blick von ihm ab und sagte nichts, doch das machte ihn nur noch rasender und er versetzte ihr einen heftigen Schlag mit der linken Faust in die Magengrube, sodass Ellis wieder ins Stroh fiel und sich vor Schmerzen krümmte, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben.
Louis packte sie wieder an ihren Haaren und riss sie hoch. Anschließend trat er einige Schritte zurück.
„Ich hoffe, dass war dir eine Lehre, Hure!“, brüllte er, während ihm Speichel aus dem Mund lief, „Und jetzt schwöre, dass du nie wieder mit einem anderen Beischlaf hältst als mit mir!“
„Ich würde ja gerne“, stammelte sie mit vor Scham auf den Boden gerichtetem Blick, „Aber ich kann nicht Louis, ich kann mich einfach nicht beherrschen. Es tut mir so Leid, aber ich kann nicht.“
„Jetzt ist es endgültig genug, Hure!“, brüllte Louis völlig außer sich ob der Worte seiner Frau.
Er hielt es einfach nicht mehr länger aus. Mit jedem dahergelaufenen Kerl trieb es diese Schlampe. Doch davon würde er sich nicht kaputt machen lassen. Er würde dem ein für alle Male ein Ende setzen. Genau, das würde das Beste sein.
Louis ging daraufhin zu einem alten Schrank, der in einer unbeleuchteten Ecke der Scheune stand. Die Türen des Schranks waren abgeschlossen, doch den Geistlichen störte das in seiner Raserei nicht. Er riss die Flügeltüren einfach aus den Angeln und holte sein einläufiges Gewehr hervor, dass er hier eingeschlossen hatte, damit die Kinder es nicht einmal aus Versehen finden und damit spielen.
Die Waffe war schon sehr alt und hatte schon Rost angesetzt. Der Kolben war bereits von Holzwürmern befallen. In Windeseile lud er das Gewehr und richtete es auf Ellis.
„Tu das nicht, Louis“, bat ihn Ellis, die eigentlich stets die Fassung wahrte, es sei denn, es ging um Beischlaf, mit einer beängstigenden Ruhe, die ihren Mann nur noch rasender machte, „Denk an die Kinder, Louis. Wenn du mich erschießt, wird man dich hängen und sie kommen in ein Heim. Vielleicht habe ich es ja nicht anders verdient, aber denk bitte an die Kinder.“
Die splitternackte Ellis schritt langsam rückwärts, bis sie schließlich aus dem Verschlag ins Freie kam, wo es noch immer entsetzlich goss. Sie hoffte, dass Louis ihr folgte und so das Gewehr nass wurde, sodass es nicht mehr funktionierte. Vielleicht würde er sich dann auch wieder abregen, zumindest um der Kinder willen.
„Die Kinder, das ich nicht lache, Hure!“, brüllte Louis, während er seiner Frau in das infernalische Wetter folgte, „Vermutlich ist eh keines der Scheißbälger von mir!“
Dann nahm er das Gewehr in den Anschlag und zielte auf seine Frau.
Unterdessen umfasste der Sheriff fest den Hebel, mit dem die Falltür des Galgens geöffnet wurde. Er atmete noch einmal tief durch und dann zog er mit aller Kraft an dem Hebel. Henry spürte, wie plötzlich der Boden unter seinen Füßen verschwand, er in die Tiefe fiel, sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zog und er die Kontrolle über seine Körperausscheidungen verlor. Just in dem Moment, wo sich der Strick um seinen Hals so sehr gestrafft hatte, das er ihm nun das Genick brechen würde, geschah es.
Ein ganzes Dutzend Blitze jagte fast synchron auf den Marktplatz hernieder, wo die Hinrichtung stattfand. Acht Blitze schlugen in die gaffende Menge ein, töteten 16 Schaulustige und versetzten Unzähligen einen elektrischen Schlag. Der Bürgermeister und der Prediger, die etwas abseits der Menge standen, blieben unverletzt. Es brach ein riesiges Durcheinander aus. Die übrigen vier Blitze trafen den Galgen. Dieser brach zusammen und zwar so unglücklich, dass drei der Deputies von den Trümmerteilen erschlagen wurden. Nur der Sheriff und einer seiner Deputies, die von der Galgenplattform in die völlig aufgeweichte Schlammgrube stürzten, die einmal der Marktplatz war, und der Verurteilte selber überlebten. Der Strick um Henrys Hals war gerissen, kurz bevor er ihm das Genick gebrochen hätte.
Henry Peeburg bekam von diesen dramatischen Ereignissen nicht viel mit, was auch verständlich ist, wenn sich die Schlinge um den Hals immer enger zieht und man zudem noch eine schwarze Kapuze über den Kopf gestülpt bekommen hat. Der Verurteilte spürte nur, wie plötzlich der Strick nachgab und er in die Tiefe stürzte, wobei er schmerzhaft zusammengestaucht wurde. Dann hörte er das laute Krachen, als der ganze Galgen zusammenbrach, das Zucken der Blitze war ihm entgangen. Als Henry wieder einigermaßen Luft bekam, gewann zunächst sein Überlebensinstinkt die Oberhand. Er presste seinen Kopf fest in den matschigen Schlamm und versuchte sich die Kapuze abzustreifen, was ihm nach einigem Bemühen auch gelang. Nun sah er, wo er sich befand. Genau vor ihm türmte sich ein Teil der ehemaligen Plattform des Galgens in einem Winkel von 45° gen Himmel. Das Bruchstück hatte sich nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt in den schlammigen Untergrund gebohrt. Zu beiden Seiten lagen ebenfalls kleinere Trümmer, aber nach hinten zum Rand des Marktplatzes hin, befand sich eine schmale Öffnung. Henry wusste zwar nicht, was hier geschehen, aber das kümmerte ihn auch erst einmal nicht.
Nun entdeckte er, dass sich nur rund einen Meter zu seiner Linken der leblose Körper des Deputies Johnny befand. Er hatte nicht so viel Glück wie Henry gehabt, denn sein Kopf wurde von dem großen Bruchstück der Plattform zerschmettert. Der dem Tode gerade noch Entronnene rollte sich, die Hände immer noch fest auf dem Rücken zusammengebunden, zu Johnny herüber. Dann vollführte Henry eine 180°-Drehung, sodass sein Kopf nun genau auf Höhe der Füße des Gesetzeshüters lag. Anschließend robbte er noch etwas vor, bis er mit seinen Händen in den linken Stiefel des Deputies fassen konnte, in welchem dieser sein langes Bowie-Messer versteckte, allerdings so ungeschickt, dass es jeder sofort bemerkte. Mit einiger Mühe fischte er das Messer aus dem Stiefel und begann dann seine Fesseln zu bearbeiten. Henry wusste, dass er sich beeilen musste, denn momentan schien hier noch eine völlige Verwirrung zu herrschen, die er für die Flucht nutzen konnte. Bei diesem Gedanken fiel ihm das Messer in den Schlamm. Henry zwang sich ruhig zu bleiben, atmete tief durch, rollte sich auf den Rücken und fischte das Messer aus dem Schlamm. Dann schnitt er weiter, wobei er sich zwei tiefe Schnitte in den rechten Daumen zufügte. Nach einer schieren Ewigkeit waren die Fesseln endlich durch. Er robbte anschließend durch die schmale Öffnung, die ihn zum hinteren Rand des Marktplatzes führte.
Henry warf einen kurzen Blick nach links und nach rechts. Überall sah er aufgeregte Menschen herumrennen und brüllen. Er nutzte dies, legte ein fassungsloses Gesicht auf und rannte in eine Gasse. Als er diese gerade verlassen wollte, stand er direkt vor mehreren dutzend Pferden. Sofort schmiss er sich auf den schlammigen Boden. Denn in der Regeln wurden auch und vor allem bei Hinrichtungen die Pferde der gaffenden Dorfbewohner von zwei oder drei Aufpassern bewacht, weil sich viele Pferdediebe darauf spezialisiert hatten, genau bei solchen Anlässen zuzuschlagen. Langsam robbte er sich hinter dem ersten Pferd entlang und spähte hinter diesem hervor. Er wusste, dass ein Kampf, bei dem evtl. ein Schuss fallen und das ganze Nest auf ihn aufmerksam machen könnte, das war, was er nun am wenigsten gebrauchen konnte. Doch er entdeckte niemanden. Dann kroch er hinter den Pferden, einige Dezimeter Abstand haltend, damit er nicht getreten wurde, weiter, bis er sich sicher sein konnte, dass niemand hier war. Vermutlich waren die Deputies zum Marktplatz gerannt, als der Galgen eingestürzt war. Daraufhin wählte sich Henry einen kräftigen Fuchs aus und ritt mit diesem aus der Stadt in die offene Prärie hinein, wo ihn bereits nach wenigen Augenblicken eine Verbindung aus Nebel, Dunkelheit ob der Regenwolken, die die Sonne verdeckten, und Regentropfen verschwinden ließ wie hinter einem Bühnenvorhang. Auf seinem Ritt kam er auch an einem einzelnen Haus vorbei, das einige hundert Meter außerhalb von Silverado Creek lag. Plötzlich hallte ein Schuss.
Der rasende Geistliche Louis van Meyden spannte den Hahn und zielte dann mit seinem einläufigen Gewehr auf seine Frau und nahm ihre Brust ins Visier, während Ellis wie angewurzelt stehen blieb. Louis’ Zeigefinger krümmte sich ohne die geringsten Skrupel um den Abzug. Ein lauter Knall war zu vernehmen und Pulverdampf stieg vor der Mündung auf. Der Rückstoß versetzte Louis einen schmerzhaften Schlag auf die Schulter.
Aber Ellis war völlig unversehrt, obwohl Louis genau auf ihr Herz gezielt hatte. Das war aber auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie schlecht das Gewehr des Geistlichen gearbeitet war, was aber für die damalige Zeit durchaus normal war, sodass eigentlich ein gezieltes Schießen über längere Entfernungen, und der Abstand zwischen Louis und seiner Frau betrug über 10 Meter, nicht im Bereich des Möglichen lag.
Aber just in dem Moment, in dem Louis den Schuss abgab, tauchte eine schemenhafte Gestalt auf einem Pferd auf der unbefestigten Straße, die an ihrem Haus vorbeiführte, auf. Sie fiel vom Pferd. Louis ließ sofort seine Waffe fallen und rannte zur Straße.
Der Schuss hatte Henrys Hals zerfetzt. Nachdem er den Knall gehört hatte, bemerkte er ein leichtes Kratzen im Hals, bevor ihm schwarz vor Augen wurde, und er vom Pferd fiel. Das Blut spritzte in alle Richtungen aus seinem Hals, da seine Halsschlagadern durchtrennt waren. Henry gab noch einige leise Röchler von sich und dann starb er.
Der geschockte Louis erreichte den Geflohenen erst, als dieser schon tot war. Dem Geistlichen wurde übel, als er die riesige Blutlache sah, in der Henry lag.
Da aber Louis Henry Peeburg nicht kannte, da er weder bei der Verhandlung gegen ihn anwesend war noch der Gefangene jemals geistlichen Beistand anforderte, dachte der Pastor, er habe einen ehrbaren Mann erschossen, der gerade von der Hinrichtung kam. Dafür würde man ihn auch aufknüpfen.
Aber er war nicht bereit am Galgen zu enden, nur weil seine Schlampe von Frau für jeden die Beine breit machte und er es nicht mehr ertragen konnte. Louis dachte nur an sein eigenes Leben, auch der Gedanke an seine Kinder, die seiner Ansicht nach eh nicht von ihm gezeugt wurden, hinderte ihn nicht, seinen so eben gefassten Entschluss in die Tat umzusetzen.
Louis schnappte sich den Fuchs von Peeburg, der einige Meter neben dem Toten stehen geblieben war, und ritt davon.
Rund eine halbe Stunde nach den Blitzeinschlägen hatte sich die Lage in Silverado Creek wieder beruhigt. Nachdem die Toten weggetragen und die Verletzten vom ansässigen Arzt versorgt worden waren, robbte sich der Sheriff todesmutig unter den eingestürzten Galgen, um unter wilden Flüchen feststellen zu müssen, dass zwar drei seiner Deputies von den herniederstürzenden Galgenteilen erschlagen wurden, Henry James Peeburg aber verschwunden war.
Sofort nahm er mit seinem verbliebenen Deputy, zwei weiteren Dorfbewohnern und dem Bürgermeister die Verfolgung auf, wobei der Bürgermeister einige Meter Abstand zu den anderen vieren wahrte, aus Angst von einer Kugel getroffen zu werden. Doch bereits nach einem kurzen Ritt stießen sie auf die Leiche von Henry Peeburg, die noch immer mitten auf der völlig aufgeweichten Straße lag. Als der Bürgermeister die Blutlache sah, in der Peeburg lag, übergab er sich, auf seinem Pferd sitzend.
Ellis kam aus dem Haus gelaufen, als sie die Männer sah. Sie hatte sich in der Zwischenzeit wieder ein Kleid angezogen, doch die dunkelroten Handabdrücke auf ihren Wangen waren noch deutlich zu sehen.
„Was ist hier passiert, Ma’am?“, fragte der Sheriff.
„Louis hat geschossen und dabei aus Versehen diesen Mann hier getroffen. Dann hat er sein Pferd genommen und ist davon geritten“, erklärte eine seltsam unterkühlte Ellis.
„Hat er versucht, Sie zu erschießen, Ma’am?“, bohrte der Sheriff nach, zu dessen Stärken das Taktgefühl noch nie gehörte.
Ellis antwortete nicht. Aber Houston reichte ein Blick auf ihre Wangen, damit ihm alles klar wurde.
„Wissen Sie, wer der Tote ist, Ma’am?“, fragte der Sheriff weiter.
„Nein.“
„Der Gefangene, den wir heute hängen wollten. Er ist geflohen. Aber Ihr Mann kannte ihn nicht, oder?“
„Nein.“
„Dann wird er wohl glauben, er hat einen Unschuldigen erschossen“, sagte der Sheriff kopfschüttelnd ob der grotesken Situation, „Wie auch immer, den sehen wir nie wieder.“
„Warum?“, fragte Ellis irritiert, die darüber noch gar nicht nachgedacht hatte.
„Nun, Ma’am, Ihr Mann glaubt, er hätte einen Mord begangen. Folglich wird er versuchen, so weit wie möglich von hier wegzukommen. Und bei diesem Sauwetter ist es unmöglich ihn zu verfolgen oder später seine Spuren zu finden. Und bedenken Sie die Größe dieses Landes, Ma’am, wer hier nicht gefunden werden will, den findet man auch nicht so leicht, und für grundlos Davongerannte werden zudem keine Steckbriefe gedruckt, da es für ihr Auffinden kein Geld gibt.“
„Ich möchte ja nicht taktlos sein, Mrs. van Meyden“, unterbrach der Bürgermeister, „Aber in Anbetracht der Situation werden wir uns wohl einen neuen Pastor besorgen müssen. Deshalb muss ich Sie bitten, Ihre persönliche Habe in den nächsten Tagen zusammenzupacken, damit der neue Pastor dann hier unverzüglich einziehen kann. Selbstverständlich können Sie noch so lange hier wohnen bleiben, bis er eintrifft, aber das sollte nicht allzu lange dauern.“
„Ja, Mr. Kaufmann“, erwiderte Ellis blass, als ihr bewusst wurde, wie düster es nun um ihre und die Zukunft ihrer Kinder bestellt war.
Ende