Der Besuch des jungen Herrn
Henriette von Leuberg steht im Morgenmantel am Panoramafenster des Salons und zieht an ihrer Zigarettenspitze. Sie pafft Rauchschwaden in die einfallenden Sonnenstrahlen, lässt den Blick über ihr Anwesen schweifen, das opulente Blumenbeet, akkurat gestutzte Ziersträucher, die Laube, in der sie so viele heitere Stunden verbracht hatte, früher als ihr Gatte noch lebte, als sie noch fidel und munter war. Seit Jahren geht das nun schon so, morgens am Fenster, schauen und rauchen, Sommer wie Winter. Ihr Blick verfängt sich am Gartentor. Da steht ein Fremder. Ein junger Mann, wie sie mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen meint, der seinerseits das Grundstück in Augenschein nimmt, mit langem Hals sich spähend umsieht, dann ein paar Schritte entfernt und unentschlossen wieder zum Tor zurückkehrt. Sie schiebt vorsichtig die Gardine ein Stück vor, während sie sich selbst seitwärts aus dem Blickfeld dreht und sich an den schweren Brokatvorhang schmiegt.
Nervös beißt derweil der Zaungast auf seinen Lippen herum, versucht seinen Kopfschmerz durch Druck auf die Nasenwurzel zu lindern. Die letzte Nacht war kurz und fiebrig. Er streicht seinen knittrigen Mantel glatt so gut es eben geht und rückt seine Krawatte zurecht. “Von Leuberg” steht auf dem goldenen Namensschild an der Pforte eingraviert. Ein vornehmes altes Gebäude, ein ergrauter Palast, wie ein versteinertes Relikt aus einer besseren Zeit. Der Daumen im schwarzen Lederhandschuh umspielt den Klingelknopf. Er schließt die Augen, geht in sich und setzt dann jenes gewinnende Lächeln auf, das er für Situationen wie diese unzählige Male erprobt hatte, zuhause vor dem Spiegel. Er versenkt den widerspenstigen Knopf und vernimmt im gleichen Moment einen dumpfen Gong aus dem Inneren des Hauses.
“DONG!” dröhnt es und lässt Henriette aufschrecken, obwohl sie den Besucher ja bereits wahrgenommen hatte. Sie späht aus dem Fenster, der Herr am Tor sieht freundlich drein. Jetzt scheint er sie gesehen zu haben und winkt in ihre Richtung. Sie verharrt still, beobachtet ihn, wie er sie mit Handzeichen und stumm sich bewegenden Lippen in Richtung der Eingangstür zu dirigieren versucht. Sie drückt die Zigarette in der Orchidee auf der marmornen Fensterbank aus, als erneut der Gong ertönt, forscher diesmal, bestimmter.
Durch seinen pochenden Schädel rasen noch immer, wie losgelöst von seiner regungslos verharrenden Gestalt, jene Gedanken, die ihn den Schlaf der letzten Nacht gekostet haben. Wird sie ihn hereinlassen? Wird sie seiner Geschichte Glauben schenken? Wird sie bereit sein, ihm das Geld auszuhändigen? Sein Auge zuckt, er hat eine Bewegung am Fenster ausgemacht. Sie muss zuhause sein, wo auch sonst. Um sein Leben zu retten, hatte er sich geschworen, würde er seinen Stolz vergessen und bis zum Äußersten gehen. Nochmal traktiert er die Glocke, nichts geschieht, sein Lächeln ist bereits zur Grimasse erstarrt. Ihm ist, als hörte er in seinem Kopf den Sand rieseln, als sei er selbst das Stundenglas das langsam ausläuft, da schnarrt unverhofft der Türöffner. Er fährt herum, schiebt aufgeregt das quietschende Tor auf und bewegt sich mit hastigen Schritten über den Kiesweg, vorbei an Marmorbüsten und einem zierlichen Springbrunnen, auf das schwere hölzerne Eingangsportal zu, hinter dem sich der Fortgang seines Lebens entscheiden wird.
“Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?” fragt eine greise Stimme aus einem faltigen Gesicht heraus, das nur durch einen schmalen Spalt hinter der goldenen Türkette im Halbdunkel zu erkennen ist. “Erinnerst du dich denn gar nicht an mich Großmutter? Ich bin es…” Sie mustert den Besucher, etwa Mitte Vierzig schätzt sie, groß und hager, die Haare dunkel wie die Ringe um seine Augen, und denkt angestrengt nach. Sie erinnert sich an Enkelkinder, aber die Namen, mit Namen tut sie sich doch überhaupt schwer seit geraumer Zeit. Allein der Name ihres Ehemannes, Friedrich, ist ihr präsent wie eh und jeh. Und ihr gemeinsamer Sohn… Theodor, das fällt ihr dann auch noch ein. Dessen Söhne, zwei müssen das gewesen sein oder gar drei, hatte sie seit Ewigkeiten nicht gesehen. Seit ihr Sohn sein Glück im Ausland gesucht hatte, vor über 40 Jahren, und es geschäftlich zu einigem Erfolg gebracht hatte, wie er in seinen seltenen Briefen an sie oft und ausgiebig versicherte, waren Familientreffen äußerst spärlich gesät. Seine Worte holen Sie ins Hier und Jetzt zurück “Gut siehst du aus Großmutter, es freut mich dich wohlauf zu sehen!”
“Ich weiß, es ist lange her…” beginnt er, sich verlegen die Hände reibend. “Und Sie sind also Theodors Sohn?” unterbricht sie ihn und vor ihrem inneren Auge ziehen verblichene Bilder vorbei wie im Stummfilm. Quietschfidele Kinder auf ihrem Arm, tobende Gören in der kniehohen Wiese, nackte Kinderbeine im Fischbassin. Die letzten Tage eines verblühten Sommers, die letzten Atemzüge einer zerrütteten Familie. Szenen aus dem Leben vor dem Streit, dessen Hintergrund sie nie im vollen Umfang verstanden hatte. Vater und Sohn, beide herrisch, unnachgiebig und zu stolz, um einander zu vergeben. “Ja, natürlich, er lässt dich lieb grüßen…” verweht seine Antwort ihre ausschweifenden Gedanken. “Karlchen?” fragt sie nach und ist selbst überrascht über den Klang und die Vertrautheit des ausgesprochenen Namens. Auf sein freudiges Nicken hin zieht sie zögerlich das Vorhängeschloss zurück. Die Türe öffnet sich behäbig, und als das eindringende Tageslicht den Flur geflutet hat, stehen sie sich gegenüber und betrachten einander, auf der Suche nach gemeinsamen Erinnerungen. “Komm herein.” empfängt sie ihn gütig “Das ist ja eine Überraschung…”
Hastig tritt er über die Schwelle mit einem Schulterblick. Sie winkt ihn mit einladender Geste zum Salon, schiebt die Türe ins Schloss. Er folgt einem mit gerahmten Fotografien behangenen Gang, ein Spießrutenlauf, vorbei an Dutzenden gestreng dreinblickenden Augenpaaren gewiss längst verstorbener Persönlichkeiten, in schwarz und weiß. Ein wenig muffig riecht es eingangs, bis sich der Duft von frisch gebrühtem Filterkaffee durchsetzt. Schlurfend folgt ihm die alte Dame, er nimmt ihr verzerrtes Spiegelbild in einer silbernen Blumenvase wahr. Die Faust in der Tasche umklammert den kühlen Griff des schweren Revolvers. Das Ticken der Standuhr bombardiert die bleierne Stille im Haus. “Trinkst du einen Kaffee?” fragt sie und noch bevor er dankend ihr Angebot annimmt ist sie in der Küche verschwunden. Er betritt den Salon, streicht im Vorübergehen über die Lehne des Ohrenessels, über bestickte Sitzkissen, eine barocke Spieluhr, Nippes, der eines Tages auf dem Sperrmüll verkommen wird. Er lauscht, hört Kaffeegeschirr klirren, schreitet an der Bücherwand entlang, entdeckt, nur halb verborgen hinter ledergebundenen Wälzern, die stählerne Front des Tresors. “Es ist noch immer wie früher!” ruft er.
Sie steht mit einem Tablett in der Tür und beobachtet ihn, wie er gerade den Deckel einer kleinen Schatulle anhebt. “Was führt dich denn nun zu mir?” fragt sie und reicht ihm eine Tasse, zierliches Puppengeschirr mit Goldrand. “Das ist kompliziert,” beginnt er und sieht sie mit leidenden Augen an “ich habe Probleme. Schwerwiegende Probleme finanzieller Art. Man könnte sagen, ich bin am Ende.” Er hatte sich den Verlauf des Gesprächs schon oft vorgestellt und sich entschieden, am besten gleich offen und in aller Deutlichkeit zu sprechen. “Es geht um eine größere Summe und ich kenne sonst niemanden der mir aushelfen könnte, da dachte ich mir, ich bitte dich um Hilfe, so unangenehm mir das auch ist…” “Herrje, das klingt ja furchtbar.” Sie lässt sich umständlich in den Sessel sinken. “Um welche Summe handelt es sich denn?” fragt sie mit großmütterlicher Fürsorge. Er zögert, weicht ihrem Blick aus und erwidert murmelnd “Etwa 50.000 Euro, besser wären 70.000.” Sie stellt zittrig die Tasse auf das gehäkelte Tischdeckchen, faltet die fleckigen Hände vor ihrem Mund und schaut ihr Gegenüber mitleidvoll an. “Was ist nur geschehen, Karlchen?” Er legt die Stirn in Falten. “Ich hatte die Chance endlich rauszukommen aus den Schulden, ein neues Leben zu beginnen,” erklärt er “hatte einen Insider-Tip bekommen für ein todsicheres Börsengeschäft. Das hat sich als Reinfall erwiesen und das Geld ist beim Teufel. Jetzt fordern meine Gläubiger das Darlehen zurück und ich bin pleite. Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen, ich fürchte um mein Leben.”
“Das ist ja entsetzlich,” beginnt sie sichtlich erschüttert “aber du weißt ja, Friedrichs Geschäfte haben uns seinerzeit einen nie für möglich gehaltenen Wohlstand eingebracht und eines Tages wird das alles euch gehören, also musst du dir um Geld wirklich keine Sorgen machen.” Er schaut voller Unbehagen zum Fenster, dann auf die Armbanduhr “Die Zeit habe ich nicht Großmutter, verstehst du, wenn ich den Betrag nicht bis morgen aufgetrieben habe, wird es für mich nichts mehr zu erben geben”. Sie seufzt, erhebt sich, tappt wacklig in Richtung Tresor und mustert aus den Augenwinkeln ihren Besucher, der seine Anspannung kaum verbergen kann. “Ich will mal nach den eisernen Reserven sehen” sagt sie, und hinter ihr erhebt er sich vom Sofa, der ganze Körper wie unter Strom gesetzt vor Aufregung. Die alte Dame beginnt das große silberne Rad am Safe mit den eingravierten Linien und Ziffern klickernd hin und her zu drehen. Rasch und fehlerlos bedient sie die Mechanik, ein hundertfach ausgeführter Vorgang der in Fleisch und Blut übergegangen zu sein scheint. Er hört den Schließbolzen fallen, bebt unter seinem rasenden Herzschlag. Sie dreht sich zu ihm und sieht ihn mit verhaltener Skepsis an “Sicherlich weißt du, was Friedrich zeitlebens über wichtige Entscheidungen zu sagen pflegte…” und wie er sie groß ansieht, wortlos, erstarrt, einige ewig währende Sekunden lang, führt sie ihren eigenen Satz zu Ende: “…über wichtige Entscheidungen gilt es stets eine Nacht zu schlafen. Ich bitte dich, lieber Karl, komm morgen wieder, die Umstände sind doch sehr überraschend für mich.”
Als erwachte er aus einem tiefen Traum setzt sich sein Körper in Bewegung, nähert sich ihr mit weit aufgerissenen Augen. “Ich bitte dich, du bist meine letzte Hoffnung, gib mir das Geld! Jetzt gleich, es geht um Leben und Tod” Er erreicht sie, greift sie an den Schultern, rüttelt sie erst sanft in einem Anfall der Verzweiflung, da zerreißt ein markerschütternder Knall die heile Welt in Sepia- und Goldtönen und ungläubig starrt er auf den leuchtenden Fleck, der sich auf seinem Bauch ausbreitet, Hemd und Mantel tränkt, tiefrot, klebrig und heiß, dann sackt Karl von Leuberg vor seiner Großmutter zusammen, aus deren Morgenmanteltasche beißender, dunkler Rauch in die Strahlen der nimmermüden Morgensonne emporsteigt, ehe ihm schwarz wird vor Augen.
Sie legt unbeeindruckt den Revolver auf die Kommode, packt den Mann erstaunlich behende an den Beinen und zerrt ihn über den flauschigen Teppich in Richtung der Kellertreppe. Dann nimmt sie wieder im Sessel Platz, schlürft mit flatternden Augenlidern den schwarzen Kaffee, der ihr jetzt zu bitter vorkommt, hatte sie doch in der ganzen Aufregung vergessen Zucker beizugeben, und zündet sich die zweite Zigarette des Morgens an. “Nicht mit mir,” sagt sie sich trotzig, “ich mag wohl alt sein, aber wehrlos bin ich ganz gewiss nicht.” Vor geraumer Zeit hatte sie erstmals und daraufhin mit geschärftem Bewusstsein immer häufiger, in der Zeitung von der als “Enkel-Trick” bekannt gewordenen Masche skrupelloser Ganoven gelesen, die schon unzählige, meist alleinstehende Senioren um ihr sauer Erspartes gebracht hatten. Wie immer, bestätigt sie sich in ihrer Überzeugung, hatte Friedrich recht behalten. “Diese Welt ist nicht mehr sicher, das ist nun eben die Kehrseite unseres Reichtums” hatte er vor vielen Jahren festgestellt und für den Fall der Fälle eine Waffe aufgetrieben. Seitdem lag der Revolver, dessen Herkunft er nie zum Thema hatte werden lassen, geladen im Schubfach des Esstischs, gleich neben dem Tafelsilber.
Sie würde den Eindringling in den Keller befördern und seine Überreste in die Gefriertruhe stopfen, zu dem anderen Kerl, der es vor ein, zwei Jahren auf dieselbe krumme Tour versucht und sich als Gustav von Leuberg ausgegeben hatte. Sie würde ihn zerlegen müssen und die Flecken bereinigen, die soeben ihren heiligen Wohnraum entstellt hatten, aber dafür würde sie alle Zeit der Welt haben, denn dass sie je Besuch bekam war praktisch ausgeschlossen.
EPILOG *** ***
Theodor von Leuberg steht im Morgenmantel am Panoramafenster seines Appartements im zweiundsiebzigsten Stockwerk und zieht im Schein der Morgensonne an seiner Zigarre. Er pafft den Rauch ins Licht, lässt den Blick über die niemals ruhenden Straßen der Stadt schweifen, die Autokolonnen, die bereits jetzt hektisch wuselnden Geschäftsleute auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten, klein und unbedeutend wie Ameisen. Seit Jahren geht das schon so, morgens am Fenster, schauen und rauchen, Sommer wie Winter. Sein Blick verfängt sich am imposanten Bauwerk der renommierten Universität, auf der er seine beiden Söhne, diese Schwachköpfe, mit einigem finanziellen Aufwand und dank seiner glänzenden Beziehungen hatte unterbringen können. Trotz all seiner Bemühungen hatten es die beiden Nichtsnutze nie zu aufsehenerregenden Leistungen gebracht. Auf großem Fuß hatten sie gelebt, auf seine Kosten, bis es zum unvermeidlichen Streit kam, vor mehr als zwanzig Jahren. Seitdem hatte er nichts mehr von den beiden gehört, kein Lebenszeichen. Er drückt die Zigarre aus, bereit für einen neuen, erfolgreichen Tag. Weit unter ihm heult eine Polizeisirene durch die Häuserschluchten. “Die Stadt ist nicht mehr sicher” denkt er “es wird Zeit, dass ich mir eine Waffe zulege.”