Der Besucher
Es ist Nacht geworden über der Stadt, in der ich einst gelebt habe. Ein Leben, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Es wird schön gewesen sein. Oder grässlich. Wer weiß? Die Erinnerungen verblassen immer mehr, fast so wie das, was einmal meine Haut gewesen ist und all seine rosige Farbe lange schon verloren hat. So stehe ich gedankenverloren vor meinem dunklen Grab, auf das die Schatten der alten Bäume auf dem Friedhof fallen. Alles ist still und außer mir ist niemand und gibt es nichts, das dort draußen in der Welt umherwandelt. Und ich bin eigentlich auch nicht wirklich da. Der Mond scheint seelig und lächelnd über mir und beleuchtet das schwarze Pflaster der Pfade und scheint durch mich hindurch, denn er allein weiß um meine Vergangenheit. Er kennt mich so gut, dass er seinen goldenen Schimmer zu mir herunterschickt, um mich zu grüßen mit seinem Trost. Meine leeren Blicke gleiten über den schweren Grabstein, dessen Inschriften schon lange nicht mehr zu entziffern sind. Moos wächst auf dem Stein und Risse ziehen sich durch ihn hindurch, so dass es bald kein Indiz mehr geben wird für mein Erdenleben. Gut so. Ich lege ein paar verwelkte Rosen nieder auf meinem Grab. Regen prasselt leise und wenn ich noch könnte, würde ich wohl in diesem Moment husten und meine Jacke enger ziehen. Doch ich huste nicht und ich ziehe meine Jacke nicht enger. Das habe ich schon lange hinter mir. Könnte man mich mit menschlichem Auge erkennen, so würde man einen altmodisch gekleideten Mann in einem weißem Anzug sehen, mit weißer Weste und geschlossenem weißem Jackett. Eine Zigarre steckt zwischen meinen Lippen und kalter Rauch entweicht gen Himmel in die Nacht. Ich schaue ihm nach, um hinter seinem Schleier die Sterne funkeln zu sehen. Die Zigarre habe ich mir für diesen Augenblick von dort mitgenommen, wo ich nun zu Hause bin. Wollte nur noch einen letzten Blick auf die Ruinen meines vergangenen Lebens werfen und dann gleich wieder gehen. Soeben wurde die Stille durchbrochen. Von der Stadt dröhnt leise der Schall von Musik zu mir heran und wogt in Wellen durch mich hindurch. Ein seltsames Gefühl. Es ist amerikanische Musik, die ich früher wohl nicht verstanden hätte, weil ich nie Englisch gesprochen habe. Doch ich habe gelernt zu verstehen. Die Melodie ist ähnlich sinnlos wie der Text. Er faselt was von Liebe und dass die Zeit alle Wunden heilt. Ich werfe die Zigarre weg während ich gehe, ohne noch einmal zurückzublicken. Als ich durch die Gassen und Strassen meiner alten Heimat wandle und fast sehnsüchtig zu den hell erleuchteten Fenstern aufschaue, kommen mir Leute entgegen, Arm in Arm, und haben noch Hoffnung und gehen durch mich hindurch. Ich bin nur Luft. Bin nicht vorhanden. Bin nichts. Die Menschen sind hässlich. Schon liegt die Stadt hinter mir, ein leuchtender Schandfleck, und ich gehe den Sternen entgegen nach Hause. Meine Schritte heben sich erst langsam, dann immer mehr von der Erde, als stiege ich eine unsichtbare Treppe hinauf. Meine Flügel habe ich vor langer Zeit verloren, der Heiligenschein liegt zerbrochen am Boden. Und ich steige weiter und immer weiter vorbei am Tor der Planeten durch die Galaxie, um wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Es war schön wieder einmal auf der Erde gewesen zu sein. Doch das reicht nun wieder für die nächsten Jahrhunderte. Pfeifend schwebe ich weiter - das amerikanische Lied auf den Lippen und winke den Erdenmenschen aus der Ferne. Und wenn es ganz still geworden ist, so können auch sie das Lied hören, das leise durch die Galaxie hallt und den Mond sehen, der zufrieden lächelt.
Tobias Rösch