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Der Besucher

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24.06.2001
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Der Besucher

Es ist Nacht geworden über der Stadt, in der ich einst gelebt habe. Ein Leben, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Es wird schön gewesen sein. Oder grässlich. Wer weiß? Die Erinnerungen verblassen immer mehr, fast so wie das, was einmal meine Haut gewesen ist und all seine rosige Farbe lange schon verloren hat. So stehe ich gedankenverloren vor meinem dunklen Grab, auf das die Schatten der alten Bäume auf dem Friedhof fallen. Alles ist still und außer mir ist niemand und gibt es nichts, das dort draußen in der Welt umherwandelt. Und ich bin eigentlich auch nicht wirklich da. Der Mond scheint seelig und lächelnd über mir und beleuchtet das schwarze Pflaster der Pfade und scheint durch mich hindurch, denn er allein weiß um meine Vergangenheit. Er kennt mich so gut, dass er seinen goldenen Schimmer zu mir herunterschickt, um mich zu grüßen mit seinem Trost. Meine leeren Blicke gleiten über den schweren Grabstein, dessen Inschriften schon lange nicht mehr zu entziffern sind. Moos wächst auf dem Stein und Risse ziehen sich durch ihn hindurch, so dass es bald kein Indiz mehr geben wird für mein Erdenleben. Gut so. Ich lege ein paar verwelkte Rosen nieder auf meinem Grab. Regen prasselt leise und wenn ich noch könnte, würde ich wohl in diesem Moment husten und meine Jacke enger ziehen. Doch ich huste nicht und ich ziehe meine Jacke nicht enger. Das habe ich schon lange hinter mir. Könnte man mich mit menschlichem Auge erkennen, so würde man einen altmodisch gekleideten Mann in einem weißem Anzug sehen, mit weißer Weste und geschlossenem weißem Jackett. Eine Zigarre steckt zwischen meinen Lippen und kalter Rauch entweicht gen Himmel in die Nacht. Ich schaue ihm nach, um hinter seinem Schleier die Sterne funkeln zu sehen. Die Zigarre habe ich mir für diesen Augenblick von dort mitgenommen, wo ich nun zu Hause bin. Wollte nur noch einen letzten Blick auf die Ruinen meines vergangenen Lebens werfen und dann gleich wieder gehen. Soeben wurde die Stille durchbrochen. Von der Stadt dröhnt leise der Schall von Musik zu mir heran und wogt in Wellen durch mich hindurch. Ein seltsames Gefühl. Es ist amerikanische Musik, die ich früher wohl nicht verstanden hätte, weil ich nie Englisch gesprochen habe. Doch ich habe gelernt zu verstehen. Die Melodie ist ähnlich sinnlos wie der Text. Er faselt was von Liebe und dass die Zeit alle Wunden heilt. Ich werfe die Zigarre weg während ich gehe, ohne noch einmal zurückzublicken. Als ich durch die Gassen und Strassen meiner alten Heimat wandle und fast sehnsüchtig zu den hell erleuchteten Fenstern aufschaue, kommen mir Leute entgegen, Arm in Arm, und haben noch Hoffnung und gehen durch mich hindurch. Ich bin nur Luft. Bin nicht vorhanden. Bin nichts. Die Menschen sind hässlich. Schon liegt die Stadt hinter mir, ein leuchtender Schandfleck, und ich gehe den Sternen entgegen nach Hause. Meine Schritte heben sich erst langsam, dann immer mehr von der Erde, als stiege ich eine unsichtbare Treppe hinauf. Meine Flügel habe ich vor langer Zeit verloren, der Heiligenschein liegt zerbrochen am Boden. Und ich steige weiter und immer weiter vorbei am Tor der Planeten durch die Galaxie, um wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Es war schön wieder einmal auf der Erde gewesen zu sein. Doch das reicht nun wieder für die nächsten Jahrhunderte. Pfeifend schwebe ich weiter - das amerikanische Lied auf den Lippen und winke den Erdenmenschen aus der Ferne. Und wenn es ganz still geworden ist, so können auch sie das Lied hören, das leise durch die Galaxie hallt und den Mond sehen, der zufrieden lächelt.
Tobias Rösch

 

Lieber Toby

mit Interesse habe ich diesen Text gelesen, der von der Rückkehr eines Verstorbenen zu seinem Grabe erzählt. Es gibt in der Literatur so viele Texte, die dieses Thema behandeln, dass man sich nicht leicht tut, diesen Text irgendwo in ein Schema einzuordnen. Eines ist jedoch klar, immer handelt es sich um die alte Neugier des Menschen nach dem, was nachher kommt. Oft aber steckt auch der Gedanke dahinter, dass ein Verstorbener zurückkehrt, um irgendein Versäumnis wieder gut zu machen, oder irgendetwas nachzuholen, was er im wirklichen Leben nicht getan hat. Ich denke hierbei an den Roman von Sartre "Das Spiel ist aus".
Bei deinem Text nun, der sehr schön die gespenstische Stimmung auf dem Friedhof beschriebt, scheint mir die nötige Information darüber zu fehlen, warum der Besucher zurückkehrt. Ein Satz ist vielleicht wesentlich, den er ausspricht über die amerikanische Musik: "Ich habe gelernt zu verstehen." In diesem Zusammenhang ist auch die Rede von der "Liebe", und "dass die Zeit Wunden heilt". Hier scheint mir der verborgene Fingerzeig zum Verständnis der Handlung zu liegen. Aber insgesamt bleibt der Leser wohl im Unklaren über den Sinn des Ganzen. Ein wenig mehr Deutlichkeit würde der Geschichte nicht schaden.
Ansonsten ein guter Text, vor allem in treffsicherer Sprache geschrieben.

Mit vielen Grüßen

Hans Werner

 

Lieber Hans Werner,

ich möchte mich erst einmal für Ihr Interesse bedanken, das Sie meinen Kurzgeschichten entgegenbringen. Die hier vorliegende Geschichte ist erst vor kurzem entstanden und ich schlage einen Weg ein, den ich noch nie zuvor beschritten habe. Ich versuche, mich von einem festen Motiv des Handelns zu lösen und verleihe der Hauptperson aus diesem Grunde eine gewisse Freiheit. Diese Freiheit ist es eben, die den Engel vom Menschen unterscheidet: der Mensch benötigt fest vorgeschriebene Tätigkeiten und Zielsetzungen, denen er folgen kann, da er sonst orientierungs- und hilflos wäre. Der Engel, den ich hier beschreibe, folgt hingegen seinen Emotionen und der Sehnsucht nach Abschied von seinem vergangenen Leben. Er hat sich beinahe vollkommen vom Irdischen gelöst, was sich unter anderem an den Aussagen "...kein Indiz mehr für mein Erdenleben" und "Die Menschen sind hässlich" ersehen lässt. Dennoch ist die Verbindung nicht ganz abgebrochen, da der Engel "fast sehnsüchtig zu den erleuchteten Fenstern" aufschaut und sich vermutlich charakteristischer menschlicher Dinge, wie der Institution der Familie und Geborgenheit erinnert. Sie haben recht: Der Satz "Doch ich habe gelernt zu verstehen" ist tatsächlich die zentrale Stelle dieser Kurzgeschichte und gleichsam ein Schlüssel für die Interpretation. Er bringt zum Ausdruck, dass die Menschen nicht in der Lage sind, größere und weiterführende Zusammenhänge zu begreifen. Ein Grund dafür ist die Beengtheit nicht nur der räumlichen Sphäre, sondern auch durch die Begrenzung des Lebens auf der Erde. Die Vergänglichkeit lässt sich erkennen an den verwelkten Rosen, die der Engel selbst auf sein eigenes Grab legt. Daran erkennt der Leser ebenfalls, dass nicht einmal die Liebe - eines der höchsten, wenn nicht sogar das höchste Gut auf Erden - vergeht. Dieses Motiv wird wieder aufgegriffen, bevor sich das Wesen auf den Heimweg macht: "... kommen mir Leute entgegen, Arm in Arm, und haben noch Hoffnung...". Immer wieder wird betont, dass der Engel, der sich im übrigen kaum von den Menschen unterscheidet, ein Teil der Unendlichkeit ist und sich in eben jener Unendlichkeit, die als eine Folge des Todes aufgefasst wird, verliert. Dies impliziert, dass jedes menschliche Handeln und jegliche Innovation durch den Menschen letztlich vergebens sind, da er keine Möglichkeit hat, sich zu verewigen. Denn der Mensch muss stets gegen die Zeit ankämpfen und erkennen, dass er nie als Sieger hervorgehen kann, so sehr er sich auch bemüht. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es sich dabei um eine tiefe Schwarzmalerei handelt, aber ich betrachte dies als die einzige Möglichkeit eine Differenzierung zwischen Mensch und Engel zu erzielen. Niemand bemerkt überdies den Besuch des Engels, der kommt und geht und nichts weiter ist als Luft. Die einzige Größe, die den Wandel der Zeiten übersteht, ist hier der Mond, der die Menschen betrachtet und deren Vergangenheit kennt. Alles andere muss sich unweigerlich im Nichts, in der Unendlichkeit, verlieren. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass nicht einmal der hier beschriebene Engel unfehlbar und von allen Trieben entbunden ist. Denn die Flügel, deren er sich entledigt hat und der Heiligenschein, der "zerbrochen am Boden liegt" symbolisieren, dass der Engel noch nicht ganz der Einflusssphäre des Irdischen entkommen ist.

Mit freundlichen Grüßen

Toby

 

Hi Toby, oder wie auch immer ich dich ansprechen könnte. Ich bin froh auf deine Geschichte gestoßen zu sein.Ich finde sie wirklich gut, sie ist so inspirierend und wie Hans Werner schon sagte, in einer treffsicheren Sprache ausgedrückt. Du hast den Aufbau, bewusst oder unbewusst, interessant gestaltet, indem du das Rätsel um das lyrische Ich erst langsam gelüftet hast. Ich wäre dafür, den Gang durch die alte Heimat genauer zu beschreiben. Gefühle, oder sind sie schon gestorben? Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen oder Gleichgültigkeit? Ansonsten finde ich deine Geschichte großartig! Ich hoffe , mehr von dir lesen zu können . . .

 

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