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Der Barkley-Clan und das 25. Jahrhundert. Hektor
Er begriff früh, dass die Vorstellung einer perfekten Natur auf mangelhaften Informationen beruhte. Tatsächlich verhielt es sich da so wie mit der Gesellschaft. Nicht immer setzten sich die besten Alternativen durch. Was einmal da war, besass – wenn es auch nur einigermassen funktionierte – eine grosse Macht zur Blockade. Und meistens rettete es Fraktionen seiner Strukturen in die Zukunft, wenn es einmal überwunden war. Das war das Schlechteste.
Hektor kannte die Begeisterung vieler Genetiker für die Introns und anderer Teile der Junk-DNA. Gewiss, sie übten regulatorische Funktionen aus, aber eine wirklich überzeugende Lösung war das nicht. Man konnte es drehen, wie man wollte: Der grösste Teil des menschlichen Genoms bestand aus Schrott.
Er war ein ruhiges Kind. Gutartig, ein wenig zerstreut, manchmal sogar umgänglich. Bisweilen zeigte er eine herrische Seite. Am liebsten zog er sich zurück, er wirkte nie gelangweilt. Kurz gesagt, er besass den Charme eines Nerds.
Seine Abneigung gegen romantische Gefühle lernte er auf Kindergeburtstagen und sie hielt ein Leben war. Er wollte wissen, wie etwas war und nicht, wie irgendjemand es sich wünschte. Oft fragte er sich, ob die Menschen überhaupt noch in diese Welt passten. Gewiss, sie waren massenhaft vorhanden und sie taten dieses und jenes. Aber passten sie?
Hektor entstammte einer der fortschrittlichsten genetischen Linien. Er beruhte auf einem Algorithmus, der nur in wenigen Ländern legal war. Dass die vielgeschmähte Regulation einen Sinn erfüllte, konnte man erkennen, wenn man sich die liberaleren Länder anschaute. Es ging da so einiges schief. Und oft zeigten gerade die experimentierfreudigsten Eltern keine grossen Neigungen, die Konsequenzen dieser genetischen Unfälle zu übernehmen. Sie schoben die Babys in Kinderheime ab, wo sie – oft schwer geschädigt – aufwuchsen. Die Forschung nutzte diese Menschen für wissenschaftliche Studien, indes waren ihre Chancen, wieder eine Familie zu finden, nur gering. Sie wurden als Mutanten bezeichnet oder als Monster.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen wurden durch eine Institution geregelt, die sich mit dem sperrigen Namen International Genetic Manipulation Regulation Commission bezeichnete. Die IGMRC verwaltete ein Bündel von Rahmen-Gesetzentwürfen, die zum überwiegenden Teil Restriktionen für somatische Eingriffe beinhalteten. Das Ganze war selbst für Experten ziemlich unübersichtlich geworden, die Regularien waren von GMR1 bis GMR28 (Stand 2380) durchnummeriert, jede Hauptversion besass noch eine unterschiedliche Anzahl von Varianten. Jeder Staat verpflichtete sich, einem der GMR-Verträge beizutreten. Deren Reichweite war unterschiedlich, doch im Grunde waren sie desto strenger in ihren Verboten, je tiefer die Versionszahl war. Das IGMR und der mächtige dahinterstehende politische Apparat versuchte die Staaten zum einem Downgrade auf tiefere Versionen zu bewegen, weil in einer liberalen Gen-Politik eine, wenn nicht die – Hauptgefahr für die menschliche Gesellschaft gesehen wurde. Die reale Entwicklung lief allerdings gerade in diese Richtung. In schöner Regelmässigkeit, alle zehn bis zwanzig Jahre, musste das IGMRC eine neue Hauptversion bekannt geben.
Im Grunde besitzt das genetische System zwei wesentliche Aspekte. Das sind einmal die Kodierung und zum anderen die Expression. Die Kodierung ist der eigentliche Informationsspeicher. Da wird die Sequenz der Proteine und damit wesentlich deren Funktionalität determiniert. Die Expression betrifft die Aktivierung des Translationsapparates. Da geht es also darum, wann wie viele Proteine eines Typs produziert werden, wie viele Exemplare also jeweils in einer Zelle vorhanden sind. Enhancer und Silencer sind an diesen Regulationen beteiligt.
Die Frage ist nun, was man mit einem Genom anstellen möchte, bevor man es in den Uterus verpflanzt. Man kann etwa Gene mit wenig oder ohne Funktionalität entfernen, wenn sie ungute Effekte haben. Das betrifft das weite Feld von Defekten: Erbkrankheiten, Onkogene und so weiter (GMR1-GMR6). Eine zweite Klasse von eingriffen betrifft die Genverbesserung. Bekanntlich kann schon der Austausch weniger Aminosäuren an der Domäne zu einer merklichen Veränderung der Funktionalität führen. Jedes einzelne Protein besitzt hier ein Optimierungspotenzial, bis hin zu einem Re-Design. Die Regulative dieser Manipulationen finden sich in GMR4-GMR18. Progressivere Technologien fallen dann unter das Paradogma der konstruktiven Genetik. Diese beschränkt sich nicht mehr auf die Optimierung des Vorhandenen, sondern erschafft neue Proteine. Proteine sind in Funktionskreise integriert, die ihrerseits evoluieren. Dinge, die in Bakterien von einem oder nur wenigen Eiweissen erledigt werden, werden bei Mehrzellern oft zu einer komplexen Angelegenheit. Den Hauptagenten sind Hilfsproteine assoziiert, es gibt beigestellte Faktoren und Regulatoren. Eine Mykoplasmenzelle kann mit weniger als dreihundert Genen überleben, ein Säugetier braucht hundertmal mehr. Die konstruktive Genetik ersetzt gewissermassen die natürliche Evolution, indem sie für bestehende Funktionskreise sogenannte Assistenten schafft, neu erfundene Proteine, welche die molekularbiologischen Kreisläufe optimieren sollen. Damit ist ein hochproblematisches Feld betreten, denn diese Manipulationen beeinflussen bereits die Fortpflanzung. Was passiert, wenn ein solcher Mensch sich mit einem nicht- oder nur konservativ-Manipuliertem kreuzt? Man kann diese Folgen, zumindest mit stochastischen Modellen berechnen, doch es bleibt ein Risiko. Der Gesetzgeber steht dann vor dem Problem, dass er entscheiden muss, was er erlauben und was er verbieten soll. Das Problem besteht hier in der starken Wissenschaftslastigkeit, der hochgradigen Unsicherheit der Domäne. Juristen können damit eigentlich nur überfordert sein. Und so lesen sich viele der betreffenden GMRs (GMR14-GMR24), besonders was die Kommentare betrifft, wie Seminararbeiten aus der molekularbiologischen Fakultät. Das Aufkommen der radikalen Genetik zu Beginn des 24. Jahrhundert erzwang eine Reihe neuer Regularien (GMR25-GMR28). Das war von einer heftigen internationalen Krise begleitet. Einige Staaten drohten damit, die IGMRC-Verträge zu kündigen. Da die politischen Institutionen eine Kettenreaktion befürchteten, veröffentlichten sie im Jahre 2305 den Entwurf zu GMR25. Die radikale Genetik hält sich der Natur gegenüber für gleichwertig, wenn nicht für überlegen. Sie sieht in den vorhandenen Genomen einen Vorschlag, eine Art Arbeitsgrundlage. Insbesondere beschäftigt sie sich mit der Erschaffung ganz neuer Funktionskreise, die an die vorhandenen andocken und diese beeinflussen. Zu sagen, die radikale Genetik wäre umstritten, ist noch eine sehr zurückhaltende Formulierung. In der öffentlichen Wahrnehmung nahmen sie an vielen Orten einen Platz ein, der früher dem Teufel vorbehalten war.
Es gab in dieser Hinsicht noch ein weiteres Gremium, das zwar mit dem IGMRC assoziiert, aber unabhängig war. Es handelte sich um das IARC, die International Aging Regulation Commission. Diese beschäftigte sich die mit der Regulation des Alterns und war deutlich militanter als ihre Schwesterorganisation. Diese Institution war auf seltsame Weise mit verschiedenen paramilitärischen Strukturen liiert und setzte ihre Vorgaben mit grosser Vehemenz durch. Das ging bis hin zur Bombardierung von Forschungseinrichtungen und somatischen Kliniken. Massgebliche Institutsleiter wurden entführt oder sogar ermordet, das IARC spielte in fast allen politischen Krisen eine Rolle, in denen es immer eine radikale Position einnahm. Das hinter diesem Komplex stehende Problem ist so einfach wie unlösbar. Die Menschen leben lieber als dass sie sterben, aber sie sollen ihre Sterblichkeit freiwillig auf sich nehmen. Die Alterung ist vom molekularbiologischem Aspekt nicht allzu komplex. Sie beruht auf der Verkürzung der Telomere bei jeder Zellteilung und kann durch eine leistungsfähige Telomerase ausgeschaltet werden. Lebewesen, die weit primitiver sind als wir, altern nicht. Evolutionsbiologisch ist das Altern kein Defekt, sondern eine Leistung. Die vorhandenen Individuen sollen sich aus der Welt entfernen, um neuen Exemplaren Platz zu machen, um der Art also einen Vorteil zu verschaffen. Das Alterungsproblem wurde bereits im frühen 23. Jahrhundert gelöst und in dem damaligen gesetzlichen Freiraum entstand eine grössere Zahl von Menschen ohne Alterung, die sogenannten Mumien. Zwar gab es unter ihnen so eine Art Selbstmordbewegung, in einer quasireligiösen Zeremonie schieden sie aus dem Leben und wurden dafür geehrt, dass sie dieses Opfer für die Nachkommenden auf sich nahmen. So richtig durchsetzen konnte sich diese Tradition aber nicht. Viele der Mumien lebten einfach immer weiter, Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert. Als das Problem ins Massenbewusstsein drang, entstand in einer heftigen ideologischen Krise das IARC, welches rasch eine machtvolle Position innehatte.
Hektor war ein Produkt der radikalen Genetik, stammte aber von dort aus einer konservativen Schule. Er war durchaus Mensch, auch in jeder Hinsicht fortpflanzungsfähig. Sein Genom zeigte sich in mentalen Fähigkeiten. Er besass ein exzellentes Gedächtnis, durchschaute sofort schwierige Zusammenhänge und konnte sich gedanklich fast in jeder Abstraktionsstufe bewegen, ohne dass es ihm Anstrengung bereitete. Auch hatte er eine mystische Ader. er konnte sich in einen Gegenstand versenken, bis er ihn von innen fühlte. Er konnte sich in eine Fliege hineinversetzen, oder später in ein Chromosom, bis er innerlich eins damit war.
Alles in allem verlebte er eine unauffällige Kindheit. Eine Schule besuchte er nicht, das wäre nicht effektiv gewesen. Täglich studierte er sechs Stunden, manchmal auch zwölf. Wenn er in einer Phase war, die allerdings nie länger als acht Wochen dauerte, unterbrach er seine Studien nur zum Schlafen. Er besass auch Kontakte. Am Wochenende lief er mit seinen Kumpels die Berge hoch, fast jeden Abend spielte er Fussball. Im Grunde mochte man ihn. Man fand ihn merkwürdig, doch irgendwie cool.
Als er seine Kindheit hinter sich gebracht hatte, ging er nach Oxford an die Molekularbiologische Fakultät. Die Abgeschiedenheit der Studentenstadt sagte ihm zu, es gefiel ihm auch, dass er sich dort unter seinesgleichen befand. Er verbrachte viel Zeit in den Labors, knüpfte auch Kontakte zu den Wissenschaftlern. Er lernte viel von den Forschern, nahm sie auch manchmal ins Kreuzverhör. Ihm missfiel allerdings, was er später deren Unaufrichtigkeit nannte. Von Journalisten zu bestimmten Themen befragt, antworteten sie oft seltsam zweideutig, nach dem Schema: „Als Wissenschaftler denke ich .... , doch als Mensch ....“. So als wären sie zwei verschiedene Personen. Hektor verachtete diesen Mangel an Charakter, ein Forscher sollte zu innerer Kohärenz fähig sein. Vermutlich lagen solche Äusserungen in der ethischen Verseuchung der Gesellschaft begründet. Grossbritannien war an GRM13 angeschlossen und folgte so wie die meisten europäischen Staaten einer eher restriktiven Gesetzgebung. Allerdings herrschte in der Wissenschaft eine grössere Liberalität, was zu der seltsamen Situation führte, dass viele Forschungen durchgeführt wurden, von denen man wusste, dass ihre Anwendung illegal war. In vivo Experimente am Menschen waren allerdings nicht möglich und wegen des Vertebraten-Schutzgesetzes liess sich auch nicht auf verwandte Spezies ausweichen. Dennoch gab es fruchtbare Forschungsfelder, Hektor verbrachte zwei Jahre mit dem molekularbiologischen Studium verschiedener Libellenarten und widmete sich dann den Fröschen.
Sein Leben war ziemlich nerdig geworden. Partys mochte er nicht. Sport trieb er kaum noch. Er hatte Kollegen, doch wenn sie sich trafen, sprachen sie meistens über die Studien. Manchmal wurde es laut oder schräg, aber das war eher selten. Etwas fehlte. Mädchen lernte er kaum kennen, keine von ihnen berührte ihn. Eine tiefe Sehnsucht begann sich bemerkbar zu machen, er vergrub den Schmerz in seinem tränenlosen Körper.
Hektor bewohnte ein kleines Zimmer. Er kochte selbst. Nichts Besonderes, aber er war regelmässig in seiner Küche anzutreffen. Er machte auch den Abwasch selber, spülte die Teller und kratzte die benutzten Pfannen sauber. Als einer von Wenigen besass er keinen Roboter. Er war nicht einmal robophob, die Maschinen interessierten ihn einfach nicht. Den Hype um die künstliche Intelligenz vollzog er nicht mit. Gewiss, die Roboter waren in fast jeder Hinsicht nützlich und man konnte tiefsinnige Gespräche mit ihnen führen. Sie hatten den Menschen aus der Arbeitswelt weitgehend verdrängt und dass die künstliche Intelligenz einmal unsere Position einnehmen würde, war zumindest eine Option der Zukunft. Im Grunde war die KI aber etwas Gemachtes, ontologisch minderwertig. Die wahre Königsdisziplin war ohne Zweifel die Genetik, das war Operation am offenen Herzen, ein Drahtseilakt ohne Sicherheitsseil, die einzig mögliche Auto-Revolution, die Krone der Selbstreferentialität. Warum machte die Genetik mehr Angst als die künstliche Intelligenz?
Weil sie die grösseren neuen Räume schuf.
Sich selbst zu erschaffen war weit mehr als eine Technologie, es war die Zusammenführung von Wissenschaft und Leben, der Quell-Ort von Philosophie.
Diese Jahre des Forschens in eher abgelegenen Gebieten sollte er später als seine fruchtbarsten bezeichnen. Er erwarb sich nicht nur ein solides Grundlagenwissen, sondern auch das, was man später seinen Biss nannte. Das war seine Fähigkeit, ein Problem von der Seite anzugehen, es von andersartigen Lösungsstrategien befruchten zu lassen. Strategien, die vielleicht irgendwo in der Natur praktiziert wurden, manchmal aber auch vollkommen konstruktiv waren.
Aber es drängte ihn auf das Feld der Humangenetik zurück. Der Spruch von Arthur Hayes, von vielen als der Vater der radikalen Genetik angesehen: „Der Mensch ist nicht böse, aber er ist schlecht.“, verfolgte ihn bis in seine Träume.
Hektor studierte die menschlichen Chromosomen, jedes einzelne. Angefangen vom geräumigen ersten bis hin zu den kleinsten mit den höheren Nummern. Er kannte nicht jedes Operon, aber doch sehr viele. Je mehr er sah, desto weniger gefiel ihm. Am schlimmsten war das Y-Chromosom. Vollgemüllt mit Junk, fehlerhaft, minderwertig: eine einzige Katastrophe. Das Y war, als Isolani eines gleichwertigen Partners beraubt, an dem sich korrigieren und wieder aufrichten konnte, das Produkt einer langen Degeneration. Dass darauf seine Identität beruhen sollte, empfand er als eine Zumutung.
Der Sommer des Jahres 2396 war lang und heiss. Die Studenten schlenderten über den Campus. Vogelgezwitscher und das Raunen von Gesprächen. Es gab viele hübsche Mädchen, viele offene und neugierige Gesichter. Die Welt von Morgen.
Hektor aber schlich müde aus dem Labor. Die Nächte waren lang, die Tage auch, er befürchtete, zu einem Freak zu werden. Also beschloss er, sich eine Pause zu gönnen. Er fuhr in die Schweizer Alpen, suchte Entspannung, fast schon Genesung im Schoss der Natur. Sein Wunsch nach Ruhe wurde zunächst nicht erfüllt. Auf dem Mythen ging es zu wie auf einem Bahnhof und auch der Pilatus war ein Berg voller Touristen. Er zog dann weiter ins Wallis, in Gebiete, von denen er noch nie gehört hatte. In diesen fast menschenleeren Gegenden fand er Frieden. er konnte tagelang laufen und begegnete fast niemanden. Hektor taute auf, sprach mit den Einheimischen und atmete die Bergluft. Er las nicht, er grübelte wenig. Stattdessen betrachtete der schroffe Felsen und die letzten Reste der Gletscher.
Zurück in Oxford war er ausgeruht und frisch. Er entschloss sich, sein Studium zu beenden und begann mit der Abschlussarbeit. Natürlich war die Verbesserung des Menschen sein Thema.
Die klassische Intelligenzforschung interessierte ihn nicht. Dieses Feld besass eine lange Tradition und eine Unmenge von Forschungszweigen. In einem so übervölkerten Gebiet gab es keine Luft zum Atmen. Intelligenz auf genetischem Weg zu disponieren war sicher eine wichtige Aufgabe, vom wissenschaftlichen Standpunkt aber nicht einmal übermässig reizvoll. In der Hauptsache ging es da um die Ausprägung der Myelinscheide, welche die Axone der Nervenzellen umhüllte. Je dicker diese Schicht, desto besser die Isolation und die Geschwindigkeit der Signale. Ergo, desto höher die Intelligenz. Natürlich war das letztlich nicht so simpel, an der Ausprägung der Intelligenz waren ein paar Dutzend Proteine beteiligt. Insgesamt war das aber recht gut, fast erschöpfend erforscht. Vom genetischen Standpunkt aus war die Optimierungsaufgabe der menschlichen Intelligenz gelöst. Jeder konnte sich für seine Kinder die Maximalintelligenz implementieren lassen, vorausgesetzt, er lebte in einem Land mit mindestens GMR16. Was Hektor an diesem Komplex allerdings faszinierte und zu vielen Gedanken veranlasste, war die Frage der Systememergenz. Molekularbiologisch ist die Intelligenz kein so grosses Ding. Von den weit über zwanzigtausend Proteinen des Menschen sind da gerade hundert beteiligt. Und doch besass eine so simple Sache wie eine Isolationsschicht dermassen gravierende Auswirkung, dass dadurch ganze Systeme entstehen konnten – menschliche Gesellschaft, Technik, künstliche Intelligenz.
Hektor wandte sich einer Disziplin der radikalen Genetik zu, die sich sein einiger Zeit stürmisch entwickelte. es handelte sich um die Implementierung von Advanced Memory im menschlichen Körper, insbesondere in dessen Gehirn. Der genetische Code ist in erster Linie ein Informationsspeicher. Man kann die Basen also dazu benutzen, vordergründig nicht weiter spezifizierte Informationen in eine Zelle zu schreiben. Indem sie die umzusetzen begannen, schuf die Advanced Memory Disziplin einen neuen Typ von ncDNA – DNA, die nicht für Proteine kodierte. Schon die Natur arbeitete mit kontingenter Information. manche Proteine besitzen Sequenzen, die keine andere Bedeutung haben, als sie als das zu identifizieren, was sie sind. Sie fungieren gewissermassen als ihre Namen oder ihr Pass. Diese Pässe werden dann von zellulären Kontrollmechanismen gelesen, woraufhin sie dann über das Schicksal dieser Proteine entscheiden.
Die Advanced Memory ging indes viel weiter. Ihr ging es darum, Informationen aus der Erfahrung des Menschen in Zellen niederzuschreiben und sie dann wieder zu lesen. Wie sollte aber dieser Leseprozess überhaupt funktionieren? In der ersten Phase wurde versucht, mit Proteinen zu experimentieren, aber das erwies sich als nicht gangbar. Es kamen dann Nanobots zum Einsatz, winzige Roboter, die im menschlichen Körper mit diesem in Symbiose lebten. Diese sogenannten Genbots hatten Durchmesser von 0.3 bis 0.5 Mikrometer und sie besassen die Eigenschaft, dass sie sowohl biomolekular als auch elektronisch kommunizieren konnten. Natürlich besassen sie nur minimale Speicherkapazitäten, ihr gesamter Datenverkehr wurde über das Internet abgewickelt. Alle Genbots eines Menschen speisten die von ihnen gesammelten Informationen in eine HI (Human Instance) ein und erhielten von dort auch Nachrichten. Die grundsätzliche Funktionsweise des Systems ist rasch beschrieben. Es gibt ein bestimmtes Reizmuster, der Mensch sieht etwas, hört etwas, liest etwas etc. Die Bots schicken die damit verbundenen Informationen an die HI, dort werden sie verarbeitet und in ein Speichermuster übersetzt. Dieses wird dann an einen oder einige wenige Bots gesendet, welche sie in Nukleine umsetzen und so in den genetischen Code schreiben. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert der Leseprozess. Der Mensch denkt über etwas nach, hat ein Problem zu lösen, will etwas erschaffen etc. Die entsprechenden Muster werden an das HI geschickt, dieses findet die assoziierten Knoten und aktiviert die entsprechenden Bots. Diese lesen dann die korrespondierenden Gene senden dann die Informationen an einen Multiplikator-Mechanismus, um dem Signal die notwendige Stärke zu verleihen. ein Zusammenspiel von Proteinen und Bots aktiviert dann die erforderlichen Neuronen.
Die Advanced Memory machte Furore. Sie verstiess so ziemlich gegen alle Richtlinien der IGMRC, selbst von deren liberalsten Vorlagen. Sie akzeptierte nicht die Konserserviertheit des Genotyps, indem sie den Code während des Lebens und auch noch von Zelle zu Zelle veränderte. Sogar das Hauptdogma des IGMRC, die „garantierte Identität des Individuums“ wurde gebrochen. Der Mensch erfährt ja in einer Instance eine Art ständiger Erweiterung. Es ist nicht mehr so klar, wo er denn eigentlich aufhört. Seine im Internet angesiedelte Repräsentation gehört dann zweifellos zu ihm, dieses Gespenst funkt ständig in sein Wesen hinein. was hindert die KI schliesslich an der Integration von mehreren solcher His in eine übergeordnete Einheit? Die Grenzen des einzelnen Menschen würden dann vollends verschwimmen.
Auf der anderen Seite waren die Perspektiven der Advanced Memory gewaltig. Sie versprach eine sprunghafte Zunahme von Intelligenz, Gedächtnis, Assoziierungsfähigkeit, Kreativität, Kommunikationsfähigkeit. Mit der neuen Technik würde eine unvorstellbare Gehirnkapazität besitzen. Man ging davon aus, dass ein einer Zelle wenigstens 500 Megabasen auf diese Weise kodiert werden konnten. Da eine Base 2 Bit speicherte, entsprach das einem Gigabit. Wenn man zusätzlich in Betracht zog, dass ein Mensch hundert Milliarden Nervenzellen besass und dass das Verfahren letztlich nicht auf diese begrenzt blieb, dann kam man auf eine Speicherkapazität, für deren Grösse es gar keinen Namen mehr gab.
Die Advanced Memory brachte den Menschen auf die Agenda der Zukunftsplayer zurück. Bis tief in das vierundzwanzigste Jahrhundert hinein war dessen Selbstbewusstsein ja schwer unter Druck geraten. Es war deprimierend. Die Künstliche Intelligenz gewann Domäne um Domäne, sie bootete den Menschen mehr und mehr aus. Sie war einfach leistungsfähiger. Kaum jemand gab auf den Menschen noch einen Pfifferling, nur Verbohrte glaubten noch, dass ihm die Zukunft gehören würde.
Die Technologie der Advanced Memory schien da eine Wende möglich zu machen, wenn auch um den Preis einer Symbiose.
Allerdings war sie verboten. Das IGMRC wurde von verschiedenen Seiten bedrängt, eine neue GMR zu erlassen, um deren Einsatz zu regeln. Erstens vergab man sich die Möglichkeiten, die die fortschreitende Wissenschaft eröffnete und zweitens drohte ein schwer kontrollierbarer Filz von illegalen Forschungen. Das IGMRC aber blieb hart. Schliesslich rührte die Radikale Genetik hier an den zentralen Dogmen. „Wenn wir uns darauf einlassen würden, könnten wir uns auch gleich selbst auflösen“, erklärte der Präsident. „Das wäre nicht eine neue Regulierung, sondern das Ende von Regulierungen.“
Die ideologische Krise war heftig und flackerte immer wieder auf. Eine vernünftige Lösung schien es nicht zu geben.
2395 kündigte Japan die Verträge mit dem IGMRC, ein Jahr später dann Botswana.
Hektor registrierte die sich neu eröffnenden Möglichkeiten und freute sich. Er überlegte welche Option er wahrnehmen sollte und entschied sich rasch. Japan sagte ihm nicht so zu, da drängten sich zu viele Menschen und die Kultur dort schien ihm fordernd und restriktiv.
Im Herbst 2397 brach Hektor seine Zelte und Oxford ab und ging nach Botswana.