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Der Beobachter
Man behauptete immer, ich sei ein guter Beobachter. Und da ist was dran, schätze ich. Ich habe tatsächlich eine gewisse Freude daran, die Dinge mit Abstand zu betrachten. Ihren Zusammenhang zu sehen. Und ich bin gut darin, Zusammenhänge zu sehen. Aber ich habe nie verstehen können, weshalb Marie sich mit diesem Typen abgeben konnte. Nicht dass es mich wunderte, dass eine solch attraktive Frau sich mit einem Mann abgab, der ihr in jeder denkbaren Hinsicht nicht gewachsen war (natürlich wirken kleinere Männer neben ihren Frauen stets etwas sonderbar, aber das war nicht das, was mich an Jakob Mehringer störte). Nein, die schiere Widersinnigkeit des Zusammenseins dieser beiden grundverschiedenen Menschen marterte mich geradezu: Maries graziles Wesen passte einfach nicht zu der Grobschlächtigkeit dieses Mannes – ihre zarte Stimme nicht zum wüsten Ton seiner Beschimpfungen, ihr anmutiger Gang nicht zum abendlichen Torkeln dieses Trunkenbolds. Und ihre blauen Flecke an den Unterarmen passten nicht zu den roten Flecken in seinem Gesicht und wenn sie ihn – was oft vorkam – mit ihren zarten Händen stützte, während er die vier Stufen zur Haustür ihres gemeinsamen, auf sarkastische Weise ockerfarbenen Heims hochstolperte, da wünschte ich mir oft, er stürze und bräche sich endlich das Genick.
Ich habe nie verstehen können, was sie an ihm fand. So oft ich von meinem Balkon aus an ihrem Leben teilnahm, indem ich die beiden bei einem Glas Rotwein durch die dicht stehenden Begonien beobachtete; ich hatte nie das Gefühl, dass es richtig sei, was ich da sah. Und jetzt verstehe ich es noch immer nicht: wie sie da drüben stehen kann; zwischen dem dunklen Holz des Türrahmens – und vom schadenfroh-ockerfarbenen Anstrich des Häuschens erdrückt zu werden droht. Schluchzend, die kleinen Hände vor ihrem Gesicht oder in ihren feuchten Haarsträhnen. Sogar jetzt, wo sie diesen Taugenichts in Handschellen abführen, scheint es ihr nicht klar geworden zu sein, dass es so das Beste ist. Für alle das Beste. Und das ist es. Es hätte mir ja schließlich auch egal sein können, und das war es auch lange Zeit, aber irgendwie verspürte ich nach dem Vorfall mit Berger den Wunsch, eine Besserung der Situation erleben zu dürfen. Den richtigen Zusammenhang sehen zu können. Und da war er nun. Auch wenn die heulende Marie es einem schwer machen konnte, sich gänzlich über den guten Ausgang der Sache zu freuen.
Vielleicht, dachte ich, als heute am frühen Abend das erste Blaulicht um die Ecke blitzte, vielleicht hätte den Mehringer doch besser das Schicksal des alten Bergers ereilen sollen. Um den tut es mir nun nicht gerade leid, aber ich fühle mich ein wenig im Zweifel darüber, ob dass, was sich vor zwei Tagen in unserer sonst so beschaulichen Straße zugetragen hat, nicht hätte anders verlaufen können. Ob Berger noch leben könnte. Und ob stattdessen nicht besser dieser elende Mehringer mit einem Beil in seinem dümmlichen Schädel hätte aufgefunden werden sollen. Als sich die beiden vorgestern noch begegneten und Mehringer in Maries Armen liegend zu seinem betagten Nachbarn rief, er wolle in umbringen, wenn er noch einmal versuche, sich in sein Leben einzumischen, da wurde die ganze Nachbarschaft Zeuge von Bergers heldenhaftem Versuch, das Leben unserer Marie zu bessern. Berger war ein anständiger alter Mann. Das muss man schon sagen. Liebenswert und zuvorkommend. Aber irgendwann musste auch er eingesehen haben, dass Mehringer unserer guten Marie nur schadet. Tatsache ist, dass er sich an besagtem Abend bei dem besoffenen Heimkehrer bemerkbar machte, mit einer spärlich Licht spendenden Taschenlampe zum Rand seines Grundstücks ging und den sturzbesoffenen Mehringer aufforderte, seine Ehefrau nicht so widerlich zu behandeln. Stattdessen solle er seinen verdammten Rausch ausschlafen, hat man ihn deutlich sagen hören. Ich weiß nicht, ob Berger, wäre er nur zwei Jahrzehnte jünger gewesen, nicht einfach über den Zaun gesprungen wäre und dem räudigen Hund das Genick gebrochen hätte. Ich hätte es an dieser Stelle vielleicht getan, denke ich. Aber ich beobachte nun einmal lieber und saß da und schaute zu – wie die ganze Nachbarschaft an jenem Abend. Jeder hier war Zeuge dieses Vorfalls, denn die beiden schrieen sich eine gute Viertelstunde an, bevor Mehringer schnaubend verkündete, dass er den armen Alten umbringen werde. Marie, die gute Marie, zog ihn dann ins Haus, wo es zwar nicht leiser wurde, aber dennoch für die meisten hier in der Straße genug Grund gegeben war, sich wieder um die eigenen vier Wände zu kümmern. Ich schaute dem alten Berger noch eine Weile nach. Ich sah, dass ihn die Szene mit Mehringer sehr viel Kraft gekostet haben muss, denn während im ockerfarbenen Haus Stühle polterten und Geschirr zu Bruch ging, drehte sich der Alte kein einziges Mal um.
Berger war ein mutiger Mann, denke ich. Und ich denke auch, er hätte gutheißen können, was ich tat, auch wenn er zunächst erschrocken in mein Gesicht blickte, als ich ihn auf seiner Veranda besuchte und vollständig darüber informierte, was jetzt passieren würde. Er schaute mir in die Augen und verstand sofort – ich denke, er wusste, dass ich Mehringers Eskapaden nicht länger dulden konnte, und mir schien es, als wäre er irgendwie ganz meiner Meinung gewesen. Marie zuliebe. Er wusste sicher genauso gut wie ich, dass Mehringer in Kürze tatsächlich hier bei ihm auftauchen würde. Davon war nun einmal nach dem Vorfall vor zwei Tagen auszugehen, denn der Trunkenbold war besoffen und streitsüchtig. Ganz sicher tauchte er hier beim alten Berger auf, wenn auch nur auf eine Pöbelei über den Gartenzaun, bevor er sich von Marie ins Haus heben ließ, wo er sie dann - so gut es in seinem Zustand eben ging – ordentlich zu verdreschen versuchte. Man konnte sich darauf verlassen, dass der Taugenichts um diese Uhrzeit herantorkelte, nachdem er wie üblich einige Häuser weiter an einer alten Holzpritsche gepisst hatte. Das war eine Art Ritual für ihn. Und so habe ich ihn dann auch genau dort angetroffen. Er konnte mich nicht sehen, da ich mich versteckt hielt, aber dennoch hatte ich einen guten Blick auf seine dämliche Visage, als er das Beil vor sich auf dem Boden liegen sah. Planmäßig nahm er es in die Hand und fuchtelte damit herum – ich erinnere mich, dass ich gerne zu ihm gegangen wäre und ihm das rostige Eisen, wie Minuten zuvor dem alten Berger in den Schädel gemeißelt hätte. Doch ich blieb ganz ruhig, zog meine Handschuhe aus und alarmierte die Polizei. Von da an ging alles ganz schnell.