Der Beifahrer
Die Scheibenwischer quietschten. Regnete es stark genug, dann hörte das Quietschen auf. Draußen nieselte es bloß. Er brauchte neue. Das wußte er seit Wochen. Die Neuen lagen im Kofferraum. Er stellte das Radio lauter. Die Wischer gaben noch immer diesen entnervenden Ton von sich. Dennoch fielen ihm beinahe seine Augen zu. Er öffnete das Fenster ein wenig. Darauf bedacht, dass nicht zu viel Regen ins Innere geriet und eventuell die Polster ruinierte. Vielleicht würde die frische Luft ihn etwas wacher machen. Die Müdigkeit war beinahe lähmend, es kostete Überwindung sich auf die Straße zu konzentrieren. Zum Glück war die Landstraße beinahe leer. Wer fuhr auch Nachts um 3:30 noch in dieser Gegend umher? Ein paar Jugendliche in ihren aufgemotzten Golfs, die auf dem Weg von der Großraumdisco nach Hause waren. Einige hatte er mit 140KmH überholt.
Er kam in eine kleine Ortschaft und mußte scharf bremsen. Er hatte damit gerechnet. Immer wieder torkelten besoffene Kerle mit leicht bekleideten, häßlichen Dorfmädchen hier über die Straße. Manchmal verspürte er den Drang einfach Gas zu geben. Wer würde diese Idioten vermissen? Natürlich tat er es nicht. Er hatte eine Karriere, hatte Pläne für die Zukunft und eine Freundin, die ihn liebte. Und irgendwie hatten selbst solche Bauern ein Recht auf Leben. Er fuhr weiter. Er hatte noch einen langen Weg vor sich, vierzig, vielleicht fünfzig Kilometer. Vor einem Jahr hatte er sich ein Loft in der Innenstadt gekauft, eine umgebaute Fabrikhalle mit riesiger Wohnfläche. Früher hatte er auf dem Anwesen seiner Eltern vor den Toren der Stadt gelebt. Mittlerweile erschien ihm die besinnliche Ruhe des Landes abstoßend. Er brauchte den Trubel einer Großstadt, den Trubel Hamburgs. Nicht einmal Weihnachten kehrte auf das Land zurück.
Draußen regnete es stärker, die Wischer taten jetzt ihre Arbeit ohne lästige Nebengeräusche. Das entspannte seine Nerven, half aber nicht gerade gegen seine Müdigkeit. Im Radio plärrten irgendwelche Dance Songs. House, Vocal-House, Clubmusic. Er mochte den Kram nicht.Und das obwohl alle um ihn herum dieses Zeug hörten. Er nicht. Ein letzter Rest Individualität in seinem ach so individuellen Job.
Am Straßenrand stand ein junger Mann im Regen, nur bekleidet mit einem Hemd, das nass am Körper hing. Er fuhr vorbei. Trat wenige Meter später auf die Bremse. War es Mitleid? Von ihm, der nicht einmal zehn Cents für irgendeinen von den Pennern oder den russischen Straßenmusikanten in der Innenstadt übrig hatte? Er fuhr zurück und ließ das Beifahrerfenster herunter.
"Wo willst Du hin?" fragte er.
"Wurmsdorf. Irgendwo die Richtung,"
"Da fahr ich vorbei. Steig ein."
"Danke."
Der Junge setzte sich, für einen kurzen Moment dachte er an seine Ledersitze und war drauf und dran den Tramper wieder rauszuschmeißen. Aber er saß schon. Er konnte ihn schlecht wieder rausschmeißen.
Er musterte seinen Mitfahrer. Er trug ein recht ansehnliches Hemd, wahrscheinlich von H&M. Vielleicht aber auch was edleres. Mittlerweile war es selbst Leuten aus dieser Gegend möglich sich stilvoll zu kleiden. Eine Errungenschaft der 90er. Ihm war es egal. Er kaufte was ihm gefiel, der Preis war schon immer nebensächlich gewesen.
"Wie heißt Du," fragte er, nachdem er die ersten Meter gefahren war.
"Alex."
"Ich bin Chris."
"Mhm."
Freundlich war er nicht gerade. Er bereute es bereits diesen Alex mitgenommen zu haben. Solche Regungen wie Mitleid leiteten einen einfach zu oft in die Irre. So etwas konnte er sich eigentlich nicht erlauben. Sich irren kostete Zeit und Zeit war ein zu kostbares Gut, als das es verschwendet werden durfte. Er hätte ihn wieder rausschmeißen können. Aber er tat es nicht. Es gab keinen Grund es zu tun, schließlich mußte er wirklich in die selbe Richtung.
Die nächsten Kilometer rasten dahin. Keine Straßenlaterne erhellte die Landstraße und es war stockfinster, nur die Fernlichter des Autos erhellten die Dunkelheit. Im Norden war der Himmel erleuchtet. Dort lag Hamburg. Ein pulsender Knoten. Vielleicht auch eine City that never sleeps.
Der Regen prasselte beständig auf das Wagendach. Alex starrte bloß aus dem Fenster hinaus und sagte nichts.
"Warum mußtest Du trampen?"
"Was?," fragte Alex und schaute ihn verständnislos an.
"Warum Du trampen mußtest?"
"Kein Geld mehr fürn Taxi."
Er nickte... Wirklich nicht sehr gesprächig. Der Junge wirkte niedergeschlagen, wie er an seiner Unterlippe spielend aus dem Fenster in die Dunkelheit blickte. Plötzlich aber ruckte sein Kopf herum. Chris erschrak und hatte leichte Mühe das Lenkrad ruhig zu halten.
"Bitte, schalte dieses Lied weg."
Im Radio dudelte irgendeines dieser undefinierbaren Liedeslieder mit tragenden Gitarren und einem Text ohne Sinn und Aussage. Offensichtlich verstanden einfach zu wenige Menschen überhaupt was dieses Bands dort eigentlich sangen. Im Grunde war es ihm aber gleich. Schon lange hörte er gar nicht mehr hin, wenn das Radio lief. Es bloß Reflex gewesen, das er es angestellt hatte, weil der CD-Player kaputt war. Er schaltete um und kurz flackerte so etwas wie Neugier auf, warum der Junge diesen Song nicht hören wollte.
"Danke," sagte Alex als ein neuer Kanal mit dem Besten von Heute, Gestern und Übermorgen eingestellt war.
"Warum sollte ich umschalten?"
"Es ist ihr Lied."
Das sagte sicherlich vieles, Chris verstand nichts. Nun ja, nicht viel zumindest. Es mußte wohl das Lied irgendeiner von diesen dümmlichen Dorfschönheiten sein, vielleicht eine Ex-Freundin von diesem Alex. Schon früher hatte er festgestellt, dass nahezu alle Leute sich zu jeder Gelegenheiten ein Lied, als das Lied des Augenblicks erwählen. Das Lied der ersten Begegnung, des ersten Kusses, der ersten Sex. Er hatte das nie gemacht. Es war sinnlos. Dieser Junge aber wohl schon. Ihr Lied. Nun ja. Liebeskummer. Plötzlich glaubte er zu wissen, warum Alex kein Geld mehr für ein Taxi hatte. Er wird alles versoffen haben. Versucht seinen Frust im Alkohol zu ertränken. Eine ebenso dumme Angewohnheit, die er nie verstanden hatte. Es war so sinnlos. Alkohol half nicht zu vergessen, Alkohol holte die Erinnerungen zurück und führte sie einem in aller Deutlichkeit vor Augen. Er trank nicht, zumindest sehr selten. Bei einer Präsentation ein Glas Champagner vielleicht, mehr nicht. Ihm fiel erst jetzt auf, dass sein Beifahrer nach Alkohol stank. Nach Bier. Es mußte Liebeskummer sein, denn Alex schluchzte leise. Dieser Kerl widerte ihn auf einmal an. Im gleichen Moment jedoch amüsierte es ihn auch, diesen Wicht neben sich zu haben. Wegen einer Frau so die Kontrolle zu verlieren. Wie überlegen er diesem Nichts war.
Er mußte an seine Freundin denken. Seine wunderschöne Freundin, mit ihren langen blonden Haaren und der traumhaften Figur. Sie wartete sicherlich zu Hause in seinem Loft. Seit einem Monat lebte sie bei ihm. Er hatte sie auf einer Reise kennengelernt. In New York. Im Park, wo sie joggte und er auch. Er hatte sie angesprochen, weil sie sein Interesse geweckt hatte. Das konnte er tun, weil sein Geld ihm vieles ermöglichte, darunter auch zwei Operationen. Die Nase und das Kinn. Die Nase verkleinert und das Kinn stärker in der Kontur gemacht. Dabei war er nicht sehr eitel, nicht mehr als andere Menschen auch. Im Unterschied zu vielen anderen aber hatte er das Geld, um seinen Wünsche wahr zu machen. Und die Frauen liebte die glatte Oberfläche, das Schöne, das ohne Makel war. Früher war es sein Geld gewiesen, was sie beeindruckt hatte. Sein Reichtum hatte ihm trotz einer gewissen Unattraktivität in der Jugend vieles ermöglicht, gerade sexuell. Die meisten Frauen lügen, wenn sie sagen, Geld spielt keine Rolle. Schönheit und Geld jedoch, gepaart mit leidlichen Charme und geheuchelten Aufmerksamkeiten ließ jede Frau schwach werden. Das weibliche Geschlecht war ein furchtbar berechenbares Volk.
Sie war Deutsche gewesen, genau wie er und der Zufall brachte es mit sich, dass sie sogar aus Hamburg kam. Seine Mutter hätte wohl die abgedroschene Phrase des Schicksals gewählt. Ihm erschien es als Glücksfall ganz eigener Art. Besonders als er merkte, dass sie nicht nur schön sondern auch intelligent war und dazu so etwas wie einen Charakter besaß, was sie zu einer besseren Gegnerin machte, als manche andere Frau in den letzten Monaten. Sie erlag seinem Werben erst spät, erst nachdem er die Maske des reichen Sohnes und erfolgreichen Unternehmers herabgelassen hatte, um sie mit der zweiten, viel seltener gezeigten Maske, des zärtlichen, sensiblen Zuhörers zu gewinnen. Jetzt lebte sie bei ihm und studierte Jura an einer Privatuni in Hamburg. Seine Freunde wunderten sich, warum er es immer wieder schaffte die schönsten Frauen zu kriegen.
"Wer ist sie?", fragte er beiläufig, obwohl er zugeben mußte, dass er langsam wirklich Interesse entwickelte.
"Wer?"
"Wessen Lied ist das?"
"Meine Ex-Freundin."
"Sie hat dich verlassen?"
"Ja."
Schweigen.
"Wegen eines anderen," bohrte er weiter.
"Ja."
"Und warum?"
"Weil sie mich angeblich nicht mehr liebt. Aber er hat Geld. Er hat ihr mehr zu bieten als ich."
Er lachte, zumindest innerlich. Denn natürlich hatte sie, wer auch immer sie war, recht. Was konnte jemand wie dieser Kerl neben ihm einer Frau schon bieten, außer die Aussicht auf ein Leben in einem Reihenhaus, Urlaub an der Ostsee und einem VW-Kombi? Nur mit Mühe gelang es ihm nicht erwidern: Das war eine kluge Entscheidung von ihr.
"Sie lebt jetzt bei ihm. In Hamburg," fuhr Alex fort. Er schien jetzt reden zu wollen und Chris stoppte ihn nicht, es war eine verlockende Aussicht sich in dem Leid seines Mitfahrers zu baden.
"Kennst Du ihn?"
"Nein. Aber er ist Werbemanager, mit einer riesigen Wohnung. Er ist reich und ist oft in New York. Sie liebt diese Stadt."
Das wurde ja immer besser! Werbemanager, dann kannte er den Kerl sicherlich. Hatte nicht Hannes gerade eine Neue? Er würde sich demnächst mal umhören, wer von den Jungs sich eine aus dieser Gegend geangelt hatte. Eine von den Ladies vom Land! Das war sicher Hannes, der stand ja auf solche dummen, kleinen Hühner.
"Könnte ich ein Taschentuch kriegen?," fragte Alex, der sich schon mehrmals mit der Hand über die Nase gefahren war.
"Sicher. Im Handschuhfach liegen welche."
Alex griff ans Handschuhfach und wühlte ein wenig darin herum, bis er die Taschentücher fand, die unter einem Photo lagen, das eine wunderschöne Frau mit langen blonden Haaren zeigte. Es war aufgenommen vor der Freiheitsstatue in New York. Alex kannte sie.
Die Scheinwerfer des entgegenkommenden LKWs blendeten Chris. Seine Augen waren empfindlich. Die Augenärztin hatte ihm geraten Nachts im Regen nicht mehr zu fahren. Ärzte geben viele gute Ratschläge, an die sich niemand hielt.
Er sah das Motorrad, das hinter dem LKW auftauchte zu spät. Der Lack!, dachte er und versucht einen frontalen Zusammenstoß zu verhindern. Er riss das Lenkrad herum, geriet leicht ins Schleudern, das Motorrad streifte die Fahrerseite, gab dem BMW einen Stoß, das Auto rutschte auf regennasser Fahrbahn weg, Chris verlor die Kontrolle, versuchte noch gegen zu steuern, rammte den LKW, hob von der Straße ab, überschlug sich. Einmal, zweimal. Dann kam der Baum. Zwei weiße Kreuze standen dort. Unter der Masse des bayerischen Sportwagens brach das dünne Holz der Gedenkkreuze. Der Wagen zerschellte förmlich an der mächtigen alten Eichen.
Alex Kopf wurde von einer Strebe des Wagendachs zerrissen. Er war sofort tot. Chris überlebte schwer verletzt den Aufprall. Mit einem Krankenwagen kamen er und der Motorradfahrer sofort ins nahegelegene Hospital. Chris´ Blutverlust war immens. Er starb zwei Stunden nach der Notoperation. Der Motorradfahrer überlebte.
Alex wurde wenige Tage nach dem Unfall beerdigt. Viele Freunde kamen und nahmen Abschied von dem lebenslustigen jungen Mann, der gerade sein Vordiplom bestanden hatte und dem eine glänzende Zukunft vorhergesagt worden war.
Chris wurde einen Tag später beigesetzt. Bei der Autopsie hatte man keinerlei Rückstand von Alkohol oder anderen Drogen gefunden. Nur die Reste eines Steaks und Mineralwasser. Er wurde in aller Stille beigesetzt, nur die Familie und Eva, seine Freundin waren anwesend.
Eva trug das gleiche Kleid wie an Tag zuvor auf der Beerdigung
[ 28.04.2002, 12:05: Beitrag editiert von: deMolay ]