- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Der Besuch
Geraume Zeit stand ich vor der Tür unendschloßen, ob ich es wagen sollte einzutreten. Auch dieses mal werde ich wohl der Führer dieser Unterhaltung sein.
Gegen morgen fing es an zu schneien, viel zu früh für diese Jahreszeit. Deine Gesichtszüge sind schmerzverzerrt und der Ausdruck der Angst hat sich in deinem Gesicht verewigt.
Deine blonden, langen Haare sind struppig und wirken ein wenig ungepflegt. Auf meiner Erinnerung liegt ein trüber Schleier, der jenes Bild der selbstbewussten, wortgewandten Frau überdeckt. Ich habe diese Flasche Hochprozentigen in meiner Tasche reingeschmugelt. Du verzeihst, wenn ich mir einen genehmige. Der Alkohol schmeckt süßlich und nach Lakritz. Ich sehe den Stuhl neben deinem Bett, die Einladung ist mir nicht entgangen. Ich ziehe es vor zu stehen.
Meine Beine werden weich, vielleicht setze ich mich doch. Der Stuhl ist hart und unbequem. Deine Hände sind gefalten und nicht zum Kampf entschloßen zu Fäusten geballt. Eine weiße Fahne sehe ich aber auch nicht. Leise schleichend und unerwartet hat es dich erwischt. Der Alkohol steigt mir langsam zu Kopf.
Vater steht noch immer vor der Tür, er ist um Jahre gealtert. Aus seinem vergreisten Gesicht blicken mich gepeinigte Augen eines Kindes an. Ich kann sie nicht ertragen. Auch jetzt hüllst du dich in Schweigen, lässt mich im Ungewissen, ob du es nicht insgeheim doch wusstest.
Einige Pfade des Lebens muss jeder Mensch für sich beschreiten. Allwissende Worte, die versuchten, das unvermeintliche zu beschlichtigen. Die Möglichkeit, rechtzeitig bei dir zu sein, wurde uns schon lange vorher von dem Gott im weißen Kittel verwehrt.
Ich sollte dir wohl einen Abschiedskuß gewähren, doch dies zu tun ekelt mich an. Stattdessen berühre ich deinen bekleideten Arm und verweile schweigend eine Minute neben dir. Vielleicht sollte ich ein Gebet sprechen, doch recht gläubig warst du nie. Ich werde jetzt gehen, ruhe in Frieden.