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Der Besucher
Wenn die Tage kürzer wurden und die Nächte kälter, dann kam ein Mann, der einen tödlichen Griff besaß, und wanderte durch die Dörfer. An manchen Häusern hielt er an, ohne dass er sich besann, ob sein Besuch gewünscht war, denn sie war in guten Zeiten rar. Manch andere Häuser wurden mit einem Seitenblick beglückt. Doch sollte dieser Blick für sie kein Sieg bedeuten, sondern die Ankündigung eines baldigen Besuchs. Sobald der Besucher aus dem Hause trat, hinterließ er die Hülle einer Seele, deren Anblick Leiden auslöste und zugleich ihr Elend entblößte. Dabei kannte keiner das Gesicht des Besuchers, sie befühlten nur die Spur auf der Hülle, die so kalt war, dass sie bis ins Mark ging.
Der Besucher zuckte keine Miene. Er wusste, dass man ihn nicht mochte. Aber er wusst auch, dass er manchmal mit einem Lächeln erwartet wurde. Dass er für manche eine Erlösung war. Von dem Bettler, der in Hungersnot seine Ankunft fürchtete bis zu dem Pfarrer, der im Daunenbett ihn begrüßte und glaubte, ein guter Mensch zu sein - das Leben war vielseitig aber viel mehr zweigesichtig als vielseitig. Hätte es ihn nicht gegeben, so hätte der Anfang keinen Sinn gehabt und kein Mensch hätte das Leben zu schätzen gewusst. Der Besucher, der in den Vorstellungen der Menschen viele Gesichter besaß, aber doch die gleichen, kalten Hände, flog mit der Seele des Bauernkindes hoch empor.
Der Tod brachte Gerechtigkeit.
Das sah man, wenn man wie das Bauerkind auf die Welt von oben blickte, in der sogar der König erbärmlich klein aussah, und die Gräber sah, die den gleichen Ausmaß hatten, egal wie "groß" die Person auch war, die begraben wurde.
Noch nie hatte das Bauernkind so viel Freiheit genossen.
Mit einem Lächeln zu dem Besucher spannte diese Seele weit seine Flügel aus und flog über den stillen Dörfern, als flöge sie nach Haus'.
Anmerkung der Moderation:
Der letzte Abschnitt entstammt dem Gedicht "Mondnacht" von Joseph Freiherr von Eichendorff