Der Baum
Klau|s|ens
Der Baum
Er war der übliche Baum, nicht zu lang, damit er noch in den Kombi passte. Und er schob ihn, den Baum, durch die hintere Lücke, die er durch das Öffnen der Klappe zuvor geschaffen hatte.
Leider hatte er erst die Rückbank umlegen müssen. Das dauerte und nervte. Er war unwillig. Um den Baum herum hatten sie ein weißes Netz gezogen, sodass der Baum nun eingewickelt und eingeklemmt war, als ginge es um sein Leben.
Dabei war der Transport nur vorgesehen von Niederkirchen nach Oberwisskirchen, was nicht mal ganz 7 Kilometer sind. Außerdem hatte er keine Lust auf einen Baum, aber Hilde hatte ja darum gerungen. Immer wieder. Hilde hatte insistiert und gejammert, bis er "ja" gesagt hatte. Wie immer.
Die Kinder waren schon aus dem Haus, und dieses Jahr würden beide nicht kommen. Charlotte wollte mit ihrem Roman endlich mal Ski fahren – und Wigbert war ja noch in Kanada, wohin ihn sein Wirtschafts-Studium (MBA) für ein Jahr verschlagen hatte.
Also blieben nur sie beide, denn Tante Käthe wollte lieber in ihrem Heim sein, was auch gut war, denn sie sabberte beim Essen und faselte beim Reden. Außerdem roch sie. Die Eltern und Schwiegereltern waren schon verstorben. Seine Schwester blieb dann noch, aber sie mochten sich nicht.
Ria würde mit ihrem Ottmar sein. Gut so. Und er mit Hilde. 42 Jahre verheiratet. Dennoch bestand sie auf diesem Baum – das war ja zum verrückt werden. Aber Bernd wusste, dass es ohne Baum gar nichts würde. Mit Baum eigentlich auch nicht, aber ohne?
Bernd schluchzte und setzte sich. Hatte er die Klappe noch zubekommen? Ja, muss wohl. Er schaute in den Rückspiegel. Die Klappe war zu. Der Baum war so lang, dass er noch über den Beifahrersitz hinauslangte. Die Kopfstütze war baumbedeckt, alles roch nach Nadeln. Die Spitze kitzelte die Windschutzscheibe – und er konnte kaum sehen, nach rechts zumindest.
"Ach, Hildchen", dachte er – und da war ein Rest von Zärtlichkeit, jener letzte Rest, der nach so vielen Jahren noch möglich war. Ihm zumindest. Wenn er wenigstens noch unterrichten würde. Mathematik in Stufe 13, das forderte ihn. Damals. Da war doch Ansgar, der nun an einer Eliteuniversität studieren sollte, hieß es. Vielleicht auch in Kanada, wie sein Sohn? Ja, Ansgar würde wohl Karriere machen. Er selbst aber war alt.
Und nun? Nun forderte ihn nichts. Und Hilde wollte den Baum. Alles Übliche mit jenem Liedersingen, den Kugeln, zuviel Lametta, dann noch dem weichlich-faden Fisch, den er noch nie gemocht hatte. All das stand ihm bevor.
Ja, er war noch Mitglied in der Kirche, Hilde auch. Evangelisch. Und morgen müsste er wohl mit. Latein hatte er neben Mathematik unterrichtet, am Arndt-Gymnasium, und so ausgebrannt er am Schluss auch war … Ärgern tat es ihn doch, wenn sie dann hinter ihm "unser Langweilerchen" herflüsterten. Eigentlich sollte er das wohl nicht hören, er aber nahm es dann doch auf, wie unterbewusst. Vielleicht sollte er ja auch alles mitbekommen, es war dieses bös-ätzende Geflüster von pubertierenden Jugendlichen.
Seine weißlichen Schuhe waren etwas schmutzig. Bevor er das Auto startete, beugte er sich nach vorne und rieb über die Schuhspitze. Weiße Schuhe, dafür war er bekannt. Weiße Schuhe aus Leder oder Kunstleder, beige Hosen, helle Strümpfe. Jahrelang war er immer so gekommen. Und wehe, da war ein Fleck drauf. Niemand hatte ihn je verstanden.
Hildchen hatte schon einiges für ihn zu waschen. Ach Hildchen. Das sagte er jetzt mehr aus Gewohnheit zu sich und zu seinem Auto und zu dem Baum und zu den Tagen, die bleischwer vor ihm lagen. Das "…chen" machte es kurz leichter.
Starten und fahren. Der Audi war sportlicher, ja, aber der Passat hatte ihm mehr gelegen. Schwer zu sagen, warum, aber schon bei den Urlauben in Norwegen, da hatte ihnen der Passat (vier war er gefahren, einem nach dem anderen, Modellreihe für Modellreihe) wertvolle Dienste geleistet.
Hilde hatte auf einem anderen Auto bestanden, nun, weil er in Pension war, und weil sie ihr Bein nachzog. Da konnte sie besser einsteigen. Hilde hatte immer grau getragen, und er immer weiße und helle Töne. Fleckenlos.
Als er dann zu scharf in die Kurve lenkte, fing der Baum an zu rutschen. Ganz plötzlich. Er griff mit der rechten Hand in die scharfe Baumspitze, sie war weiß umhüllt. Da war Hektik in seinem Griff. Der Baum blieb in seiner Hand, aber er spürte einen Riss, auch etwas wie Blut, wie warm war es doch, und wie beißend war der kleinliche Schmerz.
So hielt er nun den Baum, ganz fest, schob ihn nach rechts, sah nichts, fuhr dann weiter, blutend, einhändig. Und als er dann auf seine beige Hose sah, nahm er Flecken war, Tropfen, dunkelrot, sein Blut im Moment des Gerinnens, dunkel wurde es, bräunlich, noch bräunlicher als das Braunrot seines Autos.
Es ruckte an seinem Arm, das Auto schleuderte, seine Hand schmerzte, hektisch machte er eine Bewegung, rumms, und da schlug das Auto schon aus, irgendwie weg von der Straße, ja, er drückte aufs Gas, noch mehr. Etwas stimmte nicht mehr.
Wie im Wahn stieß er den Fuß mit dem weißen Schuh durch - aufs Pedal. Der Audi schoss über die Straße, pfeilschnell, nach rechts, da, der Bürgersteig, und auf die kleine Frau zu, die ein Bein nachzog, im grauen Mantel, bepackt mit zu vielen Taschen, auch Fisch war vielleicht darin, und Lametta war wohl darin, für den Baum. Jene Frau, die nur noch "Bernd!" rief – und er, viele Filme in sich und seinem Kopf sehend, in Sekundenbruchteilen … er erkannte sie: "Hilde!".
Hier hatten sie sich getroffen. 23.12. Zufällig. Hanserstraße, Ecke Marktgasse. Vor über 42 Jahren. Aber da war schon alles vorbei.
Als die beiden Menschen auf dem Gehsteig lagen, er unter dem Auto, sie daneben, beide jedoch irgendwie aneinander, wie halb umarmt, blutüberströmt, das Auto zerdrückt, beide vom Blech und vom Stein eingeklemmt, da sahen die Menschen, die vorsichtig und zögernd vorbeigingen (der Krankenwagen stand auch da, die Polizei, viele Schaulustige) … da sahen sie den Baum, den Weihnachtsbaum.
Durch die Windschutzscheibe war er geschossen, auf die Straße, hatte sich entrollt, war seiner weißen netzlichen Umhüllung nun entledigt, und sah mit ausgeweiteten Zweigen ganz schmucklos, etwas flachgepresst und doch weich liegend seinem Abtransport samt seiner Vernichtung entgegen.
Dieses Jahr gab es kein Weihnachten wie letztes Jahr – das war allen in Oberwisskirchen klar: Die beiden Toten umarmten sich. Das war ganz sicher.