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Der Bauchschuss
Anton Moser sah nur noch verschwommen. Er fühlte sich so leicht, als flöge er durch den Raum mit der seit Wochen verschlossen Tür, dessen einziges Fenster aus dickem Glas nur wenig Licht durchließ. Vor allem wegen der Einsamkeit hatte sich Anton in seltsamer Weise verändert.
Anton hörte, wie im Nebenzimmer die Tür aufging.
„Der Gestank wird immer unerträglicher, schlimmer als Scheiße. Das ist bald nicht mehr zumutbar“, hörte Anton die Stimme aus dem Nebenraum. Der Bewacher schien Besuch zu haben. Sicher würden sie wieder über ihn reden. Anton hatte den Mann, der die letzten Tage nichts anderes getan hatte, als sich über Gerüche zu beklagen, noch nie gesehen. Auch die anderen Bewacher nicht.
„Lassen Sie mich zu meinem Jungen.“ Es war die Stimme seiner Mutter. Anton freute sich, wurde traurig, denn er schämte sich. Dann freute er sich wieder auf seine Mutter. Er hätte weinen können, wenn seine Augen intakt gewesen wären. Wegen seinem Anderssein fühlte Anton Mitleid und Schuld. Wie konnte er seiner Mutter solchen Kummer zufügen. Er wusste, dass sie gerade diese Art von Gerüchen, die seine neue Form aussandte, überhaupt nicht vertrug; er konnte aber nicht wissen, dass sie ihn noch nicht gerochen hatte. In seinem Inneren pochten die letzten Reste seines Herzens gegen einen Brustkorb, der schon fast verschwunden war.
„Wir öffnen die Tür nicht mehr. In dem Zimmer ist nur noch übler, unausstehlicher Gestank.“ Die männliche Stimme im Bewachungszimmer sprach wohl zu seiner Mutter. „Es ist nur noch eine trübe Wolke drin. Ich habe den behördlichen Auftrag, den Gestank nicht herauszulassen“, schrie die Stimme. Dann hörte Anton seine Mutter schluchzen. Aber er verstand ihr Gefühlszustand gut, denn Anton hatte sich offenbar in eine Wolke verwandelt. Genauso fühlte er sich. Er bestand nur noch aus Gasen.
„Was meinen Sie wohl, wie mich diese Stinkwolke nervt“, ertönte die tiefe Stimme von neuem. Jemand drückte den Türgriff herunter, wohl Antons Mutter.
„Stinken tut er, er ist zu einem Gestank geworden, ihr lieber Sohn. Sie sollten sich schämen“, sagte der Mann. Antons Mutter wimmerte, er solle endlich die Tür aufmachen.
„Die Arbeit bleibt an mir hängen“, fuhr der Mann fort. „Dieser Mief wird mich noch umbringen.“ Jetzt hatte Anton das Gefühl, als ob der Mann mitweine. Die Person hatte mal ihren Namen gesagt, aber Anton hatte ihn vergessen. Es muss ein gewöhnlicher Name gewesen sein, vielleicht Schmidt oder Bauer.
„Anton! Anton! Bist du da drin?“, schrie die Mutter, während sie an die Tür hämmerte. Anton versuchte zu antworten, aber er konnte nicht. Sein Mund, wenn man noch von einem Mund reden konnte, bestand aus Gas, vielleicht aus einem ähnlichen Gas, aus dem zukünftige Gaswesen beständen. Anton war nicht mehr in der Lage, korrekt zu riechen, aber er hatte eine Vermutung, was aus ihm geworden war. Anton hatte Phantasie, er konnte sich vieles vorstellen. So war ihm klar, dass sich die Teile seines Körpers, die Organe, die Gewebe, die Zellen, getrennt und neu vermischt hatten, um sich dann mit molekularen Kräften in einen Gashaufen zu formieren. Anton dachte an ferne Planeten. Dort hätte er vielleicht besser leben können. Wie er hörte, ginge kein guter Geruch von ihm aus. Die Darmflora müsste sich in den Gaskörper gemischt haben und auf die Außenseite gelangt sein. Milliarden von Darmbakterien, die Gase produzierten, müssten aktiver als im normalen Leben geworden sein und den Gaskörper an der Außenseite stabilisieren. Ja, nur so konnte er sich das erklären, die Darmbakterien waren schuld. Sie allein trugen die Schuld an seinem Unglück. Sie sollten ihm bei der Verdauung helfen und jetzt hatten sie ihn auf der ganzen Oberfläche eingegast. Er sah im Geiste, wie ein Autovergaser Benzin nur in eine Richtung zerstäubte. In seinem alten Körper war die Richtung des Gastransports in einem intakten Darm ebenso vorgegeben gewesen und Anton trauerte vergangenen Zeiten nach.
„Armer Anton“, klagte die Mutter vor der Tür. „Dieses Unglück unserer Familie, immer hat unsere Familie so furchtbares Unglück, immer bringen Vorschriften und ihre Durchsetzter unsere Kinder in den Tod.“ Anton hörte ein Poltern.
„Jetzt ist aber gut“, sagte der Mann. „Niemand hat ihrem Stinkteufel etwas getan.“
„Mein Anton stinkt nicht. Es sind Sie und Ihre Vorgesetzten, die so stinken“, fauchte Antons Mutter den Bewacher an.
Anton überlegte, was sie wohl meine. Er erinnerte sich an einen Besuch auf dem Friedhof, mit seinen Eltern und den Großeltern. Er wusste nicht mehr, ob er bereits selbst gehen konnte. Eher hatten ihn seine Mutter und Großmutter abwechselnd getragen. Vor einem Grabstein, einem Monument aus grauem Granit, waren sie stehen geblieben. Auf dem Grab hatte eine gelbe Lilie geblüht, unter deren Blättern ein fast schwarzer Krötenkopf mit Schlitzpupillen hervorschaute, die erste Kröte in Antons Leben. Ein gemeinsames Weinen hatte dann begonnen. Nur Anton war still geblieben. Sonst war es Anton, der schrie. Ein Wind brachte Kälte und Anton steckte seine Hände in Omas Jackentasche.
„Ein Bauchschuss“, schrie die Großmutter.
„In Afrika“, jammerte der Großvater und nahm eine Schnapsflasche aus der Tasche.
„Trink nur Vater“, sagte die Mutter, „ich weiß noch, wie sie kamen. Und wir haben ihn nie mehr gesehen.“
„Ja“, erwiderte der Großvater, nahm einen Schluck und blickte merkwürdig abwesend zu Antons Mutter. „Er war erst achtzehn und du gerade elf.“
„Vor neunzehn Jahren“, murmelte die Großmutter.
Ein merkwürdiges Gespräch, dachte Anton. Dann blickte er in die Ferne in den schwarzen Wald.
„Was er für Schmerzen ausgehalten haben muss, mein armer Junge“, weinte die Großmutter. Der Großvater und die Mutter vergossen ebenfalls Tränen, denn das Geschehene im Unbekannten klebte fest in ihren Gehirnen. Das Geheul zeigte Anton sehr früh in seinem Leben, dass es da etwas gab, um das er sich auch Sorgen machen müsse. Er fühlte, dass die Alten es bei den Gedanken belassen bleiben wollten. Anton kannte die Dialoge auswendig. Er achtete auf die Worte, wie sie jedes Mal anders gewählt wurden.
„Ein riesiges Blutloch muss im Bauch gewesen sein“, schluchzte der Großvater und senkte den Arm, in dessen Hand er die Schnapsflasche hielt. Er wollte es nicht sagen, auf jeden Fall nicht so. Aber das waren seine Gedanken, die er wohl in eine andere Welt bringen wollte.
„Stinkt so was auch?“, fragte Anton. Alle drei blickten verwundert auf Anton. Er störte ihre Gedanken. Die Frage verschlimmerte die Trauer und brachte sie auf einen Höhepunkt, der die Gesichter der Erwachsenen erstarren lies. Das grausamste Bild tauchte vor ihnen auf. Und sogar Anton sah bald rote und braune Säfte aus einem Bauchloch rinnen. Aus einen Körper, der ausgestreckt auf dem Boden lag, und vielleicht noch schrie und sich wie eine angebissene Schlange fortzubewegen versuchte. Sie alle sahen die gleichen Bilder. Ihre Tränen waren die gleichen. Jetzt weinte auch Anton. Er wusste, dass es stank. Niemand antwortet ihm. Und er wusste bereits ebenso, wo die Körperlöcher zu sein hatten und was herauskam, zumindest kannte er es teilweise.
Die Großmutter fuhr mit der Hand über Antons Bauch.
„Schön, dass wir dich jetzt haben“, sagte der Großvater und blickte zu Anton hinunter.
Solche Besuche auf dem Friedhof hatte es noch nach Jahren gegeben. Solange bis die Großmutter von den Ärzten und Pfarrern und der Großvater vom Schnaps geholt worden waren. Jetzt lagen sie neben ihrem Sohn. Den Text auf dem Grabstein hatte Anton erst ein paar Jahre später lesen können. Niemand hatte ihn vorgelesen. Er wusste nur von der Mutter, dass die Großeltern großen Wert darauf gelegt hatten, dass der Name ihres Sohnes hier und nicht irgendwo auf einem Massengrab auftauchen würde. Als er lebte, wollte der jetzt irgendwo begrabene oder an der Luft verweste Onkel Schreiner werden und er hatte Antons Mutter ein Puppenhaus aus weichem Holz gebastelt. Ein Häuschen, das seine Mutter bei ihren Spielsachen in einem Koffer aufbewahrte. Oft hätte sie damit gespielt, sagte sie; und nach dem Tod ihres Bruders holte sie es nun zum ersten Mal hervor, um es Anton zu zeigen. Anton könne ja auch Schreiner werden, meinte sie; aber Anton wollte nicht. Er war dabei, Buchstaben zu lernen und plante, sich irgendwann mit geheimen Zeichen zu beschäftigen. Er blickte auf den Grabstein. Noch war Anton der Sinn des Textes nicht ganz klar: „Johannes Bellmann, 1924 – 1942, gefallen in Afrika.“
„Gefallen?“, fragte Anton seine Mutter. „Ich bin auch schon gefallen und mein Name steht nicht auf dem Stein.“
„Er wollte nicht …, dein Onkel Johannes, …“, antwortete die Mutter und Anton spürte, dass es besser wäre, nicht weiter zu fragen, denn es bildeten sich Tränen in ihren Augen.
Inzwischen war es vor der Tür still geworden. Anton hörte seine Mutter nicht mehr und auch der Aufseher schien weg zu sein. Auf jeden Fall fühlte sich Anton verlassen. Er ging zur Tür, fühlte das Metall, so wie eine Gaswolke das tut, und stieß endlich auf Ritzen und das Schlüsselloch. Anton presste seinen Körper durch die Öffnungen, bis er einen Widerstand spürte. Sein Körper kam nicht weiter. Er hängte fest. Aber soweit es seine in der Gaswolke delokalisierten Augen zuließen, erkannte er, dass der Raum vor ihm leer war. Anton fasste Mut und zog weiter. Jetzt erst merkte er, dass sich ein Teil seines Körpers durch das Schlüsselloch gezwängt hatte, der andere daneben durch den Türspalt. Dahinter, in seinem Gefängnis, verband ein dünner, aber zäher Gasfaden die beiden Wolken, die sich ins Zimmer des Aufsehers tasteten. Der dehnbare Körper glich einem Hufeisen. Anton entschied schnell. Er zog einen Körperteil durch das Schlüsselloch zurück und entwich schließlich durch die Spalte in den Raum der Bewachung. Er fühlte sich frei und er war frei, denn er erkannte, dass er sich in seiner neuen Form durch jedes noch so kleine Loch bewegen konnte.
Anton ging in den nächsten Raum, in dem ein Mann in grauer Uniform und Brille an einem Schreibtisch saß. Der Mann begann, den Kopf zu bewegen und intensiv zu riechen.
„Scheiße“, flüsterte der Uniformierte. Er blickte in Antons Richtung, aber sagte nichts weiter. Seine Augen starrten an die Wand, sie sahen Anton nicht. Er konnte vielleicht eine Trübung erkennen und darüber staunen oder sich andere Gedanken machen. Anton näherte sich dem Mann. Dieser rümpfte die Nase, stand auf und hastete in den Flur. Der Mann blickte nach allen Seiten, denn offenbar wollte er weder gesehen noch gerochen werden. Möglicherweise dachte dieser Mann, dass er selbst der Verursacher des Gestankes wäre. Vielleicht dachte er an seine Arbeit. Anton konnte es nicht wissen, war aber erleichtert, dass man ihn nicht einmal als Lebenszeichen wahrnahm. Der Mann rieb inzwischen mit einem Tuch an seiner Brille und lahme Augen blickten so, als sähen sie nur eine Leere.
Anton flog durch den Flur und gelangte durch den unteren Spalt der Haustür ins Freie. Dem Wind konnte er keinen Widerstand leisten und so landete er in einem Holunderstrauch. Mit seinen im Wolkenkörper verteilten Muskelfasern konnte er die Äste umschlingen, so dass er verweilen und nachdenken konnte. Unweigerlich stieg leicht der Duft der Holunderblüten in ein paar seiner Geruchszellen im Inneren der Wolke. Zusammen mit dem Weiß der Blüten, das er wie sanften Schnee im ganzen Körper wahrnahm, und dem trockenen Boden, der Wärme hochstrahlte, musste er an Frau Holles Reich denken. Es wurde ihm bewusst, dass er nicht in der Hölle gelandet war. So machte er Pläne. Ein unabhängiges Leben im unendlichen Raum müsste ihm Freude bereiten.
Derartig im Holunder klebend, dachte Anton, dass er beweglicher werden müsse, denn sonst nützten ihm seine Gedanken an Onkel Johannes nichts. Er übte, seinen gasförmigen Körper vollkommen unter die Kontrolle seines Willens zu bringen. Besonders der Bauch fühlte sich geschmeidig an. Das war zwangsläufig, denn er bestand nur noch aus einer Art Rumpf. Er fühlte keinen Schmerz und kein Kribbeln. Sein Onkel Johannes ging ihm nicht aus dem Sinn, vor allem, weil Anton den Eindruck bekam, er besäße jetzt Onkel Johannes‘ Bauch, nur dass man ihn nicht mehr durch Schüsse verletzen könne. Anton lernte bis zum Abend mit Verrenkungen in alle Richtungen, sich zu bewegen. Er bildete Gasfüße, Lappen, flügelartige Ausstülpungen und Halbkugeln, bis er müde wurde und im Holunder einschlief.
Am nächsten Morgen, war sein Ziel, dorthin zu gehen, wo Onkel Johannes sein Ende gefunden hatte. Sicher hätte er ihm, dem Neffen, dem Experten für Geheimschriften, irgendeine Botschaft hinterlassen. So zog er als Wolke knapp über dem Boden nach Süden, in die Richtung, wo sein Onkel gefallen war. Was hätte er auch sonst tun sollen? Nach Hause getraute er sich nicht in seiner gegenwärtigen Form. Die Menschen rannten vor ihm weg. Anfangs war Anton noch etwas traurig darüber, doch bald war ihm das egal und er ging seinen einsamen Weg.
Er lernte, schneller zu fliegen und brachte es auf 80 Kilometer pro Stunde. Die Leute, denen er begegnete und die vor ihm flüchteten, konnten ihm gar nicht so schnell nachriechen, wie er verschwand. Klagen oder Schimpfen über Gestank hörte er immer weniger. Er nahm in seiner Wolke die hineinkommenden Bakterien der Luft als Nahrung zu sich und war froh, nicht mehr aufs Klo gehen zu müssen.
Hasen und Rehe rannten vor ihm davon, obwohl sie die Anton-Wolke eigentlich weder sehen noch hören sollten. Sie röchen ihn gegen den Wind, beobachtete Anton. Als er sich einem Dorf näherte, erschien ein Hund, schnüffelte ihn an und getraute sich schließlich in die Wolke. Anton gefiel, wie ihn das Fell berührte. Aber schon bald hatte sich der Hund sattgerochen und verschwand wieder.
Anton bewegte sich ins Dorf. Am Brunnen unterhielten sich zwei Frauen. Die eine trug ein dünnes Sommerkleid, die andere enge, kurze Hosen. Sie waren nicht älter als dreißig.
„Ich muss jetzt nach meinem Hund schauen“, sagte die eine im Kleid, deren braune Haare über die nackte Schulter hingen, und drehte den Kopf zu Anton. Nur kurz blickte Anton in ihre blauen Augen, die keine Spur von Abweisung zeigten, als plötzlich beide die Nasen rümpften und sich vorwurfsvoll anblickten. Dann gingen sie schweigend auseinander. Anton tat das leid. Wie gut hätte er als Wolke über ihre Körper streicheln können. Jetzt war er schuld, dass sie vor ihm und voreinander wegrannten, und umso klarer wurde es ihm, dass er dorthin musste, wo Onkel Johannes gekämpft hatte, hoffte, dort eine geheime Nachricht entschlüsseln zu können. In seinem jetzigen Zustand, könne ihn für solch eine Tat niemand mehr bestrafen.
Anton suchte nach Symbolen. Zeichen, die da sein müssten, denn deswegen hatte man ihn ja eingesperrt. Die Behörden hatten ihm vorgeworfen, er hätte eine gasförmige Geheimschrift entwickelt und wäre ein Spion. Davon hatte Anton nichts gewusst. Er hatte jedoch Figuren mit Strichen und Kurven auf Papier geschrieben, weil er das gerne tat. Danach hatte er diese Zeichen mit Hilfe eines Computerprograms nachgemalt und gespeichert, eben auch, weil er das tun wollte. Das hatte man ihm vorgeworfen. Die Codes waren von der Festplatte des Computers verschwunden und müssten daher irgendwo anders sein. Anton hätte gegen allgemeine Konventionen verstoßen. Als dann Anton erklärte, sein Ziel wäre es, eine Schrift mit Gasen zu entwickeln, hatte man ihn eingesperrt. Endlich hatte man feste Beweise gegen ihn gefunden. Geheimcodes mit Gasen! Er würde sich mit Unsichtbarem beschäftigen. Ja, es war das Unsichtbare, was den Beamten Angst einflößte, und Anton hatte das Gefühl, dass sie mit Luft hantierten.
Anton zog weiter nach Süden. Je wärmer es wurde, desto mehr blähte sich sein Gaskörper auseinander. Manchmal fühlte sich Anton wie in einem heißen Bad. Angenehm war es über das Mittelmeer zu gleiten. Nur gab es für seine Ernährung weniger Bakterien in der Meeresluft; dafür konnte er seinen Salzbedarf decken. Der Wind kam aus Westen und trieb ihn trotz seines Widerstandes nach Osten. Antons Körper zog sich zusammen, weil er fror. Über und neben ihm, stieg ein blau-weiß-gescheckter Vogel mit einem auffallend dicken Hals immer wieder zum Himmel hinauf, um dann fast senkrecht von oben in Antons Richtung zu stürzen, eine syrische Wammentaube, und Anton spürte die Nähe zum Ufer. Nach mehreren Stunden erreichte er einen Sandstrand, auf dem er sich ausruhte und nach allen Seiten in eine Leere blickte. Die Taube war verschwunden. Er bewegte sich über einer Sandwüste weiter, wobei sich sein Körper in der Hitze wieder aufblähte, bis er in eine Stadt kam und Menschen sah.
Anton näherte sich einer verschleierten Frau. Er dachte gleich an Onkel Johannes. Seine Großmutter hatte ihm nämlich erzählt, wie dieser den Schleier einer Frau gehoben habe, um endlich wieder in ein Frauengesicht zu sehen. Ein zurückgekehrter Kamerad hätte das erzählt und man konnte zu Hause den armen Johannes verstehen, der schon über ein Jahr unter Soldaten zugebracht hatte. So ein Tuch hochzuheben, wäre verständlich, hatte Antons Großvater gesagt. Nur in dem fremden Land hätte er das nicht tun dürfen und er wäre deswegen verprügelt worden. Anton war froh, dass man eine Gaswolke nicht verprügeln kann, doch die Frau lief bereits mit den Händen vor der Nase und geducktem Kopf davon.
Anton brach nach Osten auf. Er umging Dörfer und Städte und stieß auf ein Wüstengebirge, das er überflog. In einer Schlucht entdeckte er eine Ansammlung von Menschen. Anton wollte nicht zu ihnen hinunter, als er sah, dass einer eine Rede zu halten schien. Manche hoben mit Fäusten die Arme in die Höhe und schrien unverständliche Worte. Anton zog es weiter. An den Hängen der anderen Seite vernahm er Geräusche: Poltern, vielleicht Schüsse. Anton blickte nach beiden Seiten und erkannte auf der einen Seite Panzer, auf der anderen Soldaten mit Gewehren. Die Fronten näherten sich. Anton spürte, wie etwas durch in flog. „Der Bauchschuss“, dachte er, doch er spürte nichts.
Anton ging zwischen die Fronten. Die Soldaten hoben die Köpfe und schnüffelten.
„Giftgas!“, schrie einer und die Soldaten rannten in die andere Richtung. Anton näherte sich den Panzern, die bald stehen blieben. Mit aufgerissenen Augen spähten die aus den Panzern steigenden Soldaten in die Umgebung. Einer musste sich übergeben. Dann rannten sie davon. Anton Moser beendete einen Kampf.
Es waren reflektierende Sonnenstrahlen, die Anton zum Anhalten brachten. Er bewegte seine Sehzellen auf die Unterseite und starrte auf eine rundliche, hellgraue Erhebung im Sand. „Onkel Johannes“, dachte er und versuchte zu graben. Es gelang ihm jedoch nicht, eine gasförmige Hand in den Sand zu stecken. Der fanatische Drang, das Ding zu heben, und seine störrische Idee, in dieser Gegend neuartige Zeichen zu finden, müssen den Anstoß dazu gegeben haben, dass Anton plötzlich in seinem alten Körper dastand. In der Hand hielt er bereits einen menschlichen Schädel, aus dessen Innerem eine graugelbe Schlange mit zwei Hörnern auf dem Kopf vor ihn fiel. Sie grub sich sofort mit wuchtigen Wirbeln in den Sand und Anton las über ihr ein ‚g‘. Durch die Augenlöcher des Schädels bröselte Sand, der auf dem Boden die Symbole ‚ehe…‘ bildete. Zumindest stellte Anton sich das so vor. Weiter konnte er nicht lesen. Es knallte und gleich fühlte er einen wahnsinnigen Schmerz in seinem Bauch. Das letzte, was Anton sah, waren zwei Soldaten in der Ferne. Dann sank er in den Sand neben den Schädel. Anton war gefallen.