Der Bauantrag
„Das ist schön, dass Sie den Bauantrag persönlich vorbeigebracht haben, Herr Meier“, sagte Amtsrat Schröder und schob die Mappe mit den Unterlagen über den Schreibtisch zurück, nachdem er sie flüchtig durchgeblättert hatte. „Da spare ich das Porto für’s Zurückschicken.“
„Wieso zurückschicken?“, fragte Meier entgeistert. „Ist denn irgendetwas nicht in Ordnung damit?“
Amtsrat Schröder lehnte sich auf seinem Ledersessel zurück und lächelte. Der Haarkranz mit seinen zwei Wirbeln, die links und rechts nach oben standen, verlieh dem kleinen feisten Mann ein diabolisches Aussehen. „Der Bauantrag ist unvollständig“, sagte er kurz.
„Aber es sind doch alle Anlagen enthalten, die in der Erklärung zum Antrag gefordert sind. Ich hab es extra noch mal überprüft.“
„Das ist ja auch richtig“, beschwichtige Schröder. „Das Problem ist die Zeichnung. Eine Auflage für den Bau des Hauses lautet, dass pro angefangene Hundert Quadratmeter Grundstück ein halbstämmiger Baum zu pflanzen ist. Bei den 543 Quadratmetern, die ihr Grundstück bemisst, fehlen also sechs Bäume in der Grundskizze.“
„Das sind doch Kinkerlitzchen, was sie mir da erklären. Das hat doch mit dem Bau nichts zu tun“, rief Meier.
„Vorschrift ist Vorschrift. Vervollständigen Sie die Unterlagen. Dann können Sie wiederkommen.“
Schröder öffnete eine andere Mappe und gab so seinem Gegenüber zu verstehen, dass das Gespräch für ihn beendet war. Geknickt verließ Meier mit seinem Bauantrag den Raum.
Eine Woche später schickte Meier die korrigierten Bauunterlagen mit der Post wieder zum Bauordnungsamt. Er hatte durch seinen Architekten, der, nachdem Herr Meier ihm die kleine Episode auf dem Bauamt erzählt hatte, fassungslos den Kopf schüttelte, die Bäume in die Zeichnung nachtragen lassen. Nun wartete er auf Antwort.
Die kam überraschend bereits 14 Tage später, und zwar telefonisch. Meier saß in seiner Küche und trank gerade eine Tasse Kaffee, als das Telefon klingelte.
„Meier?“, meldete er sich.
„Amtsrat Schröder, Bauordnungsamt, Abteilung Antragsbewilligung“, kam es zurück. „Herr Meier, ich habe gerade ihren Bauantrag vor mir liegen. Da wären noch ein paar Kleinigkeiten zu regeln. Seien Sie doch so freundlich und schauen demnächst mal bei mir herein.“
„Aber sicher doch, Herr Schröder“, erwiderte Meier. „Passt es Ihnen morgen?“
„Morgen Vormittag, 11:00 Uhr, wäre recht“, antwortete Schröder.
„Also gut. Bis morgen um Elf“, sagte Meier und legte auf. „Was er jetzt schon wieder hat“, dachte er. „Kann ja eigentlich nichts schlimmes sein. Sind ja nur Kleinigkeiten, hat er gesagt.“
Am nächsten Vormittag saß Meier wieder vor dem Schreibtisch des Amtsrats und sah ihn erwartungsvoll an.
„Also, ich habe den Bauantrag durchgearbeitet“, begann Schröder. „So kann ich den Bau natürlich nicht genehmigen.“
„Warum nicht?“, fragte Meier, der sich etwas Ähnliches schon gedacht hatte.
„Bei der Nachrechnung der Wohnfläche fiel mir auf, dass das Obergeschoss um genau fünf Quadratzentimeter zu groß ist“, antwortete Schröder. „Dadurch ist die vorgeschriebene Anderthalbgeschossigkeit nicht mehr gegeben.“
„Fünf Quadratzentimeter? Das ist ja allerhand.“ Meier konnte sich das Lachen über soviel Beamtenstarrsinn kaum noch verkneifen.“
„Ich sehe, dass sie sich über mich lustig machen wollen, Herr Meier“, fuhr Schröder fort. „Aber wir haben hier in Niedersachsen eindeutige Vorschriften, die wir beachten wollen.“
„Sicher doch, Herr Schröder“, entgegnete Meier, „ich werde meinem Architekten sagen, dass er die eine Außenwand um einen halben Millimeter in der Zeichnung verstärken soll. Dann kommt es mit der Wohnfläche wieder hin.“
„Nun wenn Sie die Wand verstärken, stimmt aber die Statik nicht mehr, die im Übrigen sowieso einiges zu wünschen übrig lässt.“
„Was stimmt denn mit der Statik nicht?“
„Die Werte für die Dachlast sind nicht in Ordnung. Die sind nur für eine Schneedecke von 30 Zentimetern bei Windstärke zwölf berechnet.“
„Was heißt hier „nur“?“, fragte Meier entgeistert. „So eine Wetterlage haben wir hier noch nie gehabt. Ich finde diese Berechnung schon ein bisschen übertrieben.“
„Haben Sie mal an die Klimaverschiebung gedacht?“, fragte Schröder zurück. „Haben Sie noch nie davon gehört, dass Wissenschaftler eine Eiszeit innerhalb der nächsten 200 Jahre prognostizieren? Auf so etwas müssen wir vorbereitet sein.“
Amtsrat Schröder richtete sich auf und stützte die Arme auf die Kante seines Schreibtisches, wodurch er nicht gerade größer wurde. „Wer, glauben Sie, bekommt die Schuld, wenn ihr Dachstuhl zusammenbricht?“, fragte er laut. „Ihr Architekt? Von wegen. Der wird sich mit seinem Anwalt beraten und schön die Schuld auf mich schieben. Schließlich habe ich diesen desolaten Bau genehmigt.“
Inzwischen war der Kopf von Amtsrat Schröder rot angelaufen und schien sogar noch anzuschwellen, wodurch die zuvor schon erwähnte Ähnlichkeit mit einem Teufelchen noch deutlicher wurde. Die Spitzen der Haarwirbel vibrierten und auf seiner Stirn war eine pochende Ader angeschwollen. „Aber mit mir lasse ich so etwas nicht machen! MIT MIR NICHT!“, brüllte er dann und sank in seinen Stuhl.
„Sie wollen meinen Bau nicht genehmigen?“, fragte Meier eingeschüchtert.
„Nein!“, stieß Schröder hervor. „Ich sitze seit 20 Jahren in dieser Abteilung und habe noch nie einen Bau genehmigt. Warum, frage ich Sie, sollte ich jetzt ausgerechnet bei Ihnen damit anfangen? Das ist mir viel zu gefährlich. Ich habe schließlich nur noch zwei Jahre bis zu meiner Pensionierung. Und die möchte ich in Ruhe genießen können. Guten Tag.“
Wedemark, im März 2000