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Der Besucher

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04.10.2008
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Der Besucher

DER BESUCHER

Heka-Ras rechte Hand zitterte, als sie nur wenige Zentimeter vor der spiegelnden Panzerung des unbekannten Lebewesens zum Stehen kam. Nicht seine innere Stimme sorgte für diesen Moment der Ruhe, sondern der unmittelbare Panikschrei Tula-Vus, die ihren Körper aus Angst vor der Kreatur hinter einem knorrigen Baumstamm verborgen hielt. Heka-Ra missachtete das Flehen seiner Schwester und machte weiter mit der Untersuchung des leblosen Etwas, dessen herrlich schimmernder Körper genau sieben Armlängen von einer aufgeplatzten Kugel entfernt, in einer Schicht aus sanft gestreutem Morgentau, lag.
»Schläft es?« fragte Tula-Vu und lugte mit einem Auge hinter der Rinde hervor. Eine Hand an ihrem Jadgbogen, die andere um einen Pfeil geschlossen, kniete sie sich langsam in das hohe Gras, und wartete. Heka-Ra betrachtete sein eigenes Gesicht in der Hülle, die das Antlitz des Wesens restlos unter sich verbarg. Mit seiner Hand fuhr er an der glatten Fläche entlang und war erstaunt über die schiere Härte des Materials. In dem halb runden Spiegel offenbarte sich Heka-Ras Augen der wolkenlose Himmel des wilden Landes, die sagenumwobene Heimat seiner Urahnen und legendären Gründer des Talo-Stammes; ein Zusammenschluss mehrerer Familien, den Heka-Ra und Tula-Vu ihr zu Hause nannten.
»Ich weiß nicht«, sagte Heka-Ra, nachdem er mit einem Finger leicht gegen die steinharte Hülle geklopft hatte – zum großen Entsetzen von Tula-Vu.
»Bist du verrückt? Es wird dich verschlingen!« kreischte sie mit hoher Stimme.
Die Gestalt rührte sich nach wie vor nicht vom Fleck. Vielleicht braucht es Hilfe, dachte Heka-Ra und sah hinüber zu seiner Schwester. »Komm her! Wir tragen das Wesen zusammen in unser Dorf, um es genauer zu untersuchen.«
Tula-Vus Augen weiteten sich. »Der Älteste wird uns dafür bestrafen. Wir dürfen keine Fremden mitbringen, das weißt du doch.«
Heka-Ra konnte ihre letzten Worte nicht mehr hören, da er damit beschäftigt war die Kreatur an beiden Beinen zu packen und über die feuchte Grasebene in Richtung seines Heimatdorfes zu ziehen. Die Strahlen der Lebensspenderin verliehen der Rüstung des Fremden einen goldenen Glanz.

Der Medizinmann Dec-Na, schockiert von dem Anblick des unbekannten Besuchers, erstarrte mitten auf dem Tierfell, das in der anbrechenden Kältezeit auf dem Boden von Heka-Ras Zelt den nackten Füßen seiner Bewohner ein wenig Wärme spendete. Er und Tula-Vu hockten zu beiden Seiten des Wesens und beobachteten wie der weise Mann des Dorfes langsam den Kopf schüttelte. Seufzend stellte er seinen Beutel mit Heilkräutern ab, in den noch nie ein Stammesmitglied hineinsehen durfte.
»Deswegen hast du mich rufen lassen?« sagte der Medizinmann leise. »Es tut mir leid, aber ich kann das nicht. Fremde zu behandeln ist gegen das Gesetz unserer Gemeinschaft.«
Heka-Ra erhob sich von seinem Platz. »Ihr seid ein Meister der Heilkunst, bitte habt Gnade mit dieser Kreatur, was auch immer sie sein mag.« In seiner Stimme lag ein Zittern. Tula-Vu nahm die Unsicherheit ihres Bruders zur Kenntnis und stand ebenfalls auf.
»Dec-Na hat recht«, sagte sie. »Was ist, wenn dieses Ding uns etwas antut, sobald es erwacht?«
Heka-Ra blickte auf auf die breite Decke, die er und seine Schwester ausgelegt hatten, um ihrem Gast einen bequemen Ruheplatz zu bieten.
»Ich möchte ihm die Maske abnehmen«, sagte Heka-Ra ruhig. Er beugte sich zu dem Ding hinunter und ergriff mit beiden Händen die Ränder der großen Kugel, die den Kopf des Fremden umschloss. Bevor er herausfinden konnte, wie man den Riegel am Hals öffnete, spürte er Tula-Vus Arm auf seiner Schulter.
»Es wird etwas Schreckliches passieren, ich fühle es«, sagte seine Schwester. Der Medizinmann trat neben sie, kniete sich hin und begutachtete die fremde Gestalt aus nächster Nähe.
»Es hat zwei Beine, zwei Arme und ist sehr groß«, bemerkte er. »Es kann unmöglich der Ebene unserer Vorfahren entstammen.« An Tula-Vu gewandt, fragte der Medizinmann:
»Wisst ihr wie es hierher gelangt ist?«
»Es lag im Gras, neben einer riesigen silbernen Kugel.« Tula-Vu bildete mit ihren Händen eine runde Form. »Eine Seite von ihr war kaputt und hatte einen großen Riss. Ach ja, und sie steckte tief in matschiger Erde, so als ob sie jemand mit voller Kraft aus den Wolken geschmissen hätte.« Sie beendete ihren Satz mit einem lauten Zischgeräusch, das den Flug der Kugel vom Himmel auf die Erde nachahmen sollte.
Der Medizinmann rieb sich mit einer Hand das Kinn und nickte. »Jetzt möchte ich es auch wissen«, sagte er mit einem Blick auf Heka-Ra. Tula-Vu reagierte auf diese Ankündigung mit einem Schrei und rannte in eine andere Ecke des Zeltes, wo sie hinter den Vorratssäcken zitternd kauerte. Ihr Bruder berührte noch einmal den Riegel, der die Maske des Wesens mit dem Rest seiner Panzerung verband. Er rüttelte einige Sekunden daran bis ein sanftes Klickgeräusch den halb dunklen Innenraum des Zeltes erfüllte. Es erinnerte ihn an die langen Abende in seiner Kindheit, als er und seine Schwester, zusammen mit ihrem gesamten Stamm, schweigend das Lagerfeuer umringten und gebannt den Sagen des Dorfältesten lauschten. Dieser machte häufig von einem kleinen Musikinstrument Gebrauch, das ein schrilles Klicken von sich gab, sobald die Stammesanhänger aufhörten seinen Worten zu folgen. Jene Erzählungen berichteten von der Entstehung ihres Stammes und dessen Entwicklung, jedoch enthielten sie alle eine Lücke, die Heka-Ra von Kindesbeinen an nicht in Ruhe ließ. Sie erwähnten mit keinem Wort den Anbeginn der Zeit, und als er den Ältesten seines Clans auf dieses große Problem ansprach, so bekam er lediglich eine erhobene Hand zu Gesicht, die ihm gebot zu schweigen. Es gäbe keine Antwort auf diese Frage, behauptete der weise Anführer. Die Welt habe immer existiert und so auch die Mitglieder des Talo-Stammes.
In jener Sekunde, als sich der verspiegelte Kopfpanzer des Fremden langsam löste, überwältigte den jungen Jäger Heka-Ra ein sonderbares Gefühl der Vorfreude, das er sich nicht erklären konnte. Tula-Vu spürte offenbar das totale Gegenteil der Empfindungen ihres Bruders. Sie war auf die Knie gefallen und hielt sich schützend ihre zitternden Hände vor die Augen.
»Was ist das?« fragte Heka-Ra gespannt.
»Keiner von uns«, antwortete der Medizinmann. Er legte einen Finger auf die seltsame weiße Gesichtshaut der Kreatur, welche jeweils zwei Augen und Ohren in sich barg. In der Mitte befand sich ein Riechorgan mit zwei Luftlöchern an der Unterseite, der Mund war schmal und geschlossen.
»Es lebt noch«, stellte er fest und warf Heka-Ra einen aufmunternden Blick zu.

Wenige Stunden nachdem das fremdartige Wesen wieder zu Bewusstsein gelangt war, strömte über die Hälfte der Bewohner in das große Haus im Zentrum des Dorfes, den Versammlungsort der Gemeinschaft und Thronsaal des Ältesten. Die Meute drängte sich um eine kleine Gruppe von drei Personen, die sich in der Mitte des großen Raumes positioniert hatte. Auf einem erhöhten Podest standen die Mitglieder des Hohen Rates, allesamt von den Fellen wilder Raubtiere verhüllt. Mit ausdruckslosen Mienen warteten sie bis sich das Treiben der Stammesanhänger beruhigt hatte, dann erhob der Anführer seine narbenzerfurchte Hand mit dem Instrument darin und ließ das altbekannte Klicken ertönen. Plötzlich war es still.
Heka-Ra zuckte bei dem Geräusch zusammen. Der Älteste bemerkte seine Reaktion als erster und sprach: »Nicht nur, dass du bereits in jungen Jahren ein ungesundes Maß an Neugier an den Tag gelegt hast, mein guter Heka-Ra, jetzt muss ich sogar feststellen, dass du ein weiteres Gesetz unserer Gemeinschaft mit Füßen getreten hast.« Er deutete auf den Fremden, der sich dicht neben den Medizinmann gestellt hatte. »Dieses Wesen dürfte gar nicht hier sein.«
Heka-Ra blickte eine Weile betreten zu Boden. Dann erschien ihm das Bild seiner Schwester vor Augen und er dachte: Du hast die Botschaft verkündet, habe ich recht? Die Dorfwachen hatten Heka-Ra und den Medizinmann verhaftet, nachdem Tula-Vu eine Weile außerhalb des Zelts unterwegs war. Doch er konnte unmöglich Hass auf seine Schwester empfinden. Ihm war bewusst wie viel Angst sie angesichts des Fremden ausstehen musste und empfand Mitleid mit ihr. Rasch drehte er sich um und suchte die Gesichter der umstehenden Dorfbewohner ab, die ihn, zusammen mit dem Medizinmann Dec-Na und der namenlosen Kreatur, neugierig betrachteten. Tula-Vu konnte er nirgends erkennen.
»Das Gesetz unseres Stammes besagt: Fremde bedrohen den Zusammenhalt der Gemeinschaft«, fuhr der Älteste fort, »doch diese Gestalt ist mehr als nur ein unbekannter Wanderer von jenseits des Gebirges. Sie sieht nicht einmal aus wie wir.« Die versammelte Menge bejahte die Worte ihres Anführers mit einem einstimmigen Ausruf, den für gewöhnlich nur ihre Erzfeinde vor dem Beginn einer Schlacht zu hören bekamen. Der aufkeimende Groll gegen den Neuankömmling ließ Heka-Ras Herz schneller pochen. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, wie er ihn das letzte Mal bei der Jagd auf einen Elda-Läufer gespürt hatte. Er wusste, dass der Zorn nicht nur dem Fremden galt.
Der Älteste ging nun an den äußersten Rand des Podests und streckte einen langen Finger in Richtung der Kreatur aus. »Wo liegt dein Ursprung?« krächzte er mit ungewöhnlicher Anspannung in seiner Stimme. Die Ratsmitglieder beugten sich in starrer Erwartungshaltung nach vorne, um den ersten Worten des Wesens zu lauschen. Der Fremde hatte seit seinem Erwachen in Heka-Ras Zelt keinen Satz gesprochen und selbst auf die Fragen der Dorfwachen antwortete er nur mit Schweigen. Heka-Ra erschien dieses Verhalten sehr seltsam. Doch im Vergleich zu den übrigen Eigenarten, die diese Kreatur mit sich brachte, stellten seine Umgangsformen lediglich den geringsten Anteil dar.
Kerzengerade stand dieses Wesen neben dem Medizinmann und Heka-Ra fragte sich ernsthaft, wie eine schnelle Fortbewegung durch unwegsames Gelände möglich war, wenn man dazu gezwungen ist, die ganze Zeit über aufrecht zu gehen. Die Anhänger seines Stammes besaßen zumindest die Fähigkeit ihre Hände als zweites Beinpaar zu verwenden und auf diese Weise weite Strecken im Tempo eines Raubtieres zu überbrücken.
Heka-Ra bemerkte auch, dass die anwesende Gruppe nur eines ihrer Augenpaare auf den Sonderling in ihrer Mitte gerichtet hatte und mit dem oberen den Ältesten fixierte, in der Hoffnung bald seine Entscheidung zu hören. Der Körperbau des Fremden wies seltsamerweise nur zwei Augen auf. Die Frage, wie er während seines Schlafes Wache halten wollte, ergab sich für Heka-Ra nicht mehr, da der Anführer erneut die Stimme erhob.
»Sprichst du überhaupt unsere Sprache?« Alle vier Augen des Ältesten richteten ihren Fokus auf den Besucher, dessen Haut nicht schwarz, sondern einen unbekannten, hellen Ton trug und auf dessen Kopf ein dunkles Fell wuchs, das in mehreren Strähnen herabhing. Als sich sein Mund, zur großen Erleichterung aller Anwesenden, endlich öffnete, stockte Heka-Ra beim Klang jener fremden Stimme der Atem. Der Medizinmann Dec-Na wich erschrocken von der Seite des unheimlichen Gastes und stolperte beinahe in die Reihen der Menge. In den erstarrten Mienen der Mitglieder spiegelte sich blanke Ungläubigkeit.
»Ich spreche alle Sprachen und studiere alle Völker. Meine Aufgabe ist es, euch zu unterweisen. Ich hoffe, ihr nehmt mein Angebot dankend an«, sagte der Fremde. »Ich bin gekommen um zu helfen.«
Heka-Ra konnte kaum fassen, was ihm da gerade zu Ohren kam. Es handelte sich tatsächlich um die Worte seines Stammes, die Sprache der Talos. Während all seiner Reisen durch die Ebenen und Wüsten hatte er keinen anderen Talo getroffen, der jenen komplizierten Dialekt verstand und dieses Wesen gehörte nicht einmal zum Bestandteil seiner Rasse. Heka-Ra stellte fest, dass der Hohe Rat mit der Situation genauso wenig umzugehen wusste wie seine treue Gefolgschaft aus Jägern, Sammlern und Greisen. Im Volk machte sich ein heilloses Raunen breit, das selbst nach einigen Minuten nicht abbrechen wollte und sogar das Klicken des Instruments reichte nicht mehr aus um dem Ältesten im verängstigten Tumult seiner Anhänger Gehör zu verschaffen.
Die allgemeine Aufregung schien den Fremden nicht aus seiner Ruhe zu bringen. Er drehte sich kurz zur Seite und zeigte mit einem Finger der linken Hand auf ein Stammesmitglied in der Masse der Zuschauer. »Komm zu mir«, sagte er. Heka-Ra konnte nicht sehen, wen er meinte, doch zwei Augenblicke später trottete ein junger Talo, ungefähr in seinem Alter, in die Mitte des Raumes, wo der Fremde stand. Der Talo zog ein kaputtes Bein hinter sich her, ein Unfall, der ihm wohl auf der Jagd widerfahren war. Er schleppte sich mit größter Mühe an Heka-Ra vorbei, der sich schon daran machte, seinen Stammesbruder zu stützen, als die gepanzerte Hand des Fremden seine Schulter packte. Heka-Ra wandte seinen Kopf um und blickte in tiefe grüne Augen; sie wirkten wie leuchtende Edelsteine im Meer der farblosen Sehorgane, die in den Schädeln der Talos wuchsen. Das Wesen schob ihn sanft zur Seite, um Platz für den gebrechlichen Stammesanhänger zu schaffen. Als dieser bis auf zwei Schritte an den Fremden herangetreten war, herrschte wieder absolute Stille im Haus des Ältesten. Hoher Rat und Volk konzentrierten all ihre Sinne auf die Szene im Zentrum.
Der unbekannte Besucher hob seine rechte Handfläche und legte sie an den Schädel des jungen Talos. Seine Finger begannen in einem für Heka-Ra sonderbaren Rhythmus auf dem haarlosen Haupt seines Gefährten zu trommeln. In diesem Augenblick wurde Heka-Ra das bedrückende Gefühl nicht los, er könne die Gedanken des Fremden empfangen, als befände er sich in einem seiner Träume. Dem verletzten Talo schien es nicht anders zu ergehen. All seine Augen zur Decke gerichtet, versteinerte er in einer hingebungsvollen Erwartungspose. Der Fremde drückte die Hand nun fest gegen seine Stirn und murmelte Unverständliches vor sich hin. Die Punkte an denen seine Finger Kontakt mit der Haut des Talos herstellten, erhellten sich in einem sekundenlangen Blitz; vielleicht zu schnell für Heka-Ras Augen und die der Dorfversammlung. Als es vorbei war, hielt er das Ereignis für Einbildung, doch die Reaktion des jungen Talos bewies etwas anderes. Indem er sein zuvor noch schwer verletztes Bein vorsichtig schüttelte, ließ er das aufgeregte Raunen in die Stammesgemeinschaft zurückkehren. Der Talo entfernte sich mit frischem Elan und ohne ein Anzeichen jemals gelitten zu haben aus der Mitte des Raumes. Der Fremde verzog keine Miene, als er seinen Blick über die restlichen Talos schweifen ließ und seinen linken Arm in die Höhe streckte.
»Seid gegrüßt, Volk der Talos. Ich bin gekommen um zu helfen«, sagte er mit lauter Stimme.

Der östliche Rand des Dorfes mündete in einem kleinen Hügel, der eifrigen Jägern die Möglichkeit bot sehr weit in das Landesinnere zu blicken, um die Pfade der großen Herden auszuspähen. Wanderern mit sehr guten Augen war es sogar vorbehalten die ersten, staubigen Dünen der Steinwüste auszumachen, wo Himmel und Erde eine Einheit bildeten. Die Talos kannten jeden Winkel ihrer Heimat und verspürten nicht mehr den Drang beim Anblick all dieser Wunder in Staunen auszubrechen. Die Gestalt auf der Anhöhe hatte guten Grund die prachtvolle Landschaft zu bewundern, und doch galt ihre ganze Konzentration der Dorfgemeinschaft, die sich kreisförmig um den Hügel gruppiert hatte.
Heka-Ra war schnell zu diesem Ort gerannt, nachdem der Fremde angekündigt hatte, er wolle dort mit seinem Unterricht anfangen. Er fand seine Schwester Tula-Vu in einer der vordersten Reihen. Die Hände nach vorne gestreckt, hockte sie auf allen Vieren in einer unruhigen Lauerposition im Gras, so wie es die Talos in den Generationen zuvor taten, bevor sie ihre Krallen in die Haut eines wilden Tieres rammten.
»Was hat er gerade gesagt?« flüsterte eine Stimme von hinten. Seine Schwester drehte sich um und warf dem Talo ein wütendes Zischen entgegen. »Sei ruhig und hör zu!«, sagte sie. Heka-Ra starrte Tula-Vu mit seinem unteren Augenpaar von der Seite an. Ihr Blick klebte an der Gestalt des Fremden. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, obwohl zwei große Wolken die Hitze der Lebensspenderin verdeckten.
Die Stimme des Fremden gewann wieder an Kraft: »Wir alle sind Brüder. Die Tatsache, dass unsere Ursprünge auf verschiedenen Welten liegen, soll uns nicht daran hindern zusammen zu halten. Denn schließlich unterliegen alle Völker derselben Schöpfung.«
»Von welcher Schöpfung sprichst du?«, erklangen die Worte des Ältesten. Er und die Mitglieder des Hohen Rates hatten einen der hölzernen Türme als Aussichtspunkt erwählt und sahen unter den Reisszähnen, die ihre Köpfe wie Kronen schmückten, auf die Stammesmitglieder herab.
»Der Ursprung allen Seins ist der Geist«, antwortete der Fremde. Er trug immer noch die spiegelnde Panzerung am Körper, von der er behauptete, es sei eine Reisekleidung ohne die niemand den unermeßlichen Raum des schwarzen Nichts durchdringen könne, das all die vielen Welten voneinander trennte.
»Der Stamm der Talos kennt keinen Anfang. Wir waren immer da und werden auch nicht verschwinden«, rief der Älteste über die gesenkten Häupter seiner Anhänger hinweg. Die Lippen des Fremden umspielten ein Lächeln, das Heka-Ra nur schwer deuten konnte. »Alles hat einen Anfang und ein Ende«, entgegnete der Fremde mit erhabener Stimme.
Heka-Ra drehte sich um und sah nach oben zu der Plattform des Turmes. Das Murmeln unter den Ratsmitgliedern erregte die Aufmerksamkeit des gesamten Stammes. Sie steckten die Köpfe zusammen und sprachen miteinander, fielen sich aber ständig gegenseitig ins Wort. Seit frühesten Generationen gaben die weisen Talos ihre Jagdgeschichten an die Jüngeren weiter und betonten dabei, dass sie alles Wissenswerte enthielten. Keiner von ihnen hatte es jemals gewagt zu behaupten, das mächtige Volk der Talos hätte zu einem gewissen Zeitpunkt noch nicht existiert.
»Woher stammst du, Fremder, dass du dich anmaßt, unsere Geschichte besser zu kennen als wir?«, fragte der Älteste. Von Seiten der Ebene wehte eine sanfte Brise durch die dichten Strähnen, die der Kopfhaut des Fremden entsprangen. Er strich sie langsam wieder glatt und sagte: »Meine Aufgabe ist es, Eurem Volk zu helfen, sich weiterzuentwickeln. Aber um den Stand einer fortschrittlichen Rasse zu erreichen, mangelt es euch an einem erheblichen Gut,« erklärte der Fremde und breitete beide Arme aus, als müsste er jemandem eine schwere Last abnehmen. »Hört mich an, Rasse der Talos, ihr seid erst vor kurzem dem grandiosen Geist der Schöpfung entsprungen und habt bis zum heutigen Tag überlebt. Doch um den zukünftigen Fortbestand zu sichern, benötigt ihr Richtlinien, denen sich die Mitglieder eurer Gesellschaft zu unterwerfen haben.« Der Fremde machte eine lange Pause und beobachtete die emporgerichteten Gesichter und weit aufgerissenen Augen. Heka-Ra glaubte zu spüren, wann sich ihre Blicke trafen. Ein Begriff in der Rede hatte sein pochendes Herz tief getroffen. Das Gefühl der Vorfreude schoss wieder durch sein Bewusstsein.
»Was ist der grandiose Geist der Schöpfung?«, rief Heka-Ra laut genug, dass der Fremde die Worte von seiner erhöhten Lage aus hören konnte. Die Talos in seiner Nähe richteten sofort ihre Köpfe auf ihn. Dann wiederholte jemand aus den hinteren Reihen seine Worte mit noch lauterer Stimme. Sekunden später ertönte Heka-Ras Frage in einem schallenden Chor von allen Ecken des Hügels.
Der gepanzerte Arm des Fremden stieg schwer fällig in die Höhe. Ein Finger deutete auf die Lebensspenderin. »Der grandiose Geist lebt dort oben«, sagte er. Alle Talos schrien gemeinsam auf: »Die Spenderin ist der Geist!« Im selben Moment zeigte der erhobene Finger auf die Masse vor der Anhöhe. »Der grandiose Geist lebt auch in euch«, sprach der Fremde. »Ja, selbst in der Erde, den Tieren und in der Härte der Felsen ist er zu finden«.
Heka-Ra sah in die leuchtenden Augen seiner Schwester. Sie saß nun vollkommen aufrecht, alle Talos in ihrer Nähe taten es ihr gleich. Sie hockten nicht mehr auf allen Vieren im Gras, sondern versuchten ihre Körper gerade zu halten, so wie es ihnen der Fremde vormachte. Die Mitglieder des Hohen Rates waren die einzigen unter den Talos, die ihre Fassung bewahrten, während die gesamte Gemeinschaft immer wieder ein und denselben Ausdruck rief: grandioser Geist der Schöpfung.
Heka-Ra bemerkte, dass der Älteste verzweifelt versuchte seinem Volk einen Befehl zukommen zu lassen, doch sein Rufen ging in dem unablässigen Chorgesang hoffnungslos unter. Tula-Vu sprang nun auf und quetschte sich durch die erste Reihe. Die anderen folgten ihrem Beispiel, erhoben sich vom Boden und stürmten auf die Spitze des Hügels zu. Die hohen Grashalme knickten unter der Last hunderter trampelnder Füße. Heka-Ra setzte seiner Schwester nach, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Teil der Gruppe, die den Hügel von der anderen Seite erklommen hatte, stand bereits nahe bei dem Fremden und streichelte mit den Händen über den hellen Spiegel der Rüstung. Seine grünen Augen musterten die Gesichter der heran preschenden Talos. Als sie Heka-Ra fixierten, verspürte er einen plötzlichen Drang auf die Knie zu fallen. Er tat es und sah, dass der Blick des Fremden die übrigen Talos zu der selben Aktion verleitete.
»Und so schließt nun eure Augen«, sagte der Fremde. »Horcht tief in euch hinein und entdeckt euren Geist.« Tula-Vu missachtete seine Aufforderung und erhob sich wieder zu voller Größe. »Wie ist dein Name?« fragte sie leise. Ein schwaches Zittern untermalte ihre Worte. Der Fremde nahm es wohlwollend auf und legte einen schweren Handschuh auf ihre linke Schulter. »Auf meinen Reisen geben mir die Völker unterschiedliche Namen. Auch ihr werdet einen passenden für mich finden, der euren Nachfahren helfen wird meiner zu gedenken.« Er schenkte ihr ein zuversichtliches Lächeln. Tula-Vu ging wieder auf die Knie und schloss ihre vier Augen.
Eilige Schritte und das Klappern von Metall durchbrachen die eintretende Stille. Heka-Ra erblickte als erster den Helm des Hauptmanns, der mit einer Mannschaft von sieben Wachen im Schlepptau die Anhöhe empor trabte. Als sie sich in einer Reihe aufgestellt hatten, zielte ihr Anführer mit seinem Speer auf den Fremden. »Der Hohe Rat gebietet, dass ihr unserer ehrenvollen Gemeinschaft unverzüglich den Rücken zukehrt.«
Der Fremde trat einen Schritt nach vorne. Die knienden Talos erhoben sich vom Gras und ließen ihre Augenpaare von den Dorfwachen zu ihrem unbekannten Besucher schweifen. »Ich reise wieder ab, sobald meine Aufgabe in eurer Welt vollendet ist«, sagte er. Abermals breitete der Fremde die Arme aus und lächelte dabei. Die Wachen antworteten ihm mit nach vorne gerichteten Speeren.
»So hört mich doch bitte an, meine Brüder. Ich habe weite Reisen in tiefem Schlaf unternommen, die mich in die entlegensten Winkel des schwarzen Nichts führten. Überall, wo es mir möglich war, habe ich den Völkern geholfen. Gebt mir bitte die Gelegenheit, es auch mit euch zu versuchen.«
Die Wachen tauschten Blicke aus, hielten jedoch eines ihrer Augenpaare auf den Besucher gerichtet. »Der Anführer unseres Stammes wünscht eure sofortige Abreise«, sagte der Hauptmann. Die Art wie er das letzte Wort betonte, brachte Heka-Ra zum Seufzen.
»Aber er kennt den Ursprung unseres Volkes«, sagte er aufgeregt, »er erzählte uns vom grandiosen Geist der Schöpfung.«
»Schweig, du Narr!«, fuhr ihn der Hauptmann an. Er drückte seinen Speer gegen die schwarze Haut an Heka-Ras Brust. Zur großen Überraschung beider Parteien sprang Tula-Vu dazwischen und ergriff die Stange der Waffe.
»Lass los!« schrie der Hauptmann.
»Ich will nicht, dass er jetzt schon geht. Wir haben noch so viel zu lernen,« sagte Tula-Vu an die Wachen gewandt.
»Lass den Speer sofort los!« wiederholte der Anführer.
»Nein!«, rief sie.
Kalter Schweiß floss an Heka-Ras Wangen herab, als er in die starren Augenpaare seiner Schwester blickte. Der Fremde stand einfach da und wartete den Ausgang der Situation ab. Einige Talos wagten es, bis auf wenige Fuß an die Wachmannschaft heranzutreten. Eine junge Frau stellte sich direkt neben Tula-Vu.
»Verschwindet!«, sagte eine der Wachen. Die Frau nahm dies als Zeichen und rammte zwei ihrer Krallen in die Schulter des Hauptmannes. In einem langen Aufschrei stolperte er rückwärts, fing sich wieder und hob seinen Speer. Tula-Vu drehte sich um und rannte davon, doch die Spitze der Waffe traf ihr Ziel mit ungeahnter Genauigkeit. Der Hauptmann hatte den Speer schnell in ihre Richtung geschleudert und Tula-Vus letzten Atemstoß in einen Schwall qualvollen Röchelns verwandelt.
Heka-Ra lief zu dem Körper seiner Schwester und beugte sich tief hinunter. Zwei seiner Tränen trafen ihren Schädel, als er ihre Wange küsste. Die Hand des Fremden zog ihn leicht nach oben und wandte seinen Kopf.
»Wieso hast du nichts getan?« fragte er die ruhigen grünen Augen. Da kniete sich der Besucher langsam in das feuchte Gras und sprach ein paar leise Worte in sein Ohr. Heka-Ra hielt für einen Moment den Atem an und dachte über die Bedeutung jenes Satzes nach.
»Ich kann das nicht annehmen«, sagte Heka-Ra.
»Wenn du den Frieden suchst, so ist es der einzige Weg«, erwiderte der Fremde.
Heka-Ra schüttelte den Kopf und schwang sich wieder auf die Beine. Sein Herz schlug wie wild. Im Geiste wusste er genau, was er als nächstes zu tun hatte. Es gab jetzt nichts mehr, das ihn von seinem Pfad abbringen konnte, nicht einmal die Weisheit des fremden Wesens. Mit einem heftigen Ruck riss er den Speer aus dem Rücken seiner Schwester, sah wie das Blut an der Stange hinab floss.
Als er zum Sprint auf die Truppe der Dorfwachen ansetzte, merkte Heka-Ra fast gar nichts von der Anwesenheit der zwanzig Talos, die seinen Schritten folgten. Seine letzten Gedanken kreisten einzig und allein um die Worte des Besuchers, deren volle Bedeutung sich erst in jenem Moment offenbarte, als er die Spitze des Speeres in die Brust des Hauptmanns stieß.
Leise wiederholte er das Mantra des Fremden:

Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.​

 

Hey!

Ein christlicher Missionar bei Aliens, das ist eine coole Idee.
Du hast auch die Kultur des Alien-Stammes recht gut beschrieben.
Mir hat die Geschichte gut gefallen, war mal was Anderes.
Und der Schluss-Twist, dass er das Gegenteil erreich hat, war auch nett.
Dennoch fand ich das Verhalten des Menschen unglaubwürdig. Und warum lag er leblos im Gras? Ist er abgestürzt?

Aber den Anfang fand ich dennoch verwirrend:

Heka-Ras rechte Hand zitterte, als sie nur wenige Zentimeter vor der spiegelnden Panzerung des unbekannten Lebewesens zum Stehen kam. Nicht seine innere Stimme sorgte für diesen Moment der Ruhe, sondern der unmittelbare Panikschrei Tula-Vus, die ihren Körper aus Angst vor der Kreatur hinter einem knorrigen Baumstamm verborgen hielt

Sorgen Panikschreie in dieser Kultur für innere Ruhe? :-)

Ansonsten: Gut.

 

Dennoch fand ich das Verhalten des Menschen unglaubwürdig. Und warum lag er leblos im Gras? Ist er abgestürzt?

Exakt. Die zerbrochene Kugel war sein Raumschiff. Kennst du den Film "The Fountain"? Wenn ja, dann könnte ich behaupten, dass die Kugel in meiner Geschichte so ähnlich aussieht.

 

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