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Der Beobachter

Luc

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21.11.2012
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Der Beobachter

Ich habe die Welt lange beobachtet. Unser schöner Planet, die Erde, von den Menschen dominiert und von uns ihrer wunderschönen Vielfalt beraubt, steht vor dem Ende, und es ist unsere Schuld. Die gesamte Geschichte der Menschheit ist durchsetzt von ihrer Blindheit, die nicht zum ersten Mal zur Katastrophe führt. So war es im Zweiten Weltkrieg, so war es zwanzig Jahre nach dem Anbruch des neuen Milleniums, und so ist es auch jetzt. Lange Zeit habe ich beobachtet und gelernt, bis ich Gewissheit erlangt habe: es wird uns nicht mehr lange geben.

Das Leben hat mir viele Erfahrungen geschenkt, und je mehr ich sehen musste, desto stärker wurde die traurige Überzeugung, dass wir kurz vor der Vollendung unseres eigenen Grabes stehen. Wahrscheinlich wird man mich nur als weiteren Propheten abtun, dessen Hiobsbotschaften bloß sinnloses Geschwätz sind, aber ich weiß, welche Wahrheit in meinen Worten steckt. Glaubt mir und handelt, auf dass sich etwas ändern möge, oder rennt ins offene Messer. Es ist euch überlassen. Lasst mich euch zeigen, weshalb diese Welt bald von ihrem größten Fluch, der Menschheit, erlöst sein wird. Zuerst hat es mich getroffen, dann einen Freund und zuletzt uns alle.

Diese Geschichte ist nun bereits etliche Jahre her und stammt aus einer Zeit, wo ich selbst noch den Glauben an das Gute in uns allen hegte. Damals sah alles anders aus, und ich führte ein erfolgreiches und erfülltes Dasein. Meine geliebte Frau stand mir mit Rat und Tat zur Seite, und in meiner bescheidenen Arbeit fand ich das Gefühl, etwas zu leisten. Rückblickend lief schon zu dieser Zeit vieles verkehrt, doch es machte mir nichts aus, sofern ich es mitbekam.

Was kümmerten mich auch die erschreckenden Berichte in den Nachrichten? Sie betrafen mich nicht. Wieder ein Krieg in einem fernen Land, eine Messerstecherei mit Todesfolge in einer finsteren Seitengasse oder ein Politiker, der aus irgendwelchen Gründen seines Amtes entlassen wurde, sie alle interessierten mich nicht. Es war nicht mein Problem. Lediglich darauf bedacht, mein eigenes Dasein möglichst angenehm zu gestalten, verschwendete ich keinen Gedanken an die Fehler anderer Menschen, sondern lebte zufrieden in den Tag hinein.

Wie sehr ich diese Zeiten vermisse! Damals war es mir möglich gewesen zu lieben, mich zu freuen und sorgenfrei der Zukunft entgegenzublicken. Würde diese Illusion bloß der Wirklichkeit entsprechen, so müsste ich jetzt nicht auf das Elend im späteren Verlauf meines Lebens zurückblicken und könnte weiterhin zufrieden mit mir und meiner Umwelt sein. Die Realität sieht leider anders aus.

Meine Frau klagte irgendwann über ein stetiges Unwohlsein und Schmerzen, allerdings suchten wir die Schuld beim Stress, da sie kurz zuvor ihre Arbeit verloren hatte. Einen Arztbesuch zog sie nicht in Erwägung und meinte stets, mit mir an ihrer Seite würde es schnell wieder besser gehen. Zwar verdiente auch ich nicht viel in meinem Beruf, aber es reichte aus, um über die Runden zu kommen. So warteten wir und hofften auf Besserung, die nie kam.

Ihre Krebserkrankung war ein schwerer Schlag für uns beide. Plötzlich musste sie den Tod fürchten, und ich wurde vom Gedanken heimgesucht, meine Geliebte und gleichzeitig den Mittelpunkt meines Lebens zu verlieren. Es war eine harte Zeit, doch die Hoffnung bestand, sie gemeinsam durchzustehen. Die Diagnose war noch nicht vollkommen klar, mit Glück handelte es sich um eine jener Arten der Erkrankung, die sich therapieren oder womöglich sogar heilen ließ. Mein Interesse an den medizinischen Errungenschaften war nie besonders groß gewesen, aber von der Seite hatte ich dennoch einiges mitbekommen. In bestimmten Fällen schien es mittlerweile möglich zu sein, Krebs ohne ausgeprägte Nebenwirkungen zu heilen.

Manche Leute hätten in meiner Situation mit Beten angefangen, allerdings war das nicht meine Art. Stattdessen verdrängte ich meine Sorgen und strengte mich in allen Bereichen des Lebens an wie nie zuvor. In der Arbeit glänzte ich, und meine Frau brachte trotz des jüngsten Schicksalsschlages oftmals ein Lächeln zustande. Wir ließen uns nicht entmutigen, denn gemeinsam hatten wir bislang jedes Problem bewältigt, auch wenn es diesmal besonders düster aussah.

Ein erstes Aufatmen gab es nach den ärztlichen Untersuchungen: die Möglichkeit zur Heilung bestand, nur waren unsere finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichend. Zumindest hatten wir die Hoffnung, dass sie wieder gesund werden konnte, also ließen wir uns nicht entmutigen und suchten gemeinsam nach einem Weg, um das nötige Geld aufzutreiben. Meine Arbeit warf nicht viel ab, weshalb ich meine Bank um einen Kredit ersuchte.

Der erste Rückschlag traf mich schwer, und doch ließ ich mir den Wind nicht aus den Segeln nehmen. Es hieß, mein Einkommen wäre in derart unsicheren Zeiten nicht ausreichend, um ein umfassendes Darlehen ausstellen zu können. Weder bitten, noch flehen half, und so musste ich am Abend enttäuscht heimkehren und meiner Liebsten von meinem Versagen berichten. Sie baute mich auf, da ich mich schlecht und nutzlos fühlte, sodass ich es die nächsten Tage über an den verschiedensten Stationen immer wieder versuchte.

Die Antwort änderte sich nicht, ebenso wenig die genannten Gründe. Nach einer Woche musste sie zurück ins Krankenhaus zu einer weiteren Untersuchung; die Zeit drängte. Wenn ich nicht bald zahlungsfähig war, ließ sich die Therapie nicht länger anwenden. Die Krankheit war ungewöhnlich spät diagnostiziert worden, weshalb mir zu diesem Moment nur noch ein paar Tage blieben, um ein kleines Vermögen heranzuschaffen.

Zu verkaufen gab es nichts, und in meinem Freundeskreis stieß ich lediglich auf leere Taschen oder eiskalte Ablehnung. Ich vermag auch heute nicht die Enttäuschung zu beschreiben, als mir langjährige Gefährten ohne große Worte den Rücken zukehrten, bloß weil es ums Geld ging. Von meiner Familie hatte ich ebenfalls keine Unterstützung zu erwarten, der größte Teil meiner Verwandschaft litt unter Arbeitslosigkeit oder war kurzfristig nicht erreichbar.

Die Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde an, und ich zwang mich dazu, nicht einzuknicken. Sobald ich aufgab, war meine Frau endgültig verloren. Sie würde noch eine Zeit lang unter uns weilen, aber ihr baldiger Tod wäre in Stein gemeißelt. So war die letzte Station vor der vollkommenen Ratlosigkeit jene Person, die ich am wenigsten um etwas bitten wollte: mein Arbeitgeber.

Ich hatte ein gutes Bild von diesem Menschen, denn er war stets höflich und fair, allerdings erhielt er unseren kleinen Betrieb aus eigener Tasche und war auf das Geld angewiesen, um für seine Familie zu sorgen und neben mir noch ein paar andere Leute zu beschäftigen. Trotzdem blieb mir keine andere Wahl, als ihm meine dringende Bitte nach einem enormen Vorschuss zu stellen.

Die Erinnerungen an diesen Tag sind mir bis heute in allen Details präsent geblieben. Von einer unguten Vorahnung beschlichen legte ich ihm mein Problem dar, während er verständnisvoll nickte und gelegentlich betroffen auf seinen Schreibtisch niedersah. Fast hatte ich auf seine Zustimmung zu hoffen gewagt, doch das Glück hatte mich endgültig verlassen.

„Es tut mir leid, das gerade in einer Situation wie dieser sagen zu müssen, aber derzeit sind keine weiteren Gelder verfügbar. Der Markt ist instabil, weshalb sämtliche finanziellen Mittel zum Erhalt der Firma nötig sind. Ich habe größtes Bedauern angesichts Ihrer Situation, aber leider finde ich keinen Weg, um Ihnen zu helfen.“

Damit waren alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und die Katastrophe ließ sich nicht länger abwenden. Wie sehr ich mich schämte, meiner Frau im Krankenhaus mit leeren Händen gegenüberzutreten! Die Gewissheit, sie in absehbarer Zeit zu verlieren, zermürbte mich innerlich und wuchs mir über den Kopf. Aus Respekt vor ihr sah ich trotz meiner Verzweiflung davon ab, die Sorgen in Alkohol zu ertränken. Stattdessen stand ich ihr auf ihrem Leidensweg bis zur letzten Sekunde bei.

Sie war undenkbar tapfer, ein Mensch, der einen derart qualvollen Tod einfach nicht verdiente. „Du kannst nichts ändern, also belaste dich nicht selbst und bleibe bis zum Schluss an meiner Seite. Die Dinge sind eben manchmal nicht gerecht, so ist das Leben.“ Wie machte sie es, diese Ruhe zu bewahren, während ein Teil von mir zusammen mit ihr starb?

Ihr Zustand verschlimmerte sich rapide, bis sie nach ein paar Monaten ihre letzten Worte an mich richtete. „Ich will nicht, dass du mir nachtrauerst. Du hast alles getan, um mir zu helfen, also lebe ohne mich weiter wie du es bisher getan hast. Ich liebe dich, weil du ein guter Mensch bist, und so sollst du auch bleiben.“

Tagelang war es mir nicht möglich, zur Arbeit zu gehen, so schwer setzte mir der Schlag zu. Es war einfach nicht machbar, sie nur eine Sekunde zu vergessen. Alles erinnerte mich an sie und ihre gutherzige Art. Warum? Warum durfte sie nicht weiterleben und die Menschen mit ihrer lieben Persönlichkeit beglücken? Ich verstand es nicht. Ich verstand überhaupt nichts mehr.

Wochen später, ich besuchte jeden Abend ihr schlichtes Grab und vergoss dort meine Tränen, sprach mich in der Mittagspause ein Arbeitskollege auf ihr Dahinscheiden an. Es fiel mir nicht leicht, darüber zu reden, aber womöglich war es gerade dieser Kontakt, der mir half, den Verlust zu verarbeiten. Ich erzählte von meinen Bemühungen, das nötige Geld für ihre Therapie aufzutreiben, wobei mir der Zweifel in seinem Blick nicht entging.

Erst durch ihn erfuhr ich, dass es dem Unternehmen keineswegs an finanziellen Mitteln mangelte. Statt das Leben meiner Frau zu retten, hatte mein Chef lieber in eine neue Produktpalette investiert, durch die er sich größere Gewinne erhoffte. Die Pläne hatten zu dem Zeitpunkt bereits festgestanden, die Verträge hingegen waren erst wenige Tage nach dem Tod meiner Lebenspartnerin unterschrieben worden.

Was sich in diesem Augenblick an Wut und Hass in mir ansammelte, hatte ich nie zuvor erlebt. Ich beendete abrupt das Gespräch und fuhr nach Hause, um keine Dummheiten zu tun, die ich später bereuen sollte. In mir formte sich der Drang, Dinge zu zerstören und jemanden für meinen Verlust büßen zu lassen. Meine Frau hätte vor dem Tod bewahrt werden können, aber die Profitgier hatte dem im Weg gestanden. Und das bei einem Menschen, von dem ich so viel mehr erwartet hatte!

Es war nicht meine Art, derartige Empfindungen herauszulassen, also fraß ich meine Wut in mich hinein. Viel zu oft ertappte ich mich dabei, wie ich mir vorstellte, dass ich meinen Arbeitgeber mit Gewalt für seine Verlogenheit büßen ließ, und jedes Mal erschreckten mich diese Fantasien aufs Neue. Erstmals hatte ich Angst vor mir selbst und wurde der Lage nicht mehr Herr. Meine verstorbene Frau hätte es mit Sicherheit nicht gutgeheißen und die Situation sachlich zu ergründen versucht, aber mir fehlte es gerade zu diesem Zeitpunkt an klarem Menschenverstand, weshalb ich meine Sorgen auf andere Art und Weise von mir fernhielt.

Ich trank. Liter um Liter spülte ich die Trauer mit Alkohol hinweg, bis nur noch Leere übrigblieb, und ich alleine in der einst gemütlichen und belebten Wohnung saß. Alles wirkte kalt und fremd ohne sie. Damals lernte ich zum ersten Mal, die Menschheit für eines ihrer Laster zu hassen, auch wenn mir längst nicht das Bild vor Augen schwebte, das ich mittlerweile kenne.

Die Situation entzog sich schnell meiner Kontrolle, und die nächsten Wochen über verging kein Tag, an dem ich nicht trank. Irgendwann artete es aus, und ich wurde zu meinem Arbeitgeber ins Büro bestellt. Die Wut war weg, die Abscheu hingegen immer noch so präsent wie nach der Erkenntnis, dass er die Schuld am Tod meiner Frau trug. Es war ein kurzes Gespräch, während dem er mir nicht ein einziges Mal in die Augen sah und mir in nüchternem Tonfall zu verstehen gab, mein Verhalten wäre für das Unternehmen nicht länger tragbar.

Damit stand auch ich auf der Straße, und das wegen seiner Unmenschlichkeit. Eine Sache stand fest: ich brauchte Hilfe!


Mir fiel kein anderer Ausweg ein, als einen alten Weggefährten anzurufen und ihn um seinen Beistand zu bitten. Wenigstens in ihm hatte ich noch einen treuen Freund, der am gleichen Abend vor der Tür stand und bei mir bleiben wollte, bis es mir einigermaßen gut ging. Was hielt ihn auch davon ab? Er lebte alleine und hatte wie so viele zu dieser Zeit keine Arbeit, der er nachgehen musste. Meine Gesellschaft, so traurig mein Zustand auch sein mochte, tat im Endeffekt auch ihm gut.

Mit einer gewissen Bestürzung betrachtete er die angebrochenen und leeren Flaschen auf dem Wohnzimmertisch, auf dem Boden und allgemein überall. Die Verwunderung stand ihm ins Gesicht geschrieben, immerhin kannten wir uns bereits seit vielen Jahren, und in einem derartigen Zustand war ich ihm bisher nie unter die Augen getreten.

Es war lange her, seit wir wirklich miteinander geredet hatten, Arbeit und Familie kosteten viel Zeit, aber an diesem Abend sprachen wir bis tief in die Nacht hinein. Es tat gut, einen Menschen um mich zu haben, dem ich bedingungslos vertraute und dessen Worten ich gerne Gehör schenkte.

Es dauerte ein paar Tage bis ich wieder lebensfähig war. Der Schmerz saß weiterhin tief, doch ich war bereit, es erneut zu versuchen. Ausgedehnter Alkoholkonsum war keine Lösung, also ließ ich die Trinkerei auf seine Bitte hin sein. Kurz danach überwand ich mich dazu, mir eine neue Arbeit zu suchen und dabei wieder Gutes von meinen Mitmenschen zu erwarten.

Zwar war ich weit davon entfernt, dass es mir gut ging, aber irgendwo kehrte langsam die Freude in mein Leben zurück. Einen großen Dienst tat mir dabei auch weiterhin mein alter Vertrauter, der mich mehrmals die Woche besuchte, um sich die Zeit zu vertreiben und mit mir über alle möglichen Dinge zu reden. Mehr als nur einmal dankte ich ihm für seine Unterstützung, doch er bestand stets darauf, das alles sei selbstverständlich gewesen.

Die folgenden Jahre standen wir in engem Kontakt zueinander, und während ich mich durch die verschiedensten, unterbezahlten Jobs schlug, ließ er sich auf Anraten seines Bruders hin zum Soldaten ausbilden. Gute Bedingungen lockten zu diesem Zeitpunkt scharenweise Rekruten an, und nur ein Bruchteil davon wurde in die Krisengebiete entsandt. Manchmal fragte ich mich, ob ich dort nicht ebenfalls mein Glück versuchen sollte, aber alleine durch mein fülliges Äußeres tat ich den Gedanken stets als absurd ab.

Zumindest war es meinem Freund hin und wieder möglich, mir einen Besuch abzustatten, sodass wir uns auch persönlich trafen, statt nur Nachrichten auszutauschen. Sein damaliges Leben hörte sich tatsächlich recht angenehm an. Neben einer Stange Geld überließ man ihm eine Menge Freiheiten und Privilegien, von denen ich als normaler Angestellter bloß träumen konnte, aber ich schätzte das Militär nicht sonderlich.

Eine Sache hielt ich mir ständig vor Augen: es hat seinen Grund, derart lockere Bedingungen aufzustellen, und folglich war mein Vertrauen in die Obrigkeit nicht sonderlich groß. Mein Gefährte sah die Dinge anders. Er hatte seit jeher ein überschwängliches Maß an Heimatliebe mit sich herumgetragen, und von meinen Einwänden wollte er daher verständlicherweise nichts wissen. Ich hätte meinen Worten Nachdruck verleihen sollen.

Irgendwann, nachdem er seine Ausbildung vollendet hatte und Soldat geworden war, erfuhr ich in den Nachrichten davon, bevor er mir die folgenschwere Neuigkeit übermittelte. Unzählige Truppen wurden urplötzlich nach Südamerika geschickt, weil sich dort eine terroristische Untergruppe gebildet hatte und neben Drohungen gegen die großen Nationen auch ihre eigenen Landsleute unterdrückte. Ich hatte Angst um meinen Gefährten, denn der Tod meiner Frau war längst nicht vergessen, und noch einen derartigen Verlust wollte ich unbedingt vermeiden. Meine Warnungen fanden kein Gehör.

„Es ist wirklich nicht so schlimm. Ich habe mich mit den anderen Soldaten über den weiteren Verlauf unterhalten, und wir sollen an sich nur da unten Stellung beziehen, um der Sache durch zahlenmäßige Überlegenheit ein Ende zu bereiten. Ein paar Monate, länger bin ich sicher nicht weg, also mach dir keine Sorgen.“

Ich versuchte es zumindest, aber spätestens durch eine Nachrichtensendung zwei Wochen nach dem Aufbruch meines Freundes wurde ich unruhig. Unsere Männer machten nicht gerade den Eindruck, die Situation unter Kontrolle zu haben, und die Zahl der Toten erschütterte mich jedes Mal aufs Neue. Abend für Abend bat ich meinen Bekannten um Rückmeldung, damit ich um sein Wohl wusste. Manchmal befand er sich in einem Gebiet ohne Empfang, und ich musste mir tagelang ins Gedächtnis rufen, dass seine ausstehende Antwort nicht zwangsläufig etwas bedeutete.

Immerhin schlug er sich tapfer durch die widrigen Umstände, und sein Optimismus blieb ungebrochen. Statt toter Kameraden erwähnte er mir gegenüber seine herausragenden Leistungen und verschiedene Blödeleien innerhalb seines Trupps. Es tat gut, weiterhin um seinen Humor zu wissen, denn erst wenn dieser nicht mehr da war, ging es ihm wirklich schlecht.

So war es auch eine Weile später. Die Nachricht war knapp und ohne persönliche Note: „Meinen Bruder hat es erwischt. Er wurde bei einem Routineunterfangen aus dem Hinterhalt erschossen.“ Mit Bestürzung las ich diese Worte und verlor damit endgültig die Geduld. „Lass es sein und komm schnellstmöglich zurück, bevor es dir auch so ergeht. Niemand kann dich zwingen, dort zu bleiben!“ Bevor ich meine Antwort abgeschickt hatte, wusste ich bereits, dass er sich nicht überreden lassen würde. Der Mann war ein Dickkopf, der nicht zum ersten Mal geradewegs ins Verderben lief, nur war es diesmal ernst, und er riskierte sein Leben.

„Vergiss es. Diese Hunde werden dafür bezahlen, was sie meinem Bruder angetan haben.“ Am selben Abend führte ich ein längeres Telefonat mit ihm, doch es war sinnlos. Bereits zu diesem Zeitpunkt hätte ich mich auch auf seinen Tod einstellen sollen, aber dazu war ich nicht in der Lage. Die törichte Hoffnung, sein närrisches Glück würde ihn schon dort herausholen, war nicht unterzukriegen, obwohl ich um seine mangelnde Denkfähigkeit wusste, wenn er wütend war.

Selbst fernab der Kriegsbedingungen hätte er Monate, wenn nicht Jahre gebraucht, um sich wieder zu beruhigen. Wie es allerdings unter den dortigen Umständen aussah, von seinesgleichen umgeben, wollte ich mir nicht vorstellen. Mit wachsender Sorge verfolgte ich jeden Abend die Nachrichten und hoffte auf gute Neuigkeiten, doch sie kamen nicht. Mehr Tote, unerwartete Wendungen und Propaganda, andere Berichte waren nicht zu finden.

So vorhersehbar es eigentlich war, wollte ich es dennoch nicht wahrhaben, als wieder einmal über Wochen hinweg keine Antwort auf meine Nachrichten mehr erfolgte. Ich ließ ihm weitere Mitteilungen zukommen und fragte Tag für Tag, was passiert war, aber es kam einfach nichts mehr. Auch er war jetzt weg, und ich stand wieder alleine da.

Ich tat mir damit keinen Gefallen, doch ich verfolgte weiterhin alle verfügbaren Nachrichten aus den Kriegsgebieten, bis irgendwann die Wahrheit ans Licht kam. Die ganze Zeit über hatte ich es gewusst: unter Vorspielung falscher Tatsachen waren ahnungslose Kerle wie mein Freund ins Verderben gelockt worden, weil in der umkämpften Gegend wertvolle Rohstoffe gefunden wurden.

Selbstverständlich wurde die Entdeckung letzterer als glücklicher Zufall betitelt, doch in Wahrheit waren sie der Grund für die zahlreichen Toten. Im Endeffekt hatte unser Land den Sieg davongetragen, und die führenden Persönlichkeiten klopften sich mit einem selbstgefälligen Lächeln gegenseitig auf die Schulter, während sie von einem großen Dienst für das Land sprachen und den Hinterbliebenen der Toten gegenüber ihr Mitgefühl aussprachen.

An den darauffolgenden Tagen trank ich wieder und erinnerte mich dabei voller Ekel an das Telefonat mit meinem Freund kurz nach dem Ableben seines Bruders. Genauer kam mir dauernd sein Monolog in den Kopf, der Antwort auf mein Flehen nach seiner Rückkehr gewesen war.

„Du verstehst nicht, was in mir vorgeht! Ich kann nicht weglaufen, nachdem sie meinen Bruder erwischt haben! Er würde mir diese Feigheit nie verzeihen, und auch ich könnte nicht mehr in den Spiegel sehen. Wenn jemand den Tod nicht verdient hat, dann er. Du kennst ihn nicht so, wie ich ihn kenne, und glaube mir, er würde sich wünschen, dass ich bleibe. Einen tapfereren Menschen als ihn hat es nie gegeben, und dieses Erbe muss ich nun weitertragen!

In nächster Zeit wird unser Trupp häufiger Offensiven unternehmen, das ist meine Chance, um ihn in Ehren zu halten. Er hat für unser Land gekämpft und ist dabei gefallen, ich dagegen werde beenden, was er angefangen hat! Natürlich wirst du jetzt gerade energisch den Kopf schütteln, aber du hast nie verstanden, wie wichtig mir mein Nationalstolz ist. Hier geht es nicht um einzelne Leute wie dich und mich, sondern um alle, und wenn der Gerechtigkeit ein Dienst getan werden soll, so muss ich erhobenen Hauptes für mein Land eintreten.

Wir werden voneinander hören, sobald ich nach unserem Sieg zurückkehre. Vielleicht wirst sogar du dann endlich einsehen, was ich geleistet habe. Bis dahin mach dir keine Sorgen um mich, die oberen Reihen sind sehr zuversichtlich, dass es nicht mehr lange dauern wird. Aber selbst wenn ich fallen sollte, wird mein Opfer zum größeren Wohl beitragen. Ich muss jetzt gehen, wir sprechen später nochmal.“

Eine weitere Unterhaltung hatte es nie gegeben, und sein Tod war so sinnlos wie auch die aller anderen Soldaten. Diesmal setzte mir der Verlust weniger stark zu, aber verzeihen konnte ich trotzdem nicht. Wegen politischer Spielereien waren er und seine Gefährten geopfert worden, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wofür sie da genau eintraten.

Er hatte geglaubt, unter der Fahne unserer Nation für das Wohlergehen des Volkes einzutreten und dadurch die Welt zu einem besseren Ort zu machen, aber was war jetzt davon übrig? Durch die neuen Ressourcen wurde ein weiteres Land ausgeschlachtet, und in unseren Gefilden ließ sich das Leben im Überfluss ein paar Jahre mehr aufrechterhalten. Es waren nur Illusionen gewesen, welche dazu dienten, gutgläubige, tapfere Männer als Schachfiguren zu opfern, damit es dem ohnehin sorgenlosen Bruchteil der Bevölkerung noch besser ging.

Alleine deshalb hatte er sein Leben gelassen. Er war eines der vielen Opfer der Politik geworden, gestorben für nichts und wieder nichts. Aber niemand lehnt sich gegen dieses faule Spiel auf, obwohl dadurch die Menschheit als Ganzes leidet. Die Kriege werden auch in Zukunft stattfinden, und die Situation wird sich dadurch immer mehr verschärfen. Wo sind die klugen Köpfe, die hinter die Kulissen blicken und für eine Änderung eintreten?

Alle schweigen sie nur und unternehmen nichts dagegen, wie sich die Lage weiterhin verschlimmert, und wir Menschen das eigene Grab schaufeln. Lange kann es so nicht mehr gehen, bis Armut und Verachtung einmal ihr vernichtendes Potenzial explosionsartig entfalten. Erst dann werden die Leute aufwachen und sich fragen, wie es überhaupt dazu kommen konnte! Leider wird es dann zu spät sein.

Nach dieser zweiten Tragödie war ich ein gebrochener Mann, doch ein Mindestmaß an Hoffnung blieb mir noch. Die Welt hatte mich abermals enttäuscht, und ich war wieder einsam, allerdings war es nicht meine Art, mich unterkriegen zu lassen. In meiner närrischen Gutgläubigkeit hoffte ich, dass es vielleicht irgendwann wieder aufwärts ging, aber mittlerweile kenne ich die traurige Wahrheit.


Seit diesen Ereignissen zogen etliche Jahre ins Land, und doch kam ich nie vollkommen darüber hinweg. Stattdessen versuchte ich, in einem anderen Bereich meines Lebens wieder Erfüllung zu finden, indem ich mich vollends in die Arbeit stürzte. Es gab allerdings einen Unterschied: diesmal wollte ich durch mein Tun etwas erschaffen, auf das ich stolz sein durfte.

In Italien gab es eine Menge Gebiete, wo die Leute mangels ansässiger Firmen und aufgrund des ungünstigen Klimas in Armut leben mussten. Es verblüffte mich immer wieder, in historischen Dokumenten darüber zu lesen, wie wohlhabend die betreffenden Regionen nach der Jahrtausendwende noch gewesen waren, schließlich gab es dort mittlerweile bloß Staub und Verfall.

In dieser Gegend erhoffte ich mir eine Ablenkung, indem ich jenen Menschen half, denen es noch weitaus schlechter ging als mir. Durch meine schulische Ausbildung war ich der Sprache mächtig und begab mich in den sonnigen Süden, kaum waren die nötigen Vorbereitungen getroffen.

Meine Bemühungen waren anfangs nichtig gewesen, doch über die Jahre hinweg gelang es mir, eine Menge zu bewirken und Erfüllung in meinem Handeln zu finden. Die Leute dankten mir für meine Unterstützung und respektierten mich dafür, dass ich ihnen im Gegensatz zur Oberschicht tatsächlich unter die Arme griff, statt sie ihrem Schicksal zu überlassen.

Besonders die Sommer sind mir in schlechter Erinnerung geblieben, denn mehr als einmal musste ich um meine Gesundheit bangen, während ich in der sengenden Sonne vollkommen schutzlos arbeitete und mir im Sekundentakt den Schweiß von der Stirn wischte. Nicht selten beschlich mich dabei die Absicht, einfach in meine bequeme Heimat zurückzukehren und das Leid der Bedürftigen auszublenden, wie es alle anderen auch taten.

In diesen Momenten gelang es mir dennoch, die Zähne aufeinander zu beißen und aller widrigen Umstände ungeachtet in diesem Sumpf bestehend aus Armut und sozialen Missständen zu bleiben. Schlimmer als das unmenschliche Klima waren dabei die Erdbeben. Mehrmals jährlich zitterte der Boden und brachte eine Welle der Zerstörung mit sich, gegen die niemand etwas unternehmen konnte.

Wir waren es gewohnt, danach jedes Mal quasi von vorne anfangen zu müssen, aber wir ließen uns nicht unterkriegen und arbeiteten umso härter. Es war nicht bloß die Gewissheit, anderen zu helfen, die mich in diesem lebensfeindlichen Gebiet hielt, sondern die Leute selbst. Ich hatte neue Freunde gewonnen, denen ich bedingungsloses Vertrauen entgegenbrachte, und mir somit ein vollkommen neues Leben aufgebaut.

Der Umgang miteinander war einfach und deshalb erfrischend anders im Vergleich zu meinem zurückliegenden Alltag. Hier gab es weder Profitgier, noch Kriege. Man half einander und wusste das Leben trotz der vielen Beschwerden zu schätzen, und so gewann auch ich neuen Mut und fand zurück zu meinem alten Glück. Sehr oft fragte ich mich, warum es nicht überall in der Welt so sein konnte, denn Bescheidenheit war dem größten Teil meiner früheren Mitmenschen leider ein Fremdwort. Jeder wollte immer nur mehr und mehr, was dazu führte, dass Gegenden wie diese vollkommen verwahrlost waren.

Dabei lauschte ich oft den Erzählungen der Leute, die ich unterstützte. Zuerst war in dieser Gegend der Wohlstand gewesen, danach ein von Banden und Kriminalität dominiertes Leben in Angst und Schrecken und schlussendlich das friedliche Miteinander, welches ich so sehr schätzte. Sobald das Geld einmal vollständig gefehlt hatte, und es allen schlecht ergangen war, hatten sich die Leute wieder auf das Wesentliche besonnen, und genau diese Mentalität genoss ich in vollen Zügen.

Selbstverständlich war ich nicht vollkommen auf mich alleine angewiesen, sondern leitete eine kleine Hilfsorganisation, die sich über Gelder der Regierung finanzierte. Es war ein hartes Unterfangen gewesen, mir diesen Zuschuss zu sichern, aber irgendwann hatte das unermüdliche Klinkenputzen doch den gewünschten Erfolg mit sich gebracht. Auf diese Weise hatte ich die Möglichkeit, für den Erhalt einer rudimentären Infrastruktur zu sorgen und wieder Wert auf Bildung und dergleichen zu legen, auch wenn die finanziellen Mittel vorne und hinten nicht reichten.

Fast ein Jahrzehnt funktionierte es ausgesprochen gut, und ich genoss mein Lebenswerk, war seitdem nicht in Depressionen verfallen und sah optimistisch in die Zukunft. Ich bin heute unendlich dankbar für diese Zeit, immerhin war ich nicht nur wieder auf die Beine gekommen, sondern half auch den Leuten dabei, ein besseres Leben zu führen. Es war anders, in dieser Region zu leben, und somit hatte ich eine Menge hinzugelernt, was mir dabei half, ein besserer Mensch zu sein. Mein neues Denken hätte ich nie wieder missen wollen, aber wie immer kam alles anders.

Der Hochsommer setzte uns gerade mit einer ausgedehnten Dürreperiode zu, während ich einen Großteil meiner verfügbaren Gelder in Trinkwasser und frische Nahrungsmittel investierte, damit wir nicht verhungerten. In Zeiten wie diesen wurde tagsüber in unseren stickigen Unterkünften geschlafen, und des Nachts begann die kleine Ortschaft aufzuleben, um mit allen Mitteln der Hitze entgegenzuwirken. Die Felder waren vor Jahren unbestellbar geworden, und wir versuchten trotz der Trockenheit, sie wieder bebaubar zu machen. Eine Knochenarbeit, die sich in der Zukunft zweifellos auszahlen würde.

Dass die Erde erzitterte, war nicht ungewöhnlich. Mit welcher vernichtenden Intensität sie es diesmal tat dagegen schon. Kaum hatte mich das Beben aufgeweckt, flüchtete ich instinktiv ins Freie, da meine schlichte Unterkunft dieser Katastrophe nichts entgegenzusetzen hatte. Ich war gerade erst durch die Tür gestürmt, und schon überholten mich die Staubwolken, als mein Heim lautstark in sich zusammenbrach und damit Panik in mir weckte.

Dies überstieg alles bisher Dagewesene. Schreie hallten durch die abendliche Dämmerung, während sich die gesamte Bewohnerschaft auf den Straßen versammelte. Kinder riefen heulend nach ihren Eltern, und das Zittern hielt an. Ich durchlebte Angstzustände wie nie zuvor in meinem Leben, bis ich schließlich stürzte und von den Schmerzen wachgerüttelt wurde. Dabei hielt ich mir immer wieder vor Augen, was ich über Erdbeben gelernt hatte: sie dauerten nicht lange an, brachten aber in der Regel Nachbeben mit sich. Diesmal hingegen hatte ich den Eindruck, es würde Ewigkeiten dauern, bis der Schrecken ein Ende fand.

Danach kehrte die Ruhe zurück. In Wirklichkeit hörte ich aus allen Richtungen verzweifelte Rufe von Eltern, die nach ihren Kindern suchten, aber es ging an mir vorbei. Ich dachte an die Zukunft: um diese Jahreszeit ohne Obdach zu sein, war fatal. Es gab keinen Schutz vor der Sonne, und ich bezweifelte, dass sich aus den Ruinen die nötigen Schattenquellen für eine ganze Siedlung herrichten ließen. Auch meine digital abgespeicherten Unterlagen waren verloren, wo ich sämtliche Informationen über die finanziellen Unterstützungen abgespeichert hatte.

Ich blieb liegen, bis mich jemand energisch dazu aufrief, eine Hand anzupacken, da in einem der benachbarten Häuser jemand eingeklemmt war. Erst in diesem Moment wichen die Schwarzmalereien aus meinem Kopf, und ich wurde mir der Gegenwart wieder bewusst. Soeben war jede Hilfe wichtig, damit den Verletzten geholfen wurde.

Eilig lief ich zum eingefallenen Gebäude, unter dessen Trümmern der Unterleib eines älteren Mannes eingeklemmt war, der unablässig schrie und um Hilfe bat. Ich verlor keine Zeit, sondern gesellte mich sofort zu jenen Leuten, die fleißig das schwere Gestein von ihm zu heben versuchten. Kaum hatten wir es geschafft, und der arme Kerl war auf die Straße gezogen worden, überhörte ich wohl den warnenden Ruf.

Hinter mir gab ein Stück der Seitenwand nach, und gerade als ich im Augenwinkel das abbröckelnde Gestein sah und erschrocken die Flucht ergreifen wollte, krachte mir eine massive Steinplatte auf die rechte Kniekehle. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen, und auch ich musste mich befreien lassen, um mich wieder in Sicherheit zu begeben. Auf die Schultern zweier junger Männer gestützt, humpelte ich hinüber zur Straße und entblößte mein Bein, damit sich jemand die Verletzungen ansehen konnte.

Zum Glück musste ich nicht die bestürzten Gesichter sehen, als die Augen aller auf meine zermalmte Wade fielen. Bis hinauf zur Kniekehle hatte ich mehrere Knochenbrüche davongetragen, durch die ich selbst heute nicht mehr gehen kann. Ich wurde angewiesen, mich zu erholen, während alle anderen Leute den Schaden begutachten und weitestgehend beheben wollten, und dennoch fand ich wegen der unerträglichen Schmerzen keinen weiteren Schlaf.

Bei jedem Nachbeben war mir, als würden sich die Knochensplitter in mein Fleisch bohren und sich willkürlich neu anordnen, wobei ich mehrere Male laut schrie, bis jemand zu mir eilte und mich abzulenken versuchte. Alkohol gab es keinen, mit dem man mich von den Leiden hätte erlösen können, und so musste ich über mehrere Stunden hinweg alleine gegen die Schmerzen kämpfen. Während dieser Zeit erkannte ich, dass ich unbedingt in ein Krankenhaus musste, auch wenn ich die Leute auf diese Weise im Stich ließ.

Am Morgen wurde ich mitsamt dreier anderer Verletzter von einer meiner Hilfskräfte mit dem einzigen Gefährt des Dorfes in die nächste größere Ortschaft gefahren, damit sich ein Fachmann unsere Beschwerden ansah. Meine Diagnose erfüllte sämtliche Befürchtungen: ich musste dringend zurück nach Hause, wo sich Experten mit mehr Erfahrung auf dem Gebiet fanden, ansonsten würde sich mein Bein zu einem ernsthaften Problem entwickeln. Damit war die Seifenblase geplatzt, und mein Glück wurde mir abermals entrissen.

Zurück in der Zivilisation folgten mehrere Krankenhausaufenthalte, während derer ich erbitterte Versuche unternahm, mir einen finanziellen Zuschuss für den Wiederaufbau der Ortschaft zu sichern. Sämtliche Anträge wurden abgelehnt, und schlussendlich kam diese Nachricht, die all meine Hoffnungen wie ein lästiges Insekt zertrat.

Es waren ein paar Sätze, eingebettet in formales Geschwätz, die erneut alles zerstörten: „Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass aufgrund einer Umstrukturierung unserer Inverstitionen leider keine weiteren Gelder für Ihr Projekt verfügbar sind. Alle weiteren Bemühungen erfolgen entweder durch einen finanziellen Einsatz von Ihrer Seite, oder aber Sie müssen Ihre Arbeiten einstellen.“

Fassungslos las ich unzählige Male über diese Zeilen und war überhaupt nicht in der Lage, sie zu verstehen. Gerade jetzt war jede erdenkliche Hilfe nötig, um nach dem Beben wieder ein geregeltes Leben zu ermöglichen, und dann ereilte mich dieses unfassbare Schreiben. Wenn niemand den Leuten in Italien half, unterlagen sie mit Sicherheit der Hitze, und genau wie ich hatte keiner meiner Mitarbeiter die Mittel, unsere Hilfen aus eigener Tasche zu bezahlen. Uns blieb nichts anderes übrig, als einfach aufzugeben und die Menschen in der Not ihrem Schicksal zu überlassen.

Mein Bein fesselte mich eine Weile ans Bett, doch zum Glück hatte ich im Krankenhaus die Möglichkeit, mich ganz nach Belieben durch aktuelle Nachrichten zu wühlen. Bereits von der ersten Sekunde an wusste ich, dass es nicht sehr klug war, danach zu suchen, aber es juckte mich in den Fingern. Meine Geldgeber hatten von Umstrukturierungen ihrer Investitionen gesprochen, und genau diese wollte ich ausfindig machen.

Tagelang wühlte ich mich durch etliche Artikel, fertigte Notizen an und war regelrecht versessen darauf zu erfahren, wo meine finanzielle Unterstützung jetzt hinfloss. Das Übermaß an Zeit im Krankenhaus ermöglichte es mir, den ganzen Tag mit meiner Suche zu verbringen, wobei sich die Artikel über das Beben in Italien an einer Hand abzählen ließen, schließlich war nur eine der armen Regionen betroffen gewesen.

Irgendwann wurde ich fündig und konnte gar nicht erst begreifen, was ich da sah. Meine Geldgeber hatten angekündigt, anlässlich des Nationalfeiertages diesmal in mehreren Städten für ein gigantisches Feuerwerk zu sorgen, um den Zusammenhalt innerhalb unseres Landes zu stärken. Ich war viel gewohnt und verstand Motive wie Geldgier und dergleichen, aber notwendige finanzielle Mittel zu streichen und einfach in bunte Raketen zu stecken, war für mich der Gipfel. Wurden tatsächlich in vollstem Bewusstsein Menschenleben geopfert, um stattdessen bunte Raketen zu kaufen? Den ansässigen Bürgern ging es ohnehin gut, warum war es also notwenig, endlose Gelder in ein ebenso schönes wie nutzloses Spektakel zu stecken?

Mein Entsetzen war nicht in Worte zu fassen, die Enttäuschung maßlos. An dieser Stelle war mein Weltbild endgültig mit Füßen getreten worden, und ich steckte meine überschüssige Zeit in weitere Nachforschungen. Statistiken, fundierte Artikel, Meinungen unabhängiger Experten, Fakten, Bilder, sie alle sprachen eine deutliche Sprache. Seit Jahrzehnten wurde das Kollektiv immer ärmer und verwahrloster, ganze Regionen wurden plötzlich ignoriert und ihrem Schicksal überlassen, wobei das vorhandene Geld sich innerhalb der gleichen Institutionen sammelte.

Eine Besserung war nicht zu erwarten, immerhin hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie es den wirklich Armen ging, und wie sie dazu standen. Obwohl sie sich mit ihrem Dasein zufriedengaben, war ihr Überleben auf Dauer nicht möglich. Zu sehr hatten die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten ihre Umwelt in Mitleidenschaft gezogen, man erinnere sich nur an alte Berichte aus jener Zeit, wo Italien ein fruchtbares und wohlhabendes Land gewesen war. Mittlerweile lässt sich dort weder Ackerbau, noch Viehzucht betreiben, und ohne moderne Technologie gelingt es den Menschen nicht, sich selbst die folgenden Jahrzehnte über zu erhalten.

Trotzdem gibt es keine Hilfe. Das eigene Wohlergehen steht im Vordergrund, für die Armen interessiert sich niemand, und dabei ist es unser aller Fehler, dass der Boden im nahen Süden zunehmend verdorrt und unwirtlich wird. Ich hatte es versucht und dabei erfahren, wie meine Bemühungen vollkommen ohne Zuspruch blieben.


Bis zum heutigen Tag habe ich eine Erkenntnis erlangt: es wird so weitergehen, bis irgendwann alles zusammenbricht. Die Zahl derer, denen es wirklich gut geht, nimmt immer weiter ab, und alle anderen werden einfach zurückgelassen. Auf diese Weise schaufeln wir unser eigenes Grab, und jeder kann es sehen, bloß besitzt niemand den Mut oder Fleiß, etwas dagegen zu unternehmen.

Der Übergang kommt schleichend, aber er kommt. Es mag nicht auf jeden zutreffen, doch die meisten sind bereit, je mehr sie haben, auch mehr zu opfern. Dieses Verhalten reicht vom aufsteigenden Kleingeist, wie es mein Arbeitgeber gewesen war, der in vollem Bewusstsein das Leben meiner Frau geopfert hatte, bis hoch zu den Machthabern, die unter Vorspielung falscher Tatsachen gleich unzählige Leben zur Erfüllung ihrer Absichten opfern, so auch das meines verstorbenen Freundes.

Warum ist ihnen dieses Verhalten möglich? Wir lassen es alle über uns ergehen, und man müsste meinen, die Zeit für einen Machtwechsel sei gekommen, doch es tut sich nichts. Alle sitzen bloß rum und nicken, während die Zukunft unserer Art bereits zu ihrem Sarg getragen wird. Und was bleibt zurück? Ein toter Planet!

Noch besteht die Chance, etwas daran zu ändern, allerdings lässt es sich nur gemeinsam bewerkstelligen, wenn jeder hilft! Uns bleibt keine andere Wahl, als das Übel in unserer Welt mit vereinten Kräften zu bekämpfen und so vielleicht zu einer Lösung zu finden, mit der wir alle in friedlichem Miteinander leben können. Aber dazu ist es notwendig, dass jeder handelt. Es darf keine Ausnahmen mehr geben, dann ist es zu schaffen!


Damit war der letzte Satz meines Artikels geschrieben. Ich verband eine Menge Gefühle mit dem Text und musste bei der anschließenden Korrektur oftmals innehalten, um die Fülle an Erinnerungen zu verarbeiten. Durch diesen Text sollten die Leute erfahren, was ich durchgemacht hatte, und welche Zukunft sie bald erwartete.

In meinen Worten steckte die Wahrheit, aber ich war überzeugt davon, dass sie niemand erkennen, geschweige denn umsetzen würde. Dabei ließ es sich nicht umgehen, endlich an einem Strang zu ziehen und so gemeinsam aus der Misere herauszurudern. Die anderen mussten endlich anfangen zu handeln, statt immer bloß zuzusehen. Ich war die Scheuklappen und die Trägheit meiner Mitmenschen leid! Gemeinsam war es ihnen möglich, allen korrupten und machtgierigen Führungskräften ihre Autorität abzuerkennen!

Kaum war die Korrektur abgeschlossen, gönnte ich mir ein Glas Wein und machte den Artikel öffentlich zugänglich. Damit war der erste Stein geworfen, und ich lehnte mich genussvoll in Erwartung auf Kommentare und Antworten zurück. Wie sollte auch jemand an meinem Werk zweifeln? Ich wusste schließlich, was ich da geschrieben hatte! Zum Glück war ich ohnehin bereits in die Jahre gekommen und würde nicht mehr viel von der Zukunft mitbekommen, also ging es mich auch nichts an, ob nun jemand meinen Rat beherzigte. Es hing alles davon ab, ob die anderen endlich aktiv handelten, sich auflehnten und nach Lösungen suchten oder bloß faul den Dingen ihren Lauf ließen. Sie mussten etwas bewegen, schließlich waren sie von den Problemen in der Zukunft betroffen, und nicht ich.

 

Der Autor hat zu seiner Geschichte die folgenden Anmerkungen geschrieben:

Kleines Vorwort: hierbei handelt es sich um meine erste Kurzgeschichte, möglicherweise gibt es also noch ein paar Punkte, wo ich mich hätte klüger anlegen können. Folglich bin ich über jede Kritik dankbar und hoffe, dass euch meine Geschichte gefällt. Normalerweise versuche ich mich eher als Fantasyautor, daher ist auch das Thema für mich ungewohnt gewesen, dennoch wollte ich die Geschichte niemandem vorenthalten.

Solche Anmerkungen bitte in Zukunft in einen Extrabeitrag und bitte auch keine Werbung zur Geschichte schreiben.
Viele Grüße und viel Spaß hier wünscht dir Novak

 

Hallo,

du schreibst nicht szenisch, sondern wie in einer Kolumne, und der Tonfall ist angestaubt und fast pastoral. Ich hab die ersten vier, fünf Absätze gelesen und fand nichts originelles oder schön formuliertes darin. Sondern es klingt alles wirklich furchtbar altbacken und genäselt.

Das Leben hat mir viele Erfahrungen geschenkt, und je mehr ich sehen musste, desto stärker wurde die traurige Überzeugung, dass wir kurz vor der Vollendung unseres eigenen Grabes stehen.
Das ist ein Satz. Der ist auch, für sich genommen, okay, den könnte man als Einstieg zu einer Geschichte verwenden, wenn danach jetzt Dynamik kommt und die Geschichte losgeht. Aber vor und hinter dem Satz steht genau dieselbe Aussage noch 30mal. Davor steht dasselbe und dahinter steht dasselbe. Und es ist nicht spannend. Es ist nicht gut formuliert.
Eine Kurzgeschichte hat einen direkten Einstieg. Die soll gleich anfangen und nicht mit einem fünf Absätze währenden Intro. Du musst um den Leser werben mit solchen Sachen verprellst du ihn ,jedenfalls mich.

Ihre Krebserkrankung war ein schwerer Schlag für uns beide. Plötzlich musste sie den Tod fürchten, und ich wurde vom Gedanken heimgesucht, meine Geliebte und gleichzeitig den Mittelpunkt meines Lebens zu verlieren. Es war eine harte Zeit, doch die Hoffnung bestand, sie gemeinsam durchzustehen.
Da kommt überhaupt nichts bei mir als Leser an. Die Distanz ist zu groß und jedes Schicksal wird mit ausreichender Distanz austauschbar und banal. Dann liest sich das wie ein Einkaufszettel: Vor 100 Jahren lebte der Schuster Willhelm, er war nicht sehr klug, hatte aber eine liebe Frau, die starb dann an Krebs und er hat sich aufgehängt. Gibt dir das was? Es ist einfach ein Name, ein Schicksal, völlig losgelöst, nicht sehbar, nicht erlebbar, Achselzucken.
In einer Geschichte geht es um Kontext, Kontext, Kontext. Erst im Zusammenspiel mit den anderen Sätzen, mit dem Inhalt, wird ein Satz gut, Text heißt Geflecht, ein Geflecht von Sätzen, von Inhalten, die formen dann eine Geschichte. Und der Schuster WIllhelm wird mit Satz um Satz greifbarer und klarer und sein Schicksal interessiert den Leser mehr und mehr. Ein einzelner Satz leistet gar nichts. Und die Zusammenfassung von Ereignissen und Personen leistet auch überhaupt nichts.


Unbedingt, wenn man erzählen will, aus diesem Berichts-Tonfall raus. In dem geht überhaupt nichts. Da gehen auch keine Facebook-Postings. Weil's keiner lesen will.

Es gibt sowas wie "Lesegenuß", das heißt nicht, dass man die Botschaft eines Textes mögen muss, dass sie affirmativ sein sollte oder was weiß ich, ein Text darf den Leser ruhig aufrütteln und angehen (wobei viel mehr Leute denken, sie tun das mit ihren Texten als es wirklich welche tun), aber ein Text sollte sich schon schön machen, verführen, locken, Spannung aufbauen, kleine Reize setzen. Der Berichtsstil killt das alles. Das ist der große Gleichmacher. Wenn man aus großer Distanz erzählt - wie einige der alten Meister - hat man nur noch die Sprache als Gestaltungsmöglichkeit, den persönlichen Stil und das ist mal richtig schwer.
Wenn man Geschichten schreiben will, geht es nicht - wie beim Blog oder so - NUR um Gedanken oder um den Inhalt, sondern es geht auch um Erzählstruktur, um Aufbau, ums schreiberische Handwerk und um Stil. Und auch die meisten "bunten" Blogs, die funktionieren und Leser haben, beachten das. Vielleicht gehen knochentrocke Fakten-Blogs ohne.

Und was halt gar nicht gut kommt, ist dieses "Ich poste den Text hier, weil ich Werbung für meine Facebook-Seite machen will" - das ist doch klar, wen juckt denn deine Facebook-Seite hier? Wir haben hier eine Webseite, auf der wir über Texte reden wollen, und wenn jemand kommt, seinen Text hier rein wirft und sagt: "Ich bin dann wieder bei mir, kommt mich mal besuchen!" - was ist das denn für ein Verhalten auch? Geh mal in die Kneipe, lehn dich in den Türspalt, ruf "Übrigens bei uns im Vereinsheim gibt es heute Dosenbier!" und geh dann langsam raus. Was meinst du, wie toll das der Wirt finden wird?
Die Seite hier lebt von Leuten, die herkommen, über ihre Texte reden wollen und sich für die Texte anderer interessieren. Leute, die hier nur Werbung, für ihren eigenen Kram machen wollen - tjo. Ich glaub das kommt nirgendwo im Internet gut an.

Ich hab langsam das Gefühl man könnte ein Vermögen machen, wenn man Bloggern und Facebookseiteninhabern mal einen Schreibskurse andrehen könnte. Da ist bestimmt richtig Geld zu holen. Oder Ghostwriter für Blogs. Sowas gibt's bestimmt schon.

Gruß
Quinn

P.S.:

dennoch wollte ich die Geschichte niemandem vorenthalten.
Mal auf der Zunge zergehen lassen!

 

Hallo Quinn! Erst einmal möchte ich mich für deine Meinung bedanken und mich bei dir und Novak kurz für den Verweis auf meine Facebook-Seite entschuldigen! Ich hatte keinesfalls vor, meine Geschichte bloß hier reinzuwerfen und möglichst ein wenig Aufmerksamkeit abzustauben. Dieses Forum war mir nur vorher noch nicht geläufig, weshalb ich mich jetzt erst angemeldet habe, und da habe ich mich einfach von der Versuchung mitreißen lassen, auch gleich auf meine anderen Inhalte hinzuweisen.

Nun zu deiner Kritik: die Distanz und der Mangel an Dynamik sind da, und ich hatte die Einleitung, sowie einen Großteil der Geschichte in der Tat so gestalten wollen. Scheinbar bin ich dabei allerdings meilenweit über mein Ziel hinausgeschossen, gerade weil der Vergleich zum Blog auch ins Schwarze trifft – in dieser Sparte habe ich mich in der jüngsten Vergangenheit häufiger versucht.

Normalerweise versuche ich mich eher an längeren Geschichten, insofern war dieser Text in dreierlei Hinsicht schwierig für mich: einerseits war es eben der erste Versuch, gleichzeitig habe ich auch vom Genre her Neuland für mich betreten, und zuletzt wollte ich noch am Stil herumexperimentieren. Vielleicht klappt es ja beim nächsten Versuch besser, wenn ich die erhaltene Kritik einfließen lasse. Bis dahin werde ich allerdings mit Sicherheit hier noch andere Geschichten lesen und versuchen, dort zu lernen oder ein paar Denkanstöße von meiner Seite her zu geben.

Ps: die Formulierung war wirklich denkbar schlecht gewählt, da hast du recht!

 

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