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Der Baum
Der Baum
„Ich liebe dich!“, flüsterte Er ihr leise zu.
Es war eine lauwarme Sommernacht und der volle Mond strahlte hell ins Schlafzimmer. Die leise tickende Pendeluhr zeigte bereits drei Uhr morgens und beide schliefen ein.
Als Er erschrocken erwachte war es bereits 14 Uhr. Er konnte sich nicht erklären, daß Er nicht schon früher aufgewacht war. Die Sonne leuchtete das Zimmer hell aus, zu hell für seine müden Augen. Deshalb zog Er die Vorhänge etwas zu. Erst jetzt fiel ihm auf, daß seine Frau nichtmehr im Bett lag. „Sie wird wohl schon früher aufgestanden sein.“, dachte Er und ging ins Bad, um sich zu waschen. Während Er sich die Zähne putzte, überkam ihn plötzlich das ungute Gefühl, daß etwas nicht stimmte. Seine Umwelt kam ihm auf einmal sehr unwirklich vor. Als Er sich anzog, fiel ihm plötzlich auf, daß keine Vögel zwitscherten. Überhaupt war es ungewöhnlich still im Raum. „Schatz, bist du da?“, versuchte Er aus der Tür zu rufen, und plötzlich wurde Er kreidebleich, denn Er konnte seine Stimme nicht hören. Er versuchte es nocheinmal: „Hallo?“. Wieder hörte Er nichts. Seine Knie wurden weich und ihm wurde schwarz vor Augen. „Gut, jetzt nur nicht ihn Panik ausbrechen!“, dachte Er, „Dafür gibt es sicher eine vernünftige Erklärung!“. Er versuchte zu schreien, so laut Er konnte, doch Er hörte nichts. Er warf das Glas Wasser, das Er vor dem Schlafen immer neben sich stellte, falls Er in der Nacht Durst bekomme, gegen die Pendeluhr - Nichts! Verzweifelt brach Er in Tränen aus. Er konnte sich nicht erklären, was geschehen war.
Als Er langsam wieder klar denken konnte, beschloß Er, das Haus nach seiner Frau zu durchsuchen. „Normalerweise weckt sie mich doch, wenn sie aufwacht!“, dachte Er. Was war geschehen? Ist sie entführt worden? Hatte man ihn betäubt? Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf.
Er beschloß zur Polizei zu gehen. Als Er die Haustür hinter sich abgesperrt hatte und sich umdrehte, traute Er seinen Augen nicht. Die Sonne schien gleißend auf eine kahle Landschaft. Sämtliche Gebäude, die sein Haus umgeben hatten, waren verschwunden, ausradiert. Kein Grashalm, kein Baum war mehr zu sehen, wo gestern noch sein Garten gewesen war.
Mühsam versuchte Er einen klaren Gedanken zu fassen, doch es gelang ihm nicht. Ohne zu überlegen rannte Er einfach los.
Als Er einige Zeit gelaufen war, drehte Er sich um. Sein Haus war nichtmehr zu sehen, jedoch bemerkte Er einen schwarzen Punkt am Horizont. Er ging auf den Punkt zu, und mit der Zeit erkannte Er einen Baum. Die Sonne schien immer noch strahlend vom Himmel herunter, doch ihm war nicht heiß. Da bemerkte Er, daß er nichts fühlte, weder die Hitze der Sonne, noch den Boden unter seinen Füßen. Als Er nur noch einige Meter vom Baum entfernt war, bemerkte Er, daß der Baum von einer glasartigen Kuppel umgeben war und rund um dem Baum Gras wuchs. Doch als Er nahe genug war erkannte Er, daß sich der Baum unter der Glaskuppel wie im Zeitraffer veränderte. In der einen Sekunde hatte der Laubbaum grüne Blätter, dann gelbe und braune, dann plötzlich garkeine Blätter mehr. Sekunden danach war er wieder so grün und prächtig wie vorher. Er beobachtete für einige Zeit das seltsame Schauspiel. Dabei fiel ihm auch auf, daß sich die Sonne nicht weiterbewegte. Überhaupt schien außerhalb des Mikrokosmos, in dem sich der Baum befand, die Zeit still zu stehen. Das einzige, was sich veränderte war die Helligkeit und Intensität, mit der die Sonne strahlte. Er beschloß, in die glasartige Kuppel, in der sich der Baum befand, einzudringen. Vorsichtig streckte Er seine Hand in Richtung Baum aus. Er fühlte ein seltsames Kribbeln, das jedoch nicht unangenehm war, und so ging Er auf den Baum zu, bis Er nurnoch einige Zentimeter davon entfernt war. Das seltsame Kribbeln umgab plötzlich seinen ganzen Körper und wurde immer intensiver. Im Mikrokosmos des Baumes konnte Er auch plötzlich wieder hören. Ein seltsames, tiefes brummen umgab ihn, welches ebenfalls immer intensiver wurde. Er hatte dieses Brummen schon einmal gehört. Es war das buddhistische „OM“. Nach einer kurzen Zeit sah Er einen Blitz, Er schloß die Augen, und plötzlich war das Kribbeln weg. Er hörte nur noch das „OM“. Er fühlte, wie die Zeit ihn umfloß und vor seinem geistigen Auge erkannte Er zuerst die karge Landschaft, durch die Er zuerst gewandert war, dann sein Haus, dann das Glas und die Pendeluhr. Die Zeit schien rückwärts zu laufen. Zuerst nur sehr langsam. Er sah sich mit seiner Frau im Bett, leise hörte er die Worte „Ich liebe dich!“, welche im unendlichen „OM“ verhallten. Immer schneller beschleunigte die Zeit rückwärts. Er sah sich als junger Mann, dann als Knabe, als Kleinkind und schließlich als Baby. Dann sah Er plötzlich ein gleißendes Licht und das „OM“ wurde immer leiser. In diesem Licht fühlte Er sich sehr wohl. Eine behagliche Wärme umgab ihn und plötzlich verstand Er die Zusammenhänge des Universums, nur um sie im gleichen Augenblick wieder zu vergessen, als das Licht langsam wieder schwächer wurde. Er erkannte einen Greisen, der im Bett lag und nach Luft rang. Einen kurzen Moment später sah er einen circa 60 jährigen Mann, der eifrig an einem Gerät arbeitete, das Er nicht erkennen konnte. Langsam begriff Er, daß er in der Zeit zurück reiste und all seine früheren Erlebnisse, ja sogar Leben gleichsam wie im Traum mit ansehen konnte. Als Er so seine Leben gesehen hatte, einige davon als Tier, viele als Pflanze oder sogar als Stein, kam er an einem Punkt der Zeit an, an dem alles eins war. Das „OM“ verstummte. Alles war still. Alles war eins.
Einige Sekunden verharrte alles im Zustand dieser Einheit, doch plötzlich sah er einen grellen Blitz. Die Einheit löste sich, „OM“ wurde wieder lauter. Er sah Felsbrocken von enormen Ausmaß im Raum schweben, sah Sonnen entstehen und vergehen, Planeten aufblühen und verwelken. Da erkannte Er die Natur des Kosmos, die Hintergründe des Seins. Er erkannte den Sinn, wußte, daß sich alles in einem ewigen Kreislauf befindet, wußte, das Alles Eines ist und Eines Alles. Er war erleuchtet.
„Ich liebe dich auch!“, flüstert seine Frau zurück. Es war eine lauwarme Sommernacht und der volle Mond strahlte hell ins Schlafzimmer. Die leise tickende Pendeluhr zeigte bereits drei Uhr morgens und beide schliefen ein.
Nachwort des Autors:
Die Geschichte, die der Hauptperson in meiner Kurzgeschichte „Der Baum“ wiederfährt ist nicht etwa ein Traum. Er erlebt dies alles in einem Bruchteil einer Sekunde zwischen seinen Worten: „Ich liebe dich!“ und der Antwort seiner Frau: „Ich liebe dich auch!“. In dieser unbedeutend kurzen Zeit durchlebt der Mann, unbewußt oder nicht (das überlasse ich dem Leser), zuerst unheimliche Schrecken wie Taubheit, die Abwesenheit seiner Frau, dann die karge, unwirtliche Landschaft und zuletzt Abwesenheit jeglicher Gefühle. Doch plötzlich findet er einen Baum, eine Oase des Lebens, der Zeit und somit des Kreislaufes allen Seins. Dort erfährt die Hauptperson ihre Erleuchtung. Dies geschieht alles zwischen zwei Sätzen, die das ausdrücken, wofür es sich zu leben lohnt und was durchaus Erleuchtung bringen kann: LIEBE.