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- 22.07.2013
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Der Beistand
Es war Abend. Die Sonne versank langsam am Horizont des roten Himmels. Es war ein Schauspiel der besonderen Art, das man nicht alle Tage zu sehen bekam. Dies war ihm sehr bewusst, und deshalb genoss er es auch umso mehr, denn es sollte das letzte Mal sein, dass er dieses wunderschöne Naturschauspiel zu sehen bekam.
Vieles, was er früher als selbstverständlich ansah, genießt er heute so sehr, wie diesen Moment, denn jetzt ist ihm - im Gegensatz zu früher - bewusst, wie vergänglich alles ist. Dieser wertvolle Gedanke, dieser einfache und doch so wertvolle Gedanke lehrt einem, die kleinen Freuden des Alltags zu sehen und wertzuschätzen. Aber egal wie groß dieses Wertschätzen auch sein mag, es wird niemals an seine Wertschätzung heranreichen. Denn er hatte eine Erfahrung gemacht, die niemand auf der Welt sonst, außer seine Leidensgenossen, gemacht hat oder jemals machen wird. Diese eine Erfahrung, die ihn vom Rest der Welt trennte, war jene, dass er in der Todeszelle eines Gefängnisses saß.
Viele meinten, dass er nun seines Lebens nicht mehr froh werden würde, niemals mehr.
Aber das stimmte nicht, im Gegenteil. Er genoss jeden einzelnen Tag, den er auf dieser herrlichen Erdkugel verbringen durfte, umso mehr. Schließlich wusste er, dass jeden Moment die Wärter kommen könnten, um ihn in seinen Tod zu führen. Doch diesen Gedanken verdrängte er, denn er würde seinem Glück schaden.
Am Abend, als er wieder einmal in seine Zelle zurückkehrte, kam ein Wärter zu ihm und fragte ihn, wen er bei seinem Tod dabeihaben wollte.
Als er das vernahm, war ihm sofort klar, dass diese Nacht seine letzte sein würde. Dennoch hatte er einen erholsamen und entspannten Schlaf.
Am nächsten Morgen kamen die Wärter und überreichten ihm sein Frühstück. Es war üppig, viel üppiger als sonst, denn es war seine Henkersmahlzeit.
Jetzt war es halb Zehn, sein Tod, so sagten die Wärter, wäre für halb Zwölf geplant, also hatte er noch zwei Stunden zu leben.
Diese letzten zwei Stunden wollte er alleine im Park verbringen, denn er wollte die Wunder der Natur noch ein letztes Mal bestaunen. Egal wo er in zwei Stunden sein würde, so etwas Schönes wie hier, wird es dort nicht geben, davon war er fest überzeugt.
Er dachte an seine Hinrichtung, sie würde auf dem elektrischen Stuhl stattfinden, kurz und schmerzlos, wie die Wärter sagten.
Er wünschte sich nicht viel, nur dass seine Eltern anwesend sein würden, denn er liebte sie über alles, auch wenn sie ihn verstoßen hatten, denn er hatte schlimme Dinge getan.
Sie hatten Recht, er hatte schlimme Dinge getan, sonst würde er nicht in der Todeszelle sitzen. Doch er hoffte innig, dass seine Eltern ihn trotz allem, was vorgefallen war, auf diesem letzten, schweren Weg begleiten würden. Nichts wünschte er sich sehnlicher.
Dann war es soweit, seine Zeit ging zu Ende. Die Wärter kamen zu ihm. "Nun ist es Zeit, zu gehen.", hatten sie gesagt.
Er folgte ihnen wortlos zum Stuhl.
Der Raum war dunkel, lediglich eine alte, kleine Lampe erhellte ihn etwas. Neben seinem Stuhl standen zwei weitere, sie waren für seine Eltern und sie waren leer.
Es war elf Uhr achtundzwanzig und seine Eltern waren noch nicht da. "Sie kommen bestimmt noch.", dachte er, sich immer an diese eine Hoffnung klammernd.
Elf Uhr dreißig, der Zeitpunkt seines Todes.
"Es ist soweit.", sagten die Wärter und baten ihn, sich auf den Todesstuhl zu setzen.
"Bitte warten Sie noch fünf Minuten, meine Eltern kommen sicher gleich.", flehte er die Wärter an.
Sie willigten ein, schließlich war es sein letzter Wunsch.
Doch auch um elf Uhr fünfunddreißig waren die Stühle unbesetzt.
"Es tut uns leid, aber Ihre Zeit ist gekommen", sagten die Wärter und einer legte seine Hand auf den Hebel.
"Bitte, noch fünf Minuten, sie kommen sicher noch, ganz sicher, bitte warten Sie noch, bitte...", flehte er, doch die Wärter betätigten den Hebel und ein Blitz durchfuhr seinen Körper.
Und das Letzte, was er sah, waren die leeren Stühle, auf denen seine Eltern ihn geleitet hätten, auf diesem schwersten aller Wege.
Doch sie waren nicht gekommen, er musste diesen Weg allein beschreiten.